BB Nachrichten
Ein Nachruf von Prof. Dr. Raimund Krämer
(langjähriges Mitglied des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. )
Er war oft zu Gast in unserer Stiftung, bei abendlichen Vorträgen, zu Konferenzen oder nur einfach zu einem Kaffee im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg in der Potsdamer Dortusstraße – meist mit seiner Frau Inge. Aber war er denn Gast? Er war doch fast von Anfang an dabei. Es war gewissermaßen „seine“ Stiftung, die er mit Rat und Tat nach vorn, auf die Höhe der politischen Anforderungen zu bringen versuchte – und dabei auch viel erreichte. Mit Dr. Detlef Nakath, dem langjährigen Geschäftsführer der Stiftung, entwickelten sie die Konferenzreihe zur Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen. Aus ihr wurde dann in Zusammenarbeit mit WeltTrends der Potsdamer Außenpolitische Dialog, der nach wie vor jährlich mit internationaler Beteiligung stattfindet. Willi, wie er von Freunden genannt wurde, war stets dabei, strategisch denkend, klar analysierend und pointiert fragend.
Wilhelm Ersil, geboren 1928, gehörte zu jener „Aufbau“-Generation, die nach den Schrecken des 2. Weltkrieges, der bei ihm auch zum Verlust der Heimat führte, ein neues, ein antifaschistisches Deutschland wollte und sich dafür auch mit der ganzen Person im Osten einsetzte. Neue Lehrer brauchte die junge Republik. Wilhelm Ersil wurde einer. Selbst erst Mitte 20, lehrte er Gleichaltrige. Lag das Interesse zunächst in der jüngeren deutschen Geschichte, so wurde in den 1960er Jahren die Außenpolitik des anderen deutschen Staates zum neuen Gegenstand, zu dem Willi Ersil forschte und über den er lehrte. Es war dann logisch, dass Westeuropa und die Prozesse der Integration in den Mittelpunkt seiner Arbeit am mittlerweile gegründeten Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg rückten. Fast sechs Jahrzehnte forschte, lehrte und publizierte Wilhelm Ersil zu diesem Thema. Die Zahl seiner Publikationen ist enorm. Es ging um zentrifugale und zentripetale Kräfte, Kerneuropa und Peripherie, Militarisierung, konzentrische Kreise, Westeuropa in der Entspannungsphase und bei der erneuten Verschärfung des Kalten Krieges und immer wieder ging es um die Rolle Deutschlands, zunächst die des westlichen, kapitalistischen Teils, dann die des vereinigten Deutschlands in Europa.
Als Lehrer war Willi Ersil zwar ein fordernder, aber zugleich einer, der Studierende durch sein umfangreiches Wissen und die präzise Art seines Denkens enorm bereicherte. Ihm ging unter den Studenten ein gewisser Ruf voraus, der zu einem gründlicheren Vorbereiten führte. Eine unpräzise, eher lockere Bemerkung konnte zu einer scharfen Gegenfrage führen, die zwar die Erkenntnis förderte, aber in dem Moment eher die Schamröte provozierte. Willi Ersil stand für die präzise Analyse – nicht jenseits von Parteibeschlüssen, jedoch ließ er sich von diesen nicht in seinem Denken einschränken oder gar fesseln.
Als im Jahre 1989 für viele das weltanschauliche Gerüst zusammenbrach, blieb das von Willi Ersil stabil. Sicherlich rüttelte der Zeitgeist auch an den Fundamenten seines Analyserasters, aber das Gerüst blieb erhalten. Er verstand sich als Marxist und suchte den Anschluss an die marxistische Szene im vereinten Deutschland. Parteipolitisch mischte er sich bald mit fundierten Beiträgen in die Europadebatten der Linken in den frühen 1990er Jahren ein, damals noch mit seinem Kollegen und Freund Jochen Dankert. In der Arbeitsgruppe „Europäische Union“ der neugegründeten PDS arbeitete Willi von Anfang mit, ja, nach den Worten des langjährigen Europa-Abgeordneten Helmut Scholz gestaltete Willi Ersil diese „Denkfabrik“ für den Vorstand der Partei maßgeblich. Er war ein geschätzter Partner für Abgeordnete in der Bundestagsfraktion der Partei, auch wenn die Politik dann akademische Ratschläge nicht immer umsetzte, aber das kannte er von früher. Er blieb der Partei treu, auch wenn er deren Defizite in außenpolitischen Fragen im Gespräch sah und benannte.
Zu seinem 90. Geburtstag organisierten das neu gegründete WeltTrends-Institut für Internationale Politik und die RLS Brandenburg 2018 mit ehemaligen Kollegen und heutigen Freunden eine Festveranstaltung. WeltTrends ehrte Willi Ersil mit der Ernennung zum Honorary Research Fellow und einer Festschrift unter dem Titel „Nachdenken über Europa“. Diese Festschrift bietet auch heutigen Lesern einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Œuvre von Professor Wilhelm Ersil. Sie zeigt sowohl die roten Fäden in seinem Denken über Europa als auch die steten Veränderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen ergeben. Konstante seiner Schriften und seiner Vorträge war, dass er der deutschen und europäischen Linken mit seiner marxistischen Analyse der europäischen Integrationsprozesse Orientierung geben wollte. Dabei war ihm die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ein stabiler Partner, und er war ein produktiver Mitstreiter der Stiftung.
Vor einigen Wochen besuchte er noch das Sommerfest der Stiftung und diskutierte in vielen Gesprächen die Chancen für einen Frieden in der Ukraine und die Perspektiven der deutschen Linken. Beides trieb den 96-jährigen heftig um.
Am 1. August 2024 starb Prof. Dr. Wilhelm Ersil.
- Raimund Krämer (Hrsg.):
Nachdenken über Europa
Festschrift zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil
WeltTrends, Potsdam 2018
ISBN 978-3-945878-93-4
231 Seiten
«Demokrat*innen fallen nicht vom Himmel!»
Demokratiebildung als Aufgabe von Schule und Lehrer*innenbildung – Bildungspolitischer Dialog 2019
10. Dezember 2019, 16.30 bis 19.30 Uhr
Universität Potsdam, Standort Neues Palais, Haus 9, Raum 1.14
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
Eine Kooperationsveranstaltung von
- Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung der Universität Potsdam
- Gesprächskreis Bildungspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V.
- Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.
Zu Rosa Luxemburgs Geburtstag empfehlen wir zwei Texte, die sich mit der Frage von Krieg und Frieden in den Schriften von Rosa Luxemburg auseinandersetzen:
- "Nach Beendigung der Militäroperation"
Rosa Luxemburg zum Russisch-Japanischen Krieg vor 120 Jahren
von Dr. Holger Politt
erschienen in "nd Der Tag" am 5. März 2024, S. 13
zum Text ... - Rosa Luxemburg: der Krieg ist das Problem, nicht Sieg oder Niederlage
von Dr. Lutz Brangsch
veröffentlicht auf dem Blog des IfG der RLS am 6. März 2023
zum Text ...
Im März 2023 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ihren Förderpreis an Malika Guellil verliehen - für ihre 2021 im Masterstudiengang Politikwissenschaften der Universität Wien vorgelegte Masterarbeit „Held*innen auf die Barrikaden! – Care-Proteste als Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Transformationsstrategie“.
Das Kuratorium der RLS Brandenburg hatte die Arbeit bei der Preisverleihung gewürdigt als aktuellen und originellen Beitrag zur Debatte, "ob es so etwas wie einen Hauptwiderspruch im Kapitalismus gibt, dem sich alle anderen Widersprüche unterzuordnen hätten. Damit verbunden ist auch die Frage, ob die Überwindung oder auch die grundlegende Transformation des Kapitalismus durch Klassenkampf einer definierten revolutionären Klasse oder durch viele, auch dezentrale und ihre Differenz verteidigende, Bewegungen erreicht werden kann." Zudem hob es die gelungene Verschränkung von theoretischen Überlegungen, praktischen Erfahrungen und konkreten Handlungsideen hervor, die ein wichtiger Beitrag sei "zur Ausrichtung der gesellschaftlichen Linken als Alternative zur (gegenwärtigen) Krise der diversen Erscheinungsformen kapitalistischer Verfasstheit im Globalen wie im Nationalstaatlichen bzw. [ein] Beitrag zu den Fragen, wie sozialistische Politik im Rahmen des demokratischen Kapitalismus möglich ist oder welche Gefahren selbst dieser mit großen Mängeln behafteten Demokratie drohen und die institutionalisierte wie die aktionsorientierte Linke darauf reagieren sollte." (Zur ausführlichen Begründung und Laudatio ...)
Nun ist die prämierte Arbeit als Buch beim Verlag VSA: Hamburg erschienen, worüber wir uns sehr freuen!
Kochen, putzen, erziehen, pflegen – ist das Arbeit? Nein, sagen die Ideolog*innen des Neoliberalismus. Care-Arbeit wird weder (gut) bezahlt noch gewürdigt. Corona-Pandemie und Pflegenotstand zeigen aber: Profit pflegt keine Menschen! Nur eine solidarische und gemeinwohlorientierte Transformation kann Mensch und Wohlfahrtsstaat revitalisieren und der neoliberalen Hegemonie entgegenwirken.
Trotz der unübertroffenen Systemrelevanz wird Care-Arbeit noch immer weder (gut) bezahlt noch gewürdigt. Was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, wird in der neoliberalen Hegemonie abgewertet. Der anhaltende Pflegenotstand und die Corona-Pandemie haben dieses Selbstverständnis jedoch eingerissen.
Care-Leistende sind sich einig: Profit pflegt keine Menschen! Es braucht eine auf Solidarität und Gemeinwohl gerichtete Gegenhegemonie, um neoliberaler Krisenpolitik und Ausbeutung den Riegel vorzuschieben. Malika Guellil diskutiert in ihrem Buch das Potenzial, das von Care-Protesten für eine Transformationsstrategie ausgeht, die die neoliberal-kapitalistischen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse umzukehren versucht. Sie will dabei das Bewusstsein über menschliche Interdependenzen und daraus resultierende Forderungen nach Inklusion schaffen, Geschlechterverhältnisse verstärkt in den Mittelpunkt rücken sowie die Hegemonie des Neoliberalismus dekonstruieren.
Die Entpolitisierung der Bereiche Care und Reproduktion überlasse die Frage nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie den Bürger*innen, woraus zum einen neue Klassenverhältnisse entstehen und zum anderen zutiefst ungleiche Geschlechterverhältnisse. Die Individualisierung von Care-Arbeit zerstört den Gedanken der Solidargemeinschaft.
Um diese Entwicklungen umzukehren, muss eine Care-Revolution entfacht werden, um den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie zu sichern. Es geht auch um die Möglichkeit einer Verbindung mit den Klimaprotesten. Care-Umdenken ist Bestandteil der sozialökologischen Transformation.
Vor vollem Haus beendeten Amanda Jara und Yolanda Marvel am 24. September 2023 ihre Tour zum Gedenken an den großen Folksänger, Theaterregisseur, Schriftsteller, Lehrer und Kommunisten Víctor Jara im Café Zelig in Cottbus/Chóśebuz.
Das bewegende Programm bestand aus Gesprächen zwischen Amanda Jara und Volker Külow und aus Liedern von Víctor Jara, die beeindruckend von Yolanda Marvel an der Gitarre vorgetragen wurden.
Für den ersten sehr berührenden Moment aber sorgte die Vorsitzende des Verein Chile für die Welt, Carmen Gennermann: Sie hatte Schallplatten von Víctor Jara mit, die von einem Journalisten aus Chile geschmuggelt worden waren, der eigentlich am 11. September noch einen Interview-Termin mit Salvador Allende hatte. Die Platten waren bereits von Freunden im Garten uner der Erde versteckt worden und gelangten durch den Journalisten ins Ausland und schließlich nach Wernigerode. Als dort eine Frau von der Tour las, nahm sie Kontakt zu Carmen Gennermann auf und bat darum, die Schallplatten Amanda Jara zu überreichen.
Aufgrund der wohlkomponierten Fragen von Volker Külow rief Amanda Jara zu Beginn die politischen Verhältnisse vor der Wahl Allendes 1970 in Erinnerung und skizzierte die zenralen politischen Vorhaben des Sozialismusprojektes der Unidad Popular: Agrarreform, Bidungsreform, Veränderung der politischen Kultur, ... Dazu gehörte auch die Suche nach einer neuen kulturellen Identität, wofür insbesondere Víctor Jara im kollektiven Prozess an der Entwicklung einer neuen chilenischen Musik arbeitete, die insbesondere die Traditionen der Indigenen aufnahm. Sie schilderte aber auch das familiäre Leben, ging auf die Zeit des Exils in Großbritannien ein, benannte klar die Auswirkungen des Pinochet-Regimes bis heute, insbesondere mit Blick auf die neoliberalen Verwerfungen, und beschrieb das unermüdliche Engagement für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Junta und ein angemessenes, lebendiges Gedenken nicht nur, aber doch eben auch an ihren Vater.
Veranstaltungsbericht
Am 10. Dezember 2019 veranstaltete der Gesprächskreis im Neuen Palais in Potsdam zusammen mit dem Zentrum für Lehrerbildung der dortigen Universität und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg eine Tagung mit dem Titel „Demokrat*innen fallen nicht vom Himmel“.
Zu Beginn wurde ein Filmausschnitt über die Marktschule in Bremerhaven gezeigt. Demokratie, so hier das Credo, muss gelebt werden, um gelernt zu werden. Wie die Schüler und Schülerinnen ihren Schulalltag auf demokratische Weise mitgestalten, kann man hier nochmal nachsehen: https://www.youtube.com/watch?v=9IvXQxzkY3w
Im Anschluss wies Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie in Potsdam, auf die vielfältigen Schwierigkeiten hin, die Demokratiebildung mit sich bringt: Versteht man sie als Teil des Politikunterrichts? Ist sie fächerübergreifend unter Wertebildung zu fassen? Oder sollte Demokratie, wie an der Marktschule, über Schüler*innenpartizipation als Lebensform gelernt werden? Schubarth kritisierte zudem, dass Demokratiebildung weder Teil des Selbstverständnisses angehender Lehrer*innen, noch in der Lehrer*innenbildung verankert sei. Als Ausblick verwies er auf gelungene Projekte, wie beispielsweise das Projekt Kreidestaub.
Uwe Bittlingmeyer und Jürgen Gerdes, Lehrende an der PH Freiburg, warfen zunächst den Blick auf die Makroebene und präsentierten Statistiken, die belegen: Soziale und gesundheitliche Probleme sind vor allem da besonders groß, wo auch die Ungleichheit besonders groß ist. Das sei, das müsse man sich bei der Entwicklung von Lösungsansätzen immer wieder klar machen, eben funktionierender Kapitalismus. Menschen, die durch soziale Ungleichheit belastet sind, sehen sich auch von der politischen Willensbildung ausgeschlossen und beteiligen sich zunehmend weniger. Die Zustimmung zur Demokratie nimmt unter jungen Menschen erschreckend ab. „Demokratiebildung“ sei daher nicht nur eine pädagogische, sondern eine soziale und politische Herausforderung. Gerdes und Bittlingmayer verwiesen auf die Menschenrechte als Schlüsselbegriff. Demokratiebildung als Menschenrechtsbildung sei grundlegender, als auf der (nationalen) Ebene der Bürgerrechte zu verbleiben.
Beide Inputs unterstrichen, dass Demokratiebildung kein eigens Schulfach sein sollte, sondern Teil der Schulkultur: demokratischer Willensbildung in der Schule und die Beteiligung der Schulgemeinde an der Öffentlichkeit.
In der Diskussion macht die ehemalige Didaktische Leiterin der Laborschule Bielefeld, Christine Biermann, auf Noten als immer noch zentrales Selektionsinstrument aufmerksam, die auch für Demokratiebildung ein Hindernis darstellen. Uwe Bittlingmayer betonte, dass Partizipation in der Schule nur dann wirklich zu Demokratiebildung beitrage, wenn die Schüler*innen auch eine realistische Chance auf das Ergebnis hätten.
Immer wieder fiel das Stichwort Selbstwirksamkeitserfahrung als zentraler Bestandteil erfolgreicher Demokratiebildung. Ilka Hoffmann von der GEW betonte, dabei Schüler*innen mit besonderem Förderungsbedarf nicht aus dem Blick zu verlieren. Gerade benachteiligte Kinder müssten die Möglichkeit haben, ihre Rechte innerhalb einer Demokratie auch wahrzunehmen.
Aus dem Publikum kam von einer Studentin die Anmerkung, auch die Lehramtsstudierenden müssten dabei stärker in den Blick genommen werden: Häufig kommen sie aus akademischen Mittelschichtsfamilien, die ihre eigenen Privilegien im Studium kaum reflektieren müssen. Insgesamt war die Diskussion lebhaft und der Austausch zwischen Wissenschaftler*innen, Studierenden und Menschen aus der Praxis hat gut funktioniert. Positiv bemerkt wurde auch, dass der Diskussion auch ein entsprechend langer Zeitraum gewährt wurde.
Víctor Jara: Presente!
Bericht von Gabriele Senft
24. September 2023
Als Yolanda in die Runde fragt: „Wer kommt aus Chile?“, melden sich etliche, „und wer aus Cottbus?“ klar, die meisten im Café Zelig in Cottbus heben die Hand. „Und kommt auch jemand aus benachbarten Orten?“ „Ja, ich, aus Berlin.“. Diese Antwort wird von meinen Tischnachbarn lachend kommentiert, „ja, Vorort von Cottbus“.
Ich bin damit einverstanden, (auch, weil ich Wurzeln in Luckau habe, ist ja halb auf dem Weg,) - und sehr froh, dabei zu sein und den letzten Abend einer Reihe von Veranstaltungen der beiden Frauen aus Chile miterleben zu dürfen. Die sind aus Chile angereist und haben nun eine anstrengende, doch für alle Beteiligten bedeutsame Tour fast hinter sich. Hier in Cottbus sind sie eingeladen von der Stadtfraktion der LINKEN, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg und dem Verein Chile für die Welt Cottbus e.V. in einen lichtdurchflutenden wunderschönen Raum.
»Wie in einem Gewächshaus im Tierpark«, empfindet es Moderator Dr. Volker Külow. Viele erwartungsvolle Gesichter sitzen den beiden Frauen Amanda Jara, Yolanda Marvel, dem Dolmetscher Lucas und Dr. Volker Külow gegenüber. Der begleitete sie auch schon an den Vorabenden mit einer wohl überlegten Regie aus Gesprächsrunden und Liedvorträgen.
Amanda bewundert im Café Zelig vor allem den „Big Bonsai“, einen stattlichen Olivenbaum im Saal– und sie habe den bequemsten Stuhl von allen, auf denen sie in den letzten Tagen Platz genommen hatte ..., so versteht sie es, die Zuneigung des Publikums zu gewinnen und sich selbst damit einzustimmen, denn, so sagt sie mir vorher, es fällt ihr nicht leicht, sie verreise gar nicht gern und freue sich auf zu Hause. Doch auch mich hat sie schon vor Beginn der Veranstaltung mit ihrer Lebendigkeit betört, ich habe sonst immer Hemmungen, mich in Englisch zu verständigen, und bei ihr merke ich gar nicht, dass wir uns nicht auf Deutsch unterhalten, so einfach erscheint mir das.
Yolanda hat einige in verschiedenen Lebensphasen Victor Jaras entstandene Lieder herausgesucht und erzählt nun, warum es diese gibt, so u.a. wie der Sänger in Havanna von Fidel Castro eingeladen war und weil jenem etwas dazwischen kam, er dann von jemand vertreten wurde und die chilenischen Gäste erst später erfuhren, dass sie von Che Guevara empfangen worden waren. Oder über den Anlass für das Lied „Luchin“, das von einem bei Rettungsarbeiten während einer Überflutung von Studenten gefundenen und gerettetem Findelkind erzählt, das später adoptiert werden konnte. Auch das Lied „El derecho de vivir en paz“ ist allen vertraut, seit Víctor Jara es für Ho chi Minh sang. „Das Recht in Frieden zu leben“, es wird heute auch in der Ukraine gesungen. Spät am Abend singt sie für uns sein Lied „Manifest“, das Víctor Jara im Juni 1973 für ein Liederalbum noch aufnehmen konnte und wir es darum manchmal mit seiner zärtlichen Stimme auf Tonträgern hören können. Sie ermutigt uns zum Mitsingen und wenigstens mit „Lalala“ zur Melodie schaffen wir es auch.
Da passte das liebevolle Geschenk, das Cottbuser:innen Amanda machten: Schallplatten mit Liedern ihres Vaters, die seit 1973 in deren Besitz waren.
An diesem, wie an den anderen Abenden, hatte Amanda eine schwierige Aufgabe. Die Tochter des chilenischen Volkssängers wird wiederholt an die für sie schrecklichsten Tage ihres Lebens vor 50 Jahren erinnert, als der Vater ermordet wurde und sie mit der Schwester und ihrer Mutter ins Exil nach Großbritannien fliehen musste. In Cottbus fragt Volker sie darum nicht noch einmal zu den Ereignissen des 11. September, stattdessen liest er aus dem Buch von Joan Jara „Das letzte Lied“ vor, eine Erinnerung der Mutter auf der Reise nach Großbritannien mit den beiden Töchtern vier Wochen nach dem Militärputsch. Sie sei nun nichts mehr von all dem, was sie ausmachte, Tänzerin, Choreografin, Lehrerin, nur noch die allein Verantwortliche der beiden Kinder, die sie so blass in ihren Sitzen vor sich sieht, „so verstört, dass sie sich nicht mal um den Fensterplatz streiten...“ und sie nun stark sein müsse für sie, aber diese ihr erst die Kraft gäben, weiter zu leben.
Amanda ist konzentriert und bereit, geduldig und ausführlich auf alle Fragen einzugehen, und sie antwortet mit einer offen zugewandten, liebenswerten natürlichen Ausstrahlung. Sie kann wunderbar erzählen und uns zum Lachen bringen: Bedauernd sagt sie, in der Familie sei die Mutter die Schönste gewesen und sie komme nach dem Vater, - was wir doch anerkennend registrieren, denn ihre Augen sprühen vor Lebensfreude. Und wir suchen nicht vergeblich nach vertrauten Gesichtszügen von Víctor Jara. Sie spricht auch eindringlich darüber, was ihrem Volk angetan wurde und bringt uns zum Nachdenken darüber, was man einer an die Macht kommenden Reaktion zutrauen kann.
In Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig, Chemnitz und Berlin waren Amanda Jara und Yolanda Marvel zu Gast. Überall herzliche Begegnungen mit Bürgern aus der BRD und mit ihren Landsleuten, erzählt Amanda. "Besonders mit den älteren, die sich an die Jahre der Unidad Popular und die weltweit große Hoffnung erinnern können, gab es feste Umarmungen.“
Unter ihnen sind sicher viele wie ich, die an die X.Weltfestspiele in Berlin denken und an die Worte von Gladys Marin über eine ernste Bedrohung der sozialistischen Errungenschaften in Allendes Chile. Einen Monat später mussten wir über das unvorstellbare brutale Wüten der Militärschergen erfahren.
Doch seit damals gehören auch uns willkommene Flüchtlinge aus Chile zu unserem Leben und die chilenische Musik, wo wir bald einige Lieder mitsingen konnten.
Yolanda Marvel und Amanda Jara sind über 30 Jahre miteinander befreundet. Dort, wo Amanda in einem kleinen chilenischen Ort am Meer lebt und ihre Landschaftsbilder entstehen, dort kommen Yolandas Eltern her. Yolanda ist Historikerin, sie hat in Leipzig studiert, spricht darum akzentfrei Deutsch und sie liebt es zu musizieren. Mit Jörg Folta vom Felsenkeller in Leipzig zusammen entstand die Idee, den vor 50 Jahren ermordeten Sänger Victor Jara mit dieser Rundreise zu ehren. Wir zollen ihrem Können im Gitarrenspiel, ihrer ausdrucksstarken Stimme viel Beifall.
Amanda ist Vorsitzende der 1994 gegründeten Victor Jara Stiftung und sie führt jahrzehntelang einen zähen, aufreibenden, aber doch in kleinen Schritten erfolgreichen Kampf, damit die Verbrechen des Pinochet-Regimes nicht vergessen werden. Der Platz ungeheurer Folter und Morde, das Stadion in Santiago, hat 2003 den Namen ihres Vaters, „Estadio Víctor Jara“, erhalten und sie lässt zusammen mit vielen Freunden nicht nach, sich dafür einzusetzen, dass dieses Stadion ein wirklicher Gedenkort wird und die Verbrechen gesühnt werden. Sieben der damaligen Soldateska wurden schuldig gesprochen am Tod von Victor Jara und sind verurteilt worden.
Dass es noch viele Zeitdokumente gibt, ist zahlreichen Chilenen und auch ausländischen Journalisten zu verdanken, die Material versteckten und ins Ausland retteten.
Theo Balden, der für meine Heimatstadt Luckau ein Karl-Liebknecht-Denkmal schuf, in dessen Gestaltung er uns Oberschüler einbezog, packte 1973 seine Erschütterung in eine Plastik. Er schuf eine Büste Victor Jaras - einen zum Tode verletzten, doch in seiner Würde unbeugsamen Sänger, der nie vergessen wurde und uns in kommenden Kämpfen begleiten wird.
Amanda bringt es in ihrem Schlusswort zum Ausdruck: Victor Jara ist nicht tot, er lebt als Saat der Gedanken.
Die vom Förderverein Felsenkeller Leipzig initiierte Tour des Gedenkens von Amanda Jara und Yolanda Marvel wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt und der Tageszeitung „junge Welt“ als Medienpartner begleitet.
Für die Realisierung von Gespräch und Konzert in Cottbus/Chóśebuz arbeiteten Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V., Fraktion DIE LINKE. in der Stadtverordnetenversammlung Cottbus/Chóśebuz und der Verein Chile für die Welt e.V. zusammen.
Der RosaTourBus möchte altgediente Bekannte sowie zukünftige Büdnispartner*innen treffen, interessante Orte und Projekte kennenlernen und dabei in Austausch mit Initativen und Menschen gehen, um gemeinsam über lokale politische Herausforderungen zu sprechen und über Kämpfe, Erfolge und Lernprozesse zu reflektieren.
Aufgrund der eingereichten und eingesammelten Vorschläge wird der RosaTourBus im Havelland, Ostprignitz-Ruppin, Barnim, in Märkisch-Oderland und in der Lausitz Station machen.
Neben Gesprächen werden auch Angebote & Möglichkeiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt, zudem ist der Kofferraum voll mit Publikationen, Flyer, Podcasts etc..
Es wird auch jede Menge Platz für tolle Eindrücke, Verabredungen und spannende Erlebnisse geben.Mehr Infos dazu gibt es unter der Mailadresse: rosatourbus@rosalux.org
- Auftakt in Potsdam
Dienstag, 25. April 2023, 10 Uhr
Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.
Dortustr. 53, 14467 Potsdam - Einladung zum Mitdiskutieren: Das Klima des Kapitals
mit Valeria Bruschi (Autorin) & Steffen Schorcht (BI Grünheide)
Donnerstag, 27. April 2023, 19.30 Uhr
Kulturmanufaktur Gerstenberg
Ziegelstr. 28A, 15230 Frankfurt (Oder)
mehr dazu... - Rise Up!
Vorführung des Dokumentarfilms (D 2022, 89 min., OmU) in Anwesenheit von Marco Heinig vom Filmkollektiv leftvision
Freitag, 28. April 2023, 18.30 UhrPfarrhaus der Ev. Michael-Kirchengemeinde
Karl-Marx-Str. 47, 03130 Spremberg
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Lucas Reinehr: Der Wunsch nach Veränderung – das beschreibt die Stimmung vielleicht am besten, die in den letzten Jahren in Chile herrschte. In ganz Lateinamerika gab es die Hoffnung, dass Chile vorangeht und zeigt, wie der so notwendige gesellschaftliche Wandel gelingen könnte. Klar ist, Veränderung passiert nicht über Nacht; um die Realität zu verändern, braucht man einen langen Atem. Daher meine erste Frage: Wie hat dieser Veränderungsprozess in Chile begonnen? Was ist in den letzten Jahren passiert, dass es zu ersten Protesten kam?
Viviana Delgado: Wenn es in Chile keine sozialen Bewegungen gäbe, würde der Staat gar nichts tun, um das Leben der Menschen zu verbessern. Wenn wir nicht auf die Straße gehen und deutlich machen würden, was uns schadet, passiert in ganz Chile nichts. Die Veränderungen in unserem Land müssen wir also selbst vorantreiben. Ich bin seit meinem 14. Lebensjahr Umweltaktivistin und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Als Jugendliche standen wir bereits dem Diktator und allen, die uns verletzten, gegenüber, waren auf der Straße, revolutionierten. Und wir haben gekämpft und weitergekämpft – bis die Demokratie Wirklichkeit wurde. Die Hoffnung von uns allen, ohne Angst leben zu können, keine Furcht mehr haben zu müssen, dass sie uns eines Tages aus dem Bus holen und verschwinden lassen würden, wurde real. Und wissen Sie, was dann mit unserem Land passiert ist? Wir ruhten uns darauf aus und schliefen ein.
Allerdings wurde immer deutlicher, dass wir in unserer Lebensqualität verletzt wurden, auch in unserer Menschenwürde – dass Unternehmen auf Kosten unserer Gesundheit Geschäfte machten, wie sie wollten. So entstanden die neuen sozialen Bewegungen vor allem aus Umweltkämpfen. Insbesondere in Maipú hatten wir einen Kampf, der wie das große Erwachen für die sozialen Bewegungen und Aktivist*innen war: eine große Gerberei war der Ausgangspunkt, die einen fürchterlichen Geruch abgibt und die Lebensqualität der ganzen Umgebung mindert. Es war uns nicht aufgefallen, dass diese Firma in Maipú angesiedelt werden sollte. Wir Aktivist*innen fühlten uns schuldig, wir litten und wir sagten: Nie wieder! Das wird nie wieder passieren. Und wissen Sie, was wir getan haben? Wir qualifizierten uns. Wir haben ein Diplom in öffentlicher Umweltverwaltung gemacht, um uns den Unternehmen und der Regierung stellen zu können.
So begannen viele Bewegungen zu entstehen, wir bildeten uns, konfrontierten die Mächtigen und kamen auf Augenhöhe mit Politiker*innen ins Gespräch. Und was passierte? Eines Tages haben wir gesagt: Okay, alles ist Politik. Und wir beschlossen, die Geschichte zu ändern und uns der politischen Elite zu stellen, die immer nach Aktivist*innen suchte, damit wir uns für sie einsetzten. Und wir sagten denen: nein, wir werden selbst die Protagonist*innen werden, wir werden unsere eigenen Kandidat*innen stellen. Und so gingen wir dem Traum von einer neuen Verfassung entgegen.
Lucas Reinehr: Wie Sie sagten, alles ist politisch! Vor allem das, was auf der Straße passiert, durch Proteste und Demonstrationen. Wie ist dieser Prozess von der ersten Mobilisierung, vom ersten Veränderungsgefühl bis hin zur konstituierenden Versammlung verlaufen?
Alejandra Salinas: Die Wahrheit ist, dass man auf viele Details schauen muss, um zu verstehen, was passiert ist: Bei dieser sozialen Explosion standen die Renten, die Bildung und das Recht auf Wohnung auf dem Spiel. Zur Kontextualisierung: In der Gemeinde, in der ich Ratsmitglied bin, haben wir mehr als 700.000 Einwohner*innen. Die Kommune ist sehr arm und sehr prekär finanziert. Das macht es schwer, die allgemeine Daseinsvorsorge zu gewährleisten. In Chile wird die Bildung teilweise vom Staat, aber auch von den Kommunen finanziert. So hat eine Gemeinde mit geringem Einnahmen eine sehr fragmentierte Bildung, mit sehr prekären Bedingungen sowohl von der Infrastruktur her, als auch was die Entlohnung der Lehrer*innen und die Art und Weise angeht, wie Schüler*innen Wissen erwerben. Hinzu kommt das Rentenproblem: niedrige Renten, z.T. 150 Euro und noch weniger für die Ärmsten.
All dies löste also eine Bewegung aus, die auf den Straßen durch sozial-ökologische Aktivist*innen, Feminist*innen und natürlich die Studierenden und Schüler*innen präsent war. Sie wollten nicht mehr akzeptieren, wie die Lage in Chile war.
Wichtig ist es auch, die Wasserproblematik in Chile zu erwähnen: Wasser ist in Chile privatisiert. Es gibt Gemeinden ohne die Möglichkeit einer Grundversorgung, genau da, wo das Wasser für die großen Monokulturen, z.B. für Avocados, verwendet wird.
Außerdem war die politische Klasse in Chile von der Realität abgekoppelt; Politiker*innen, die nicht wussten, was ein Brot kostet, wie teuer der öffentliche Nahverkehr ist. Es gab keine Nähe zu den allgemeinen chilenischen Leuten. Dann kam all das zusammen und es entstand eine Bewegung, die keine Führung hatte, die „kopflos“ war. Es gab niemanden, der das alles zusammenbringen konnte.
Und es wurde deutlich, dass es notwendig war, die Verfassung zu ändern. Denn jedes Mal, wenn wir etwas wollten, zum Beispiel das Wasser in öffentliche Verwaltung zurückzubringen, konnten wir es nicht, weil es verfassungswidrig war. Verbesserung der Renten: auch verfassungswidrig. Die Verfassung war also unser Stolperstein.
Elisa Giustinianovich: Das, was meine Genossinnen hier berichten, sind die Erfahrungen der letzten 30 Jahre in verschiedenen Teilen Chiles, Erfahrungen eines langen postdiktatorischen Übergangs. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass während der Diktatur durch Feuer, Verschwindenlassen, Folter, Verdrängung ins Exil versucht wurde, das gesamte soziale und linke Netzwerk im Land zu zerstören. Die Wiederherstellung dieses sozialen Gefüges war progressiv, ging aber langsam voran und hat eine ganz besondere Form von kleinen Mikroausbrüchen angenommen, die in verschiedenen Teilen des Landes als Widerstand gegen das neoliberale System stattfanden, das den Subsidiaritätsstaat in unserem Land errichtet hat.
Wie Sie wissen, besteht die Eigenschaft des Subsidiaritätsstaates im Grunde darin, absolut alle Lebensbereiche zu privatisieren, was unweigerlich zu einer extremen Trennung der Gesellschaftsschichten führt. Letztendlich gibt es unterschiedliche Bildung für arm und reich, unterschiedliche Gesundheitsfürsorge für arm und reich, unterschiedliche Renten für arm und reich, unterschiedliche Justiz für arm und reich.
Die Empörung darüber hat schließlich zur Revolte geführt. Und von stärker politisierten Gruppen wurde dann recht schnell die Forderung nach einer neuen Verfassung auf die Straßen getragen – und mit politischer Bildung verbunden, um deutlich zu machen, dass der systemische Fehler, dass alle Macht beim Markt liegt, in der Verfassung begründet ist, die in der Zeit der Diktatur erlassen wurde.
So entstand der konstituierende Prozess also von der Straße aus.
Lucas Reinehr: Ich glaube, dass gerade der Umgang mit dem Neoliberalismus sehr wichtig ist, betrifft er doch das politische Denken und die gesamte Bevölkerung in Chile und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern direkt. Eine politische Veränderung erfordert auch eine Abkehr vom tiefverwurzelten neoliberalen Denken, einen kulturellen Wandel sozusagen. Auch wenn das Referendum nicht erfolgreich war, was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Elemente, die vor diesem Hintergrund im Verfassungsentwurf enthalten sein mussten, insbesondere aus feministischer, sozialer und ökologischer Sicht?
Elisa Giustinianovich: Die Wahrheit ist, dass die wichtigsten Errungenschaften des Verfassungstextes ziemlich gut in Artikel 1 zusammengefasst sind. Dort heißt es: Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat, es ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch. In diesen sieben Konzepten ist praktisch der gesamte Inhalt des Verfassungsentwurfs zusammengefasst.
Wenn wir von einem Sozialstaat sprechen, hat das mit der Überwindung des Subsidiaritätsstaates zu tun. Das heißt: die Stärkung sozialer Rechte universeller Natur für die gesamte Bevölkerung war der Kern des Verfassungsvorschlags. Das Recht auf Gesundheit, Bildung, Wohnung, soziale Sicherheit - das sind die wichtigsten Rechte und zugleich alles, was wir derzeit eben nicht haben. Aktuell gibt es lediglich das Recht auf Zugang, also auf eine freie Wahl innerhalb des Marktes. Gesundheit, Bildung, Wohnen, soziale Sicherheit sind aber eben keine einklagbaren Rechte.
Das zweite Konzept, der demokratische Charakter des Staates, ermöglicht es uns, die sehr tiefe Legitimitätskrise der Politik zu überwinden. Es gibt eine sehr starke Trennung in unserem politischen System zwischen der politischen Führung und der gesellschaftlichen Basis. Wir haben nur das Wahlrecht – und wollten nun auch Beteiligungsinstrumente in der Verfassung verankern wie Volksinitiativen, kommunale Volksabstimmungen auf regionaler oder nationaler Ebene und die Pflicht sowohl der lokalen als auch der nationalen Regierungen zur Einbeziehung der gesamten Bevölkerung, aktiv, informiert und verbindlich. Dabei sollte vor allem historisch ausgegrenzte Gruppen besonders einbezogen werden.
Der plurinationale und interkulturelle Charakter ermöglichte es, eine Forderung der indigenen Völker um Anerkennung und Umsetzung indigener kollektiver Rechte widerzuspiegeln. Das hat nicht einfach mit der Diktatur oder der Verfassung von 1980 zu tun, sondern mit einer jahrhundertelangen Politik der Ausgrenzung und Unterdrückung indigener Völker, ihrer Kultur, ihrer Weltanschauung, ihrer Sprache usw.
Der regionale Charakter des Staates, ich komme zum vorletzten Konzept, nahm die Forderung von Regionen und Gemeinden außerhalb von Santiago oder außerhalb von Santiagos Zentrum auf, Autonomie zu genießen, Entscheidungen selbst treffen zu können. Wir sind der zweitzentralisierteste Staat der Welt, und das führt zu starken Ungleichheiten in der Entwicklung der Regionen.
Und schließlich der ökologische Staat: das war eine Antwort auf die globalen Herausforderungen wie die Klimakrise. Gerade die zunehmende Versteppung bzw. Verwüstung wirkt sich sehr extrem auf unser Land aus; wir brauchten eine energische Antwort auf eine extraktivistische Wirtschaftspolitik. Unsere Wirtschaft basiert auf Extraktivismus, daher mussten wir die Natur als Rechtssubjekt definieren, das Konzept natürlicher Gemeingüter in die Verfassung aufnehmen. Das ist angesichts dessen, dass alles privatisiert wird, einschließlich das Wasser, etwas äußerst Wichtiges, um ein Buen Vivir, die Wiederherstellung des Gemeinsamen in den Gemeinden, ermöglichen zu können.
Lucas Reinehr: Der Verfassungsentwurf hat versucht, vieles aufzunehmen, was über Jahrhunderte in der Gesellschaft vergessen wurde und im Interesse aller sein müsste – dennoch wurde er in der Volksabstimmung nicht angenommen. Es ist schwierig, eine Diagnose zu erstellen, weil es viele Aspekte der Gesellschaft zu verstehen gibt. Es gibt viele Ähnlichkeiten in Chile, Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern. Zum Beispiel das Schreckgespenst „Chilezuela“ oder „Brasilien wird zu Venezuela“. Das ist ein Instrument der Rechten, um die Linke oder die Sozialpolitik zu verteufeln. Das hat viel mit Fake News zu tun. Was waren aus Eurer Sicht die Gründe, warum das Referendum nicht erfolgreich war?
Viviana Delgado: Ich denke nicht nur darüber nach, was die Verfassungsdelegierten falsch gemacht haben, ich schaue mir auch an, wie sich die Bevölkerung verhalten hat. Sie hat sich scheinbar geirrt, aber warum?
Zuerst ist das Fernsehen zu nennen: Da haben wir sieben sehr reiche Familien, die die Fernseh- und Radiokanäle besitzen. Dort wurde nur über die Ablehnungsoption gesprochen und nichts Positives über den Verfassungsentwurf berichtet. Außerdem hatten die Leute Angst vor Veränderungen, das ist unglaublich. Es gibt das sogenannte „Gesetz des Tropfens“ . Danach gilt, je mehr die Reichen haben, je mehr sie im Überfluss leben, desto mehr “tropfen“ sie auf uns. Wenn also die Reichen destabilisiert würden, würde das auch der breiten Bevölkerung schaden – so deren Argumentation.
Die Rechtskräfte investierten 200 Millionen Pesos in ihre Kampagne #yorechazo gegen den Verfassungsentwurf. Sie erstellten falsche Verfassungen und behaupteten, das wäre der eigentliche Entwurf. Wir sahen uns einer gigantischen Macht gegenüber. Darüber hinaus zwang uns der Rechnungshof, der alle kontrolliert, die öffentliche Ämter innehaben, keine Kampagnen zu machen. Wir durften nicht einmal in den sozialen Netzwerken mit dem Logo #apruebo arbeiten. Wir mussten alles im Verborgenen machen und hatten dafür nur zwei Monate Zeit. Außerdem ist die politische Bildung in Chile sehr schwach. Viele wussten nicht, was eine Verfassung überhaupt ist. Daher fällt es noch schwerer, etwas zuzustimmen, von dem man nichts weiß und von dem nicht klar ist, was das mit dem eigenen konkreten Leben zu tun haben könnte.
Alejandra Salinas: Ein wichtiger Grund ist ganz sicher die prekäre Bildung. Klar ist aber auch, dass die politische Elite von dieser Verfassungsänderung besonders betroffen gewesen wäre. Senatoren wären abgesetzt worden und die Regionen hätten eine fundamentale Rolle bekommen. Sie hätten die wirtschaftliche Möglichkeit zur Gründung oder Förderung von Staatsunternehmen zur allgemeinen Daseinsvorsorge gehabt und hätten so der politischen Elite ihre Vorrechte genommen und ihre Einnahmequellen.
All das hat mit dem neoliberalen Prozess zu tun, in dem wir seit mehr als 30 Jahren leben, mit dieser Sichtweise, sich um die persönlichen Bedürfnisse zu kümmern und nicht um die kollektiven.
Ja, wir haben viel mit der Bevölkerung gearbeitet, mit den sozio-ökologischen Bewegungen, den Feministinnen, den Studierenden. Aber wir müssen auch anerkennen, dass es einen Teil unserer Gesellschaft gibt, den unsere Arbeit nicht erreicht hat, dem wir nicht erklären konnten, warum die angestrebte Veränderung auch für ihn konkret von Bedeutung ist und warum es lohnt, dafür zu kämpfen.
Der konstituierende Prozess hat ein Jahr gedauert, an dessen Ende 388 Artikel für die neue Verfassung formuliert waren. Um den Inhalt zu verbreiten, hatten wir aber nur zwei Monate Zeit. Zwei Monate. Nur in dieser Zeit konnten auch wir, die öffentliche Ämter bekleideten, auf den Märkten starke Basisarbeit leisten, mit den Menschen direkt ins Gespräch kommen. Die Rechte jedoch, die in der verfassungsgebenden Versammlung eine Minderheit darstellte, widmete sich vom ersten Tag an ihrer Diskreditierung. Sie behaupteten sogar, dass die Vorschläge der Verfassung gegen das gerichtet sei, was die Protestierenden auf den Straßen gefordert hätten.
Elisa Giustinianovich: In der Tat war dies hauptsächlich aufgrund eines strukturellen Fehlers in der Gestaltung des institutionellen Prozesses möglich, den wir von den sozialen Organisationen vom ersten Moment an angeprangert haben: Der ganze Prozess war zu kurz konzipiert, richtete sich nicht auf einen kulturellen Wandel, sondern konzentrierte sich darauf, eine Verfassung zu schreiben. Es gab nur ein Gremium, das sich aufs Schreiben fokussierte. Es gab kein Budget oder keine Zeit für eine Beteiligung der Bevölkerung, für eine Kommunikationsstrategie oder für politische Bildungsprogramme. Das war ein sehr schwerwiegender Geburtsfehler. Und: Die gesamte Verantwortung für die Lösung aller Probleme Chiles wurde diesem beispiellosen Gremium übertragen. Ohne Vorkenntnisse, ohne Erfahrungen kamen wir in ein leeres Gebäude und hatten lediglich drei Sekretär*innen. Es gab nicht mal Toilettenpapier.
Hinzu kommt etwas, das mir wie ein weltweites Problem vorkommt. Das große Problem der Linken ist, dass sie eine fraktionierte Linke ist, sehr gespalten und auch ohne wirtschaftliche Macht, die diese gewaltigen Medienkampagnen von rechts hätten ausgleichen können. Es ist uns nicht gelungen, dem Angstdiskurs mit einem entschiedenen Hoffnungsdiskurs entgegenzutreten. Das ist auch Selbstkritik an dem, was uns fehlt.
Lucas Reinehr: Vielleicht gelingt mir mit der letzten Frage doch noch etwas Optimismus: Trotz des Scheiterns, was sind die Perspektiven der Linken in Chile. Was bleibt von den bisherigen Kämpfen? Wie geht es weiter?
Alejandra Salinas: Sicher, alles, was wir berichten, macht erst einmal ziemlich traurig. Die Wahrheit ist aber auch, dass dieser Prozess die sozial-ökologischen, feministischen und studentischen Bewegungen miteinander verbunden hat. Für diejenigen, die Chile nicht kennen: Chile ist ein sehr langer und schmaler Landstreifen. Die Vernetzung ist also kompliziert und dennoch haben wir es geschafft, uns zu verständigen und uns zu organisieren. „Mirar nos a los ojos!“ Das war unser Motto. Es ging dabei vor allem um Wertschätzung in unserer gemeinsamen Arbeit. Der Anfang war erfolgreich, wir waren in der verfassungsgebenden Versammlung mit 154 Delegierten vertreten!
Noch etwas ist sehr wichtig: Wir haben eine zersplitterte Linke, ja. Aber es gibt auch christdemokratische Parteien in Chile, manchmal politisch schwankend, aber einige von ihnen haben die Ablehnung angeführt und so ihr wahres Gesicht gezeigt. Der politische Prozess der letzten Jahre hat einerseits Klarheit geschafft.
Andererseits ist deutlich geworden, dass wir, wenn wir grundlegend etwas ändern wollen, auch die Machtpositionen besetzen müssen. Ich bin im Stadtrat der zweitgrößten Gemeinde in Chile mit einer einzigartigen kommunalen Wasserentsorgung. Viviana ist Abgeordnete im Parlament und macht dort Gesetze. Wir müssen die 30, 40, 200 Jahre langanhaltenden Ungerechtigkeiten beenden und die Vorherrschaft des Kapitals brechen. Wir müssen eine andere Vision davon haben, wie wir einen fundamentalen Wechsel erreichen können.
Viviana Delgado: Ich denke, es war wichtig, dass wir nach dem Misserfolg erst einmal zur Ruhe kommen und trauern konnten; aber wir arbeiten weiter. Eine der Visionen ist, dass in vier oder zwei Jahren, wenn die nächsten Wahlen für Bürgermeister*innen, Stadträte und auch Abgeordnete anstehen, die sozialen Bewegungen ihre eigenen Leute als Kandidat*innen aufstellen. In Chile ist es häufig so, dass die Leute in einer armen Gemeinde die Leute wählen, die in einer reichen Gemeinde leben, um sie zu regieren – weil sie glauben, nur sie könnten das. Und so wählen sie die Reichen. Was wir jetzt tun müssen, ist unsere Genoss*innen noch mehr zu den Menschen zu schicken, um aufzuklären und Vertrauen zu gewinnen. Und dann müssen wir schauen, ob wir auf diese Weise auch die Gesetze ändern können, die uns schaden. Im Kongress haben wir jetzt vier Siebtel. So können wir Gesetze ändern, was aber viel länger dauert, als es mit einer neuen Verfassung gegangen wäre.
Elisa Giustinianovich: Das derzeitige Szenario macht keine Hoffnung, dass es in naher Zukunft ein neues Verfassungsreferendum geben wird. Wir haben ein Parlament, das hauptsächlich rechts aufgeladen ist, und wir haben eine Wirtschaftskrise mit Inflation. Die wirtschaftliche Lage fördert autoritäre Wendungen, leider profitiert davon die extreme Rechte, die Faschisten besonders.
Paradoxerweise ist das Szenario dennoch günstiger für uns als vor drei Jahren. Zwei Dinge hatten wir damals noch nicht: Erstens eine chileweite Präsenz sozialer Bewegungen und Organisationen. Wir kennen uns jetzt, sind organisiert und können gemeinsam Strategien entwickeln. Und zweitens haben wir ein gemeinsames politisches Projekt, das wir vorher nicht hatten – und das steht in diesem Verfassungsentwurf. Hinzu kommt ein beschleunigter Politisierungsprozess, der in den letzten beiden Jahren stattgefunden hat und der es ermöglicht, mehr politisches Bewusstsein in der Bevölkerung zu entwickeln, mit antikapitalistischen, antineoliberalen, feministischen, ökologischen Perspektiven.
Elisa Giustinianovich war gewählte Vertreterin im verfassungsgebenden Konvent und arbeitete in der Kommission „Participación Popular y Equidad Territorial“ (Volkspartizipation und Bodengleichheit) an Vorschlägen zum Verfassungsentwurf. Sie ist Vertreterin der feministischen Coordinadora 8M in Punta Arenas, der Plataforma Feminista Constituyente y Plurinacional und der Umweltbewegung MAT (Movimiento por el Água y los territorios).
Viviana Delgado ist seit März 2022 Abgeordnete im neugewählten chilenischen Parlament. In Santiago de Chile ist sie in lokalen sozialökologischen Bewegungen und bei Movimiento Socioambiental Comunitario – Por el Agua y el Territorio (MOSACAT) aktiv.
Alejandra Salinas ist unabhängige Stadtvertreterin der Kommune Maipu/Santiago de Chile und in Movimiento Socioambiental Comunitario – Por el Agua y el Territorio (MOSACAT)engagiert.
Lucas Reinehr ist Journalist und Übersetzer. In Brasilien war bei der Landlosenbewegung MST und in der Arbeiterpartei PT engagiert. Zur Zeit absolviert er ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg.
Vortrag und Diskussion am 5. November 2022 in der Aula der Anne-Frank-Oberschule Stausberg
mit
- Valeria Bruschi hat Philosophie studiert und ist seit 2008 in der politischen Bildungsarbeit zu den Themen rund um die Kritik der politischen Ökonomie tätig. Sie ist Mitautorin des Bildungsmaterials „Polylux Marx“ und unterrichtet zudem in Berlin Deutsch für Migrant:innen und Asylbewerber:innen. Sie ist Mitherausgeberin des Buches „Das Klima des Kapitals. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik“.
- Steffen Schorcht hat Medizintechnik und Biokybernetik an der TH Ilmenau studiert. Er ist als Vertreter des Ortsvereins Karutzhöhe e.V. seit fast 20 Jahre Verfahrensbeteiligter bei der Neufestsetzung des Wasserschutzgebietes Erkner-Neu Zittau, in dem die Tesla-Fabrik errichtet wird. Er ist Mitglied der Bürgerinitiative Grünheide, des NABU und der Grünen Liga sowie der gemeinsamen Arbeitsgruppe Tesla der Naturschutzverbände Brandenburgs.
- und sachkundigen Einwohner*innen des Klimaausschusses Strausberg
Bericht von Renate Adolph und Meinhard Tietz
„Frieden ist das Beste und Wichtigste auf der Erde“. So formulierte es eine Schülerin der Klasse 8a des Seelower Gymnasiums, nachdem sie zusammen mit Mitschüler*innen und den örtlichen Landtagsabgeordneten Bettina Fortunato (LINKE) und Kristy Augustin (CDU) im Friedenswald auf dem Krugberg in Werbig drei Bäume der Erinnerung gepflanzt hatte. Auf Initiative der Modrow-Stiftung setzten die Abgeordneten, das Gymnasium auf den Seelower Höhen, die Rosa-Luxemburg- Stiftung und der Verein „alternatives denken“ Strausberg am 24. November 2022 ein Zeichen für eine umgehende Beendigung der russischen Aggression in der Ukraine. Bei der Eröffnung betonte Gerd-Rüdiger Stephan, dass gerade in der gegenwärtigen schwierigen Zeit der Friedensgedanke durch die Zivilgesellschaft weiter getragen werden sollte.
Der Friedenswald nahe den Seelower Höhen war Anfang der 90er Jahre zur Erinnerung an den mörderischen Zweiten Weltkrieg geschaffen worden. Er symbolisiert die Gegenvision: Dass unterschiedliche Bäume wie Gingo, Esche und Birke zusammenstehen können wie verschiedene Völker auch in einer menschen- und naturfreundlichen Welt. Die Begegnungsstätte auf dem Krugberg bildet seither den Anfang einer Kette von Friedenswäldern, die über Polen bis Russland reicht. Der Krugberg verdankt der Modrow-Stiftung nunmehr auch eine weitere Sitzbank, die an diesem Novembertag zudem feierlich aufgestellt wurde.
Anschließend diskutierten Jugendliche der Jahrgangstufe 11 gemeinsam mit den beiden Abgeordneten sowie mit Cathleen Bürgelt und Meinhard Tietz von der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Gebäude des Gymnasiums über Möglichkeiten, den Krieg schnell zu beenden. Einig waren sich alle: Es müssten rasch Wege der Diplomatie zwischen den beteiligten Ländern gefunden werden. Waffenlieferungen trügen dagegen dazu bei, dass der Krieg immer weiter gehe. Leider seien Gesprächskanäle sowohl auf politischer als auch auf regionaler Ebene zwischen Einrichtungen und Verbänden zurzeit abgebrochen. Cathleen Bürgelt bezeichnete dies als einen schwerwiegenden Fehler. Außerdem sei Solidarität mit allen vom Krieg betroffenen Menschen wichtig.
Kristy Augustin plädierte dafür, bestehende Beziehungen wieder zu beleben wie zu Partnern in Weißrussland, mit denen sie dort zusammen 1995 Friedensbäume gepflanzt hatte. Meinhard Tietz warnte davor, die Kriegsrhetorik beider Kriegsparteien sowie in der Öffentlichkeit weiter anzuheizen.
Einige Schüler*innen äußerten Bedenken an der Bereitschaft der Kriegsparteien von ihren jeweiligen Interessen abzuweichen. Bettina Fortunato verwies darauf, dass es im Krieg immer um Machtinteressen und Einflusssphären gehe. Um das Sterben zu beenden, müssten beiden Seiten Zugeständnisse abgerungen werden. Es gelte, die kleinen Wurzeln bisheriger Zusammenarbeit wieder zu beleben, um den inneren Druck zu erhöhen.
In der Diskussion über die eigene Beschäftigung der Jugendlichen mit dem Thema Krieg und Frieden boten die Abgeordneten und die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre Unterstützung für den Vorschlag des Schulleiters, Peter von Campenhausen, an, Schülerprojekte zu entwickeln. Zum Beispiel könnten Anschauungstafeln für den Schulhof erarbeitet werden, die Aspekte der Geschichte des Schlachtfeldes um die Seelower Höhen thempatisieren. Die Schüler*innen regten an, sowohl historische Fakten als auch persönliche Schicksale dabei zu dokumentieren, um die leidvolle Geschichte anschaulich widerzuspiegeln, Kriege zu verurteilen und um zu mahnen.
Veranstaltungsbericht von Renate Adolph
„Die Natur hat genauso viel Recht wie der Mensch. Die Natur ermöglicht es, dass wir atmen können“, sagt ein Teilnehmer. Und die Philosophin, Valeria Buschi, benennt gleich zu Beginn des Diskussionsabends den Zusammenhang zwischen „Klimakrise – Tesla – Straussee“: „Die Ursachen all unserer Krisen sind in der kapitalistischen Wirtschaft zu sehen. Der Wachstumszwang zur Profitmaximierung widerspricht dem nachhaltigen Umgang mit der Natur. Es geht um Konkurrenz statt um Kooperation. Riesige Warenberge landen beispielsweise auf dem Müll.“
Um sich darüber auszutauschen, wie das politische und wirtschaftliche System neu gedacht werden könnte, um gegen die ökologischen Verwerfungen radikal angehen zu können, sind zahlreiche engagierte Mitglieder von Bürgerinitiativen und des Klimaausschusses der Stadt Strausberg sowie interessierte Einwohner*innen, darunter viele Jugendliche, zu dem Meinungsaustausch der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. und horte - alternatives Jugendprojekt 1260 e. V. Anfang November in Strausberg zusammengekommen.
Steffen Schorcht von der Bürgerinitiative Grünheide zeigt am Beispiel der Tesla-Gigafactory, dass einzelne Maßnahmen des sogenannten Green New Deals nur eine neue und „grüne“ Ausgestaltung des kapitalistischen Systems, aber gerade nicht nachhaltig seien. Die Klimakrise werde mit den sogenannten ökologischen Autos nur verlangsamt, aber nicht aufgehalten. Denn auch hier würden Naturressourcen ausgebeutet, die Umwelt verseucht und Treibhausgase ausgestoßen, so der Klimaaktivist.
Arbeitsplätze für Erneuerbaren Energien seien zu Zehntausenden in den zurückliegenden Jahren abgebaut worden. Tausende neue Arbeiter*innen kommen nun in Verkehrsströmen zu Tesla und beanspruchten mehr Energie. Die Produktion selbst brauche große Mengen an Elektroenergie, Erdgas und Wasser. Die Ressource Grundwasser sei aber ein großes Problem für die Region. Weitere Produktionsstätten sollen zudem in Wasserschutzgebieten entstehen. Es würden mehr Kunststoffe für die Autos benötigt. Toxisches Lithium würde in den Akkus verwendet. Recycling der Batterien sei schädlich usw. Dennoch sei die E-Mobilität besser als die herkömmlichen Verbrenner, aber keineswegs die Lösung der ökologischen Frage.
Um die Natur wieder herzustellen seien radikale Lösungen wie die Verringerung des Verbrauchs an Flächen, Energien und Ressourcen entscheidend, fügt Valeria Buschi ein.
Diskutant*innen werben für lokale Wirtschaftskreisläufe. Wasser müsse in der Region gehalten werden. Dazu könnten Kleinkläranlagen beitragen. Wasser- und Energieversorgung – generell die Daseinsvorsorge gehörten in öffentliche Hand.
In Brandenburg gäbe es seit Jahren keine Grundwasserneubildung mehr. Der sinkende Wasserstand des Straussees sei ein generelles Problem und auch in vielen anderen Seen in Brandenburg zu beobachten. Doch die Politik reagiere zu langsam und müsse mobilisiert werden.
Der 9. November ist für viele Anlass, sich an die nationalsozialistische Verfolgung von Jüdinnen und Juden zu erinnern. Auch in Senftenberg machten sich die Arbeitsgruppe STOLPERSTEINE und eine Elterninitiative der Linden-Grundschule auf den Weg, um die 21 STOLPERSTEINE zu putzen, die an neun Stellen in Senftenberg und Hörlitz an Menschen erinnern, die aus religiösen, rassistischen oder politischen Gründen während der NS-Zeit verfolgt worden sind.
Bei den Novemberpogromen handelt es sich um eine staatlich inszenierte Aktion, bei der es zu einem damals noch nicht vorstellbaren Ausbruch an Gewalt gegen Jüdinnen und Juden kam. Vielerorts wurden Fensterscheiben zerschlagen, Geschäfte geplündert, Synagogen angezündet, jüdische Friedhöfe geschändet und Wohnungen verwüstet. Vor allem aber wurden Menschen gedemütigt, misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt, ermordet oder in den Tod getrieben.
In Senftenberg zogen am Morgen des 10. November 1938 zum Teil angetrunkene SA-Männer durch die Stadt, holten die jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus ihren Wohnungen und trieben sie unter Anwendung größer Brutalität auf dem Markt zusammen. Darunter war auch der angesehene Rechtsanwalt Dr. Rudolf Reyersbach.
1897 geboren, kam er als Rechtsanwalt und Notar 1925 nach Senftenberg und eröffnete hier eine Kanzlei - in seinem Wohnhaus am heutigen Steindamm 17. Er stand der SPD nahe und verteidigte auch linksorientierte Angeklagte in Prozessen. Dies machte ihn – neben seines jüdischen Glaubens – zur Zielscheibe für Angriffe: bereits im März 1933 wurden des Nachts Fensterscheiben eingeworfen. Die NS-Gesetzgebung schränkte die Berufsausübung für Jüdinnen und Juden immer mehr ein, so dass Dr. Reyersbach schließlich sein Wohnhaus aufgeben und in eine Wohnung in die heutige Reyersbachstraße ziehen musste. Am 10. November wurde er in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz so schwer misshandelt, dass er – mit nur 41 Jahren – auf der Polizeiwache seinen Verletzungen erlag. Seine nicht-jüdische Ehefrau Martha und sein 1931 geborener Sohn Walter überlebten in Deutschland. Seine Mutter Valeska sowie die Schwestern Marianne und Henny wanderten zunächst nach Guatemala aus und lebten später in der Schweiz.
Auch Dora Singermann, Ernestine Grünzeug, Siegfried Marcus, sein Bruder Ludwig und dessen Frau Else wurden am Morgen des 10. November 1938 in aller Öffentlichkeit misshandelt und gequält – ebenso wie die 12-jährige Astid Zellner und ihre Eltern Leo Zellner und Herta Röstel. Leo Zellner wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt und seine Frau starb schließlich an den Spätfolgen der Misshandlungen, hatte sie sich während des Pogroms doch schützend vor ihren Mann geworden. An all die genannten Personen erinnern STOLPERSTEINE in Senftenberg.
Weitere Informationen sind auf der Seite der Arbeitsgruppe STOLPERSTEINE für Senftenberg zu finden: http://brandenburg.rosalux.de/stolpersteine
Am 23. November 2022 lädt die Arbeitsgruppe gemeinsam mit der Stadt Senftenberg, der Evangelischen Kirchengemeinde und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg zu einer Veranstaltung ins Rathaus ein. Ab 18 Uhr widmen sich Bürgermeister Andreas Fredrich, der Historiker Dr. Hermann Simon und die Schauspielerin Hanka Mark dem Buch von Jurij Koch „Hana – eine jüdisch-sorbische Erzählung“ und stellen die wahre Geschichte der in Horka geborenen katholischen Sorbin jüdischer Herkunft Annemarie Schierz vor.
Für den 16. August 2022 hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg mit der Frauengruppe Lisa zu einem Ausstellungsbesuch mit Führung ins Brandenburgische Landesmuseum für moderne Kunst: Dieselkraftwerk nach Cottbus/Chóśebuz eingeladen.
Ein Bericht von Gerd-Rüdiger Hoffmann
Zuerst das Leben – Willy Ronis, so heißt eine der aktuellen Ausstellungen im dkw, die die DDR der 1960er Jahre in den Augen eines französischen Fotografen widerspiegelt.
"Ich lege Wert darauf, in meinen Fotografien den Charakter der Menschen festzuhalten, ihre Gestik und Haltung zu erfassen, im Interesse des Lebens." So beschrieb der französische Fotograf Willy Ronis (1910 – 2009) sein Schaffen. In den 1960er Jahren bereiste er drei Mal die DDR, unter anderem im Rahmen einer organisierten Rundreise oder 1967 mit Auftrag der Gesellschaft Échanges franco-allemands, die DDR im Rahmen einer Bildreportage in all ihren gesellschaftlichen Aspekten zu dokumentieren.
Die Idee, die in dieser Zeit entstandenen Arbeiten von Willy Ronis in Deutschland zu zeigen, entstand tatsächlich im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Gestalt von Dr. Detlef Nakath, Cathleen Bürgelt und Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann. Die Anregung dazu kam von der deutsch-französischen Kunstwissenschaftlerin Nathalie Neumann und dem französischen Historiker Prof. Jean Mortier.
Diese Idee in die Tat umsetzen, das stand schnell fest, konnte jedoch nur die äußerst engagierte Direktorin des Brandenburgischen Landesmuseums für moderne Kunst, Ulrike Kremeier. Nach der Premiere der Ausstellung „Willy Ronis en RDA – la vie avant tout“ im Frühjahr 2021 in Versaille schaffte Ulrike Kremeier es trotz aller Probleme, dieses ambitionierte Vorhaben innerhalb kurzer Zeit zu ermöglichen und zu finanzieren.
Und so können noch bis zum 11. September 2022 die rund 120 Fotos von Willy Ronis betrachtet werden, die er während seiner DDR-Reisen in den 1960er Jahren schuf - in Cottbus/Chóśebuz so kuratiert, dass sie zum Teil auch in Dialog mit Alltagsfotografien von Willy Ronis aus Frankreich treten, ergänzt durch Archivmaterialien und Tagebuchaufzeichnungen.
Die Fotografien werden zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. In Cottbus sind sie genau am richtigen Ort. Denn nirgendwo sonst existiert eine so umfangreiche fotografische Museumssammlung mit Werken aus der DDR. Die bereits in der DDR begründeten inhaltlichen und ästhetischen Prinzipien der Autorenfotografie korrespondieren sehr deutlich mit dem Herangehen von Willy Ronis. Er gehört mit Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) und Robert Doisneau (1912 – 1994) zu den wichtigsten Vertretern der „photographie humaniste“, der „humanistischen Fotografie“. Denn bei ihm steht der Mensch im Mittelpunkt, was in berührender Weise in Cottbus deutlich zu erfahren ist.
Am 16. August 2022 hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg mit der Senftenberger Frauengruppe Lisa einen Ausstellungsbesuch organisiert. Die etwa 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren begeistert. Hier einige Meinungen nach dem Besuch:
- Karin Weitze: Der Name Willy Ronis, zugegeben, sagte mir erstmal nichts. Wenn jedoch die Senftenberger Akteure der Rosa-Luxemburg-Stiftung einladen, dann ist zu erwarten, dass ich Neues und Interessantes erfahre. Und so waren die Ausstellung und die begeisternden Ausführungen der Museumsdirektorin mehr als ein déjà vu. Die alltäglichen mit künstlerischer Meisterschaft eingefangenen „Menschen-Bilder“ im wahrsten Sinne des Wortes haben mich sehr bewegt. Dazu auch die Idee, DDR-Alltag und Alltag im „Westen“ in einem der Räume nebeneinander zu stellen. Für die gezeigten Kontexte in der Ausstellung - Konzepte, Kontaktabzüge, Notizen, Dokumente der Verbindungen zu Künstlern und Gremien - braucht man Muße. Die sollte man sich unbedingt leisten. Danke an die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ich weiß, sie musste nur einen Anstoß geben und Frau Kremeier, die Direktorin, klemmte sich energisch dahinter, die Leihgabe aus Paris zu ermöglichen. Entsprechend begeisternd war auch ihre Führung. Ich bin gleich übernächsten Tag noch einmal hin ... Ich habe erneut und besser begriffen, mit welcher Hingabe Ulrike Kremeier die außerordentliche Sammlung von Kunst der DDR, darunter exklusiv die Foto-Kunst, hütet und vermittelt. In Cottbus ist nicht alles schlecht!
- Marlies Birke: Vielen Dank an die Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Organisation dieser tollen Führung durch diese beeindruckende Ausstellung. Am berührendsten war für mich, wie Fotos aus der DDR und aus Frankreich nebeneinander gezeigt wurden. Willy Ronis hat den Alltag in der DDR in großer Detailtreue eingefangen. Als Ossi fühlte ich mich sofort in meine Kindheit und Jugend versetzt. Diese Bilder, die unser Leben widerspiegeln, sollten sich viele Menschen ansehen. Die Erläuterungen zu den Bildern rundeten den Gesamteindruck noch ab.
- Simão Mkaima: Die von der Luxemburgstiftung organisierte Ausstellungsführung mit Frau Kremeier hat mir großen Spaß bereitet. Sehr schöne und aus heutiger Sicht teilweise auch kuriose Bilder. Ich habe mich auch darüber gefreut, wie gerecht und klug die Direktorin über die DDR gesprochen hat. Das war schließlich für mich das Land, das uns in Moçambique im antikolonialen Kampf unterstützt hat
- Petra Kanter: Ich war überrascht, wie gut die Gegenüberstellung des Alltags in der DDR und in Frankreich gelungen ist. Auf den ersten Blick konnte ich nur selten sofort sagen, ob es sich um ein Motiv in Frankreich oder in der DDR handelt. Schade, dass nicht mehr ausländischen Fotografen solche Reisen erlaubt wurden.
- Brigitte Rex: Die Ausstellung tat mir gut. Sehr schöne Fotos, die bei mir Erinnerungen aus der Jugend in einem anderen Land wachriefen. Es war doch mein Land, trotz all der Mängel und Ärgernisse. Willy Ronis hat es wirklich geschafft, ein sehr gerechtes Bild der DDR der 1960er Jahre zu zeigen. Und nebenbei habe ich gelernt, dass Fotografieren eine sehr anspruchsvolle Form der Kunst sein kann. Ich hoffe, die Cottbuser wissen, welchen Schatz sie mit dem Kunstmuseum und der Direktorin Ulrike Kremeier in ihrer Stadt haben.
Wer am 16. August nicht dabei sein konnte, hat demnächst die Möglichkeit, Ulrike Kremeier und ihre kunstwissenschaftliche und kulturpolitische Position in Senftenberg während eines Gespräches mit Gerd-Rüdiger Hoffmann im Rahmen der Philosophie-Reihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung näher kennenzulernen. Der genaue Termin wird rechtzeitig hier bekanntgegeben. Wer eine Einladung erhalten möchte, kann sich per Mail melden: senftenberg@bbg-rls.de
Zur Veranstaltungseinladung ...
Zur Ausstellung im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst - Dieselkraftwerk ...
Die Beiträge der Tagung sind als Broschüre erschienen.
Jährlich feiern über 10.000 Antifaschist*innen, insbesondere viele Jugendliche, die Befreiung der KZ Mauthausen und Gusen sowie der Nebenlager. In diesem Jahr steht dabei der politische Widerstand im Zentrum. Den „roten Winkel“ trugen all jene Häftlinge, die Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet haben und in die KZs verschleppt wurden: Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen, bürgerliche Kräfte, Gewerkschafter*innen, Christ*innen, Partinsan*innen, organisiert oder einzeln, von zivilem Ungehorsam über Unterstützung von Ausgegrenzten und Verfolgten bis hin zu aktivem Kampf.
Die DGB-Jugend Berlin-Brandenburg und die Mauthausen-Initiative Potsdam im DMKO laden ein, sich mit der Geschichte des Mauthausen-Komplexes auseinanderzusetzen, den Bezügen zu Berlin und Brandenburg nachzuspüren, Schlussfolgerungen für eigenes Handeln zu ziehen und an der internationalen Befreiungsfeier im Mauthausen Memorial teilzunehmen.
Gemeinsam werden wir die Gedenkstätte für das KZ Mauthausen besuchen, das symbolhaft für die NS-Herrschaft in Österreich steht. Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 gegründet, wurde es zu einem der gefürchtetsten Lager im gesamten KZ-System. Häftlinge aus anderen Lagern wurden zur Strafverschärfung nach Mauthausen verschleppt, zumeist mit dem Vermerk „RU - Rückkehr unerwünscht“. Für die meisten Inhaftierten wurden Mauthausen und Gusen zu Todeslagern, vor allem durch die ungeschützte Schwerstarbeit in den Steinbrüchen – so beschrieben Überlebende insbesondere Gusen II als die „Hölle der Hölle“. In St. Georgen an der Gusen werden wir mit Hilfe eines Audiowegs die Spuren des Lagergeländes suchen, Schilderungen von Überlebenden und Aussagen von Tätern hören – inmitten eines Wohngebiets, das auf dem Lagergelände entstanden ist.
Wir werden uns auch mit zeitgenössischen Reaktionen der Bevölkerung in Oberösterreich auseinandersetzen: Anna Hackl wird uns als Zeitzeugin davon berichten, wie ihre Familie zwei sowjetischen Offizieren bei deren Flucht aus dem KZ Mauthausen das Leben rettete. Und andererseits können wir im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim die Eingebundenheit der Umgebung in den Mauthausen-Komplex nachvollziehen. In dieser „Euthanasie“-Anstalt wurden inmitten des Ortes Alkoven etwa 30.000 als „lebensunwert“ eingestufte Menschen ermordet – zunächst im Rahmen der „T4-Aktion“, dann als „Sonderbehandlung“ von KZ-Häftlingen. Schließlich wurde hier erprobt und perfektioniert, was als „Aktion Reinhardt“ zur systematischen Ermordung
von Jüdinnen und Juden und Sinti*ze und Rom*nja in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka führte.
Untergebracht sind wir in Altenberg bei Linz in 2- bis 5-Bett-Zimmern, mit Halbpension.
Treffpunkt
- Abfahrt: Mittwoch, 11. Mai 2022, gegen 9 Uhr
- Ankunft: Montag, 16. Mai 2022, gegen 19 Uhr
- Café hausZwei im freiLand Potsdam (Friedrich-Engels-Str. 22, 14473 Potsdam)
Teilnahmebeitrag
- eingeschlossen sind Unterkunft, Halbpension sowie die Fahrten mit dem Bus und ggf. anfallende Eintrittsgelder
- für Berliner*innen und Brandenburger*innen bis 26 Jahre ist die Teilnahme kostenfrei
- für alle anderen beträgt der Teilnahmebeitrag 100,00 Euro
Eine Anmeldung ist erforderlich:
- bis 29. April 2022
- per Mail an bettina.kuester@dgb.de oder telefonisch unter 030 212 40 310
Veranstalter:
- DGB-Jugend Berlin-Brandenburg (Alexanderstr. 1, 10178 Berlin) (Link zur Gedenkstättenfahrt auf der Homepage der DBG-Jugend Berlin-Brandenburg)
- Mauthausen-Initiative Potsdam im DMKO e.V. (c/o Sebastian Weise, hausZwei im freiLand Potsdam, Friedrich-Engels-Str. 22, 14473 Potsdam)
Am 2. März fand im Café hausZwei im freiLand eine Veranstaltung zu Clara Zetkin und dem Frauenkampftag statt. Für den Vortrag zu Zetkins Leben und Wirken war die Journalistin Lou Zucker nach Potsdam gekommen, die 2021 das Buch “Clara Zetkin: Eine rote Feministin” veröffentlicht hat.
Lou Zucker (Jg. 1991) befasst sich als Journalistin mit sozialen Ungleichheiten, Machtstrukturen und dem Widerstand dagegen. Sie hat die queerfeministische Aktionsgruppe she*claim und das Journalismus-Kollektiv collectext mitbegründet und ist im Frauenstreik-Bündnis aktiv.
Genügend Gründe also, sich mit ihr gemeinsam der Vordenkerin und Vorkämpferin Clara Zetkin (1857-1933) zu widmen - und dabei nicht nur die quellengesicherte Überlieferung zu betrachten, sondern vor allem nach Inspiration für heutige Kämpfe zu suchen. Zu nennen wären hierfür der ungeschönte Blick auf die Situation der Arbeiterinnen, die Verbindung des Kampfes für die Frauenrechte mit dem gegen jegliche Ausbeutung in patriarchalen, kapitalistischen Verhältnissen, die internationalistische Perspektive und internationale Solidarität, das engagierte Eintreten für Frieden und gegen Faschismus und für ein selbstbestimmtes Leben.
Der Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. ist der Empfehlung des Kuratoriums gefolgt und wird den Förderpreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. 2021 an Kaspar Metzkow für seine vorgelegte Masterarbeit "Ortsbeziehungen und Klasse im Kontext der Deindustri-alisierung – Zur Bedeutung des Wandels industriell geprägter Nachbarschaften für ihre langjährigen Bewohner:innen“ vergeben.
Pandemiebedingt konnte die Verleihung nicht wie gewohnt während des Neujahrsempfangs im Januar 2022 stattfinden, sondern wird nun online am 10. März 2022 vorgenommen werden. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass die prämierte Arbeit in der Veranstaltung einen größeren Raum einnehmen kann.
- Der Förderpreisträger
Kaspar Metzkow, geboren 1994 in Berlin, studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und spezialisierte sich im Studium auf Fragen des städtischen Zusammenlebens und die Beziehungen, die Menschen zu sich wandelnden Orten eingehen. Kaspar Metzkow lebt in Berlin und engagiert sich dort in der Stadt- und Wohnungspolitik.
- Die prämierte Arbeit
Deindustrialisierung bedeutet einen massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe. Wo sich Industriearbeit konzentriert, prägt dieser Prozess auch den Stadtraum. Fabrikschließungen, Wegzüge oder die Einstellung betrieblicher Kultur- und Freizeitangebote verändern Nachbarschaften und das Leben ihrer Bewohner:innen.
Die Masterarbeit von Kaspar Metzkow untersucht Ortsbeziehungen langjähriger Bewohner*innen in den von Deindustrialisierung geprägten Berliner Ortsteilen Oberschöneweide (im Osten Berlins) und Siemensstadt (im Westen Berlins). Der Autor geht zudem auf Unterschiede zwischen Klasse und Deindustrialisierungsfolgen ein.
Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Deindustrialisierung auf die Ortbeziehungen von Menschen ist nicht nur für die von Kaspar Metzkow untersuchten Berliner Bezirke, sondern auch für viele Regionen Brandenburgs von größter Relevanz. Ergänzt durch die Überlegungen zu klassenspezifischen Identitäten ist die ausgezeichnete Arbeit damit eine große Bereicherung und Inspiration für die politische Bildungsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg.
Kaspar Metzkow:
Ortsbeziehungen und Klasse im Kontext der Deindustrialisierung.
Zur Bedeutung des Wandels industriell geprägter Nachbarschaften für ihre langjährigen Bewohner:innen“
Potsdam: WeltTrends 2021
ISBN 978-3-947802-80-7
148 Seiten / 15,90 €
Die Veranstaltung leitete das Märzprogramm der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ein, in dem allein vier Veranstaltungen zugleich auch im Rahmen der 32. Brandenburgischen Frauenwoche, koordiniert vom Frauenpolitischen Rat Brandenburg, stattfinden.
Das komplette Programm und weitere Angebote sind unter dem Link zu finden: https://brandenburg.rosalux.de/aktuelle-veranstaltungen
- "Blumen - Liebe - Revolution"
Szenische Lesung zu Rosa Luxemburg und Gespräch zu den Verbindungen zu heute
mit Alrun Herbing (Schauspielerin), Oksana Weingardt (Pianistin), Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann (RLS), Birgit Lembke-Steinkopf (Beirat für Menschen mit Behinderungen Bernau) und Dr. Hildegard Bossmann (Fraktion DIE LINKE. Bernau)
8. März 2022, Bernau - "Blumen - Liebe - Revolution"
Szenische Lesung zu Rosa Luxemburg und Gespräch zu den Verbindungen zu heute
mit Alrun Herbing (Schauspielerin), Oksana Weingardt (Pianistin), Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann (RLS), Sanda Seifert (Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses, Fraktionsvorsitzende der LINKEN in der SVV) und Anja Kreisel (Sachkundige Einwohnerin im Ausschuss für Gesundheit, Gleichstellung, Soziales und Integration)
9. März 2022, Frankfurt (Oder) -
Frauenpolitik in Fürstenwalde - Wie geht es weiter?
mit aktuellem frauenpolitischem Film „WAS TUN?“
10. März 2022, Fürstenwalde/Spree
zum Bericht ...
Herzliche Einladung zur Förderpreisverleihung und anschließender Vorstellung der prämierten Arbeit
Donnerstag, 10. März 2022, 18 Uhr
online, nur live
- Verleihung des Förderpreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg 2020 durch
- Steffen Kludt (Vorsitzender der RLS Brandenburg),
- Dr. Wolfgang Girnus (Vorsitzender des Kuratoriums der RLS Brandenburg)
- Vorstellung der prämierten Arbeit und Diskussion mit
- Kaspar Metzkow (Förderpreisträger)
- Moderation: Dr. Julia Bär (Geschäftsführerin der RLS Brandenburg)
Die Veranstaltung wird ausschließlich live (ohne Aufzeichnung) über die Plattform BigBlueButton realisiert. Zur Teilnahme ist lediglich ein aktueller Browser nötig.
Direkt zum Veranstaltungsraum:
https://app.bbbserver.de/de/join/ee73a652-cbf4-4aa3-89e8-0a6cd4848a65
- Der Förderpreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e. V. schreibt für jedes Jahr einen Förderpreis aus, mit dem publizistische Arbeitsergebnisse von jüngeren Wissenschaftler*innen bzw. Autor*innen ausgezeichnet werden, die sich für die politische Bildungsarbeit der Stiftung besonders eignen und die durch eine Publikation sowie durch begleitende Veranstaltungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.
Wegen des großen Erfolges bei und nach der Potsdamer Premiere des DokFilmes „Walter Kaufmann - Welch ein Leben!“ wird es im Programmkino Thalia (Rudolf-Breitscheid-Str. 50, 14482 Potsdam) weitere Aufführungen geben:
- Donnerstag, 14. Oktober 2021, 15 Uhr
- Freitag, 15. Oktober 2021, 15.30 Uhr
- Sonntag, 17. Oktober 2021, 12.45 Uhr
- Montag, 18. Oktober 2021, 15 Uhr
- Dienstag, 19. Oktober 2021, 15 Uhr
- Mittwoch, 20. Oktober 2021, 15 Uhr
Zur Homepage des Programmkinos ...
Der Film von Karin Kaper und Dirk Szuszies entstand in ehrendem Gedenken an Walter Kaufmann, der am 15. April 2021 im Alter von 97 Jahren in Berlin gestorben ist.
Walter Kaufmann blieb bis zu seinem Tod unermüdlich kämpferisch. Er setzt mit seinem Leben ein nachwirkendes Zeichen gegen jede Form von Rechtsruck und Antisemitismus, die wieder bedrohliche Ausmaße in unserem Land angenommen haben. Der Film ist ein Appell an uns Lebende, die elementaren Menschenrechte und demokratischen Errungenschaften entschlossen zu verteidigen.
Der Film folgt den wesentlichen Lebenslinien und weltweiten Erfahrungen des Protagonisten. Als Jude erlebte Walter Kaufmann persönlich die katastrophalen Folgen des Nationalsozialismus. Als Schriftsteller und Korrespondent nahm er regen Anteil an der Bürgerrechtsbewegung in den USA, am Prozeß gegen Angela Davis, an der Revolution in Kuba, den Auswirkungen der Atombombenabwürfe in Japan, der unendlichen Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes, der Entwicklung und dem Zusammenbruch der DDR. Der Film bietet jüngeren und älteren Zuschauern eine letzte Gelegenheit, die Welt aus der Perspektive dieses einzigartigen Zeitzeugen vermittelt zu bekommen.
FSK: ab 12 Jahre / Länge: 101 Minuten / Produktion und Verleih: Karin Kaper Film Berlin
Kamera: Tobias Rahm, Dirk Szuszies und Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt
Musik: Benedikt Schiefer
Schnitt: Tobias Rahm und Dirk Szuszies
Sounddesign/Tonmischung: Marx Audio Berlin
Projektträger: Internationales Auschwitz Komitee e.V.
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, 321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V., der FFA und der Löwenstein/Losten Stiftung
Alle Infos, Trailer, Downloads: www.walterkaufmannfilm.de
Beitrag von Gerd-Rüdiger Hoffmann, erschienen in "Das Blättchen" am 27. September 2021
Grit Lemke, 1965 in Spremberg geboren, in Hoyerswerda (sorbisch Wojerecy) aufgewachsen, Dokumentarfilmerin, Autorin, Kuratorin und wichtige Stimme in der Lausitz, wenn es um die Präsentation und Förderung sorbischen Filmschaffens geht, hat am 19. September in der Kulturfabrik Hoyerswerda ihr Buch „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“ vorgestellt. Dass der große Saal der Kufa, wie in der Stadt mit der Vorliebe für Abkürzungen die Kulturfabrik nur genannt wird, bis zum letzten Platz besetzt sein wird, damit war zu rechnen. Dass zwei Lesungen an einem Tag notwendig werden, vielleicht auch noch. Dass Grit Lemke mit ihrem Buch fast wie ein Popstar gefeiert wird, wie es sich Volksvertreter vor allem in Wahlkampfzeiten wünschen würden, war für die Autorin dann wahrscheinlich doch eine Überraschung. Eine weitere Überraschung war, gestand die Autorin, dass sie in den zahlreichen Interviews gleich kurz nach Erscheinen des Buches als die Stimme von Hoyerswerda oder ähnlich wie Gundermann gleich für die gesamte Lausitz gefragt war. „Nein, das bin ich nicht“, gibt sie zu verstehen, denn „wir sind viele“ und präsentiert wie zum Beweis dafür eine szenische Lesung mit elf Beteiligten aus diesem Kollektiv.
Nach den Pogromen 1991 erlangte Hoyerswerda international traurige Berühmtheit. Neonazis proklamierten Hoyerswerda unter dem Beifall vieler Einwohner zur ersten ausländerfreien Stadt Deutschlands. Die nach 1990 Geborenen wissen nichts darüber, mussten sich damit auch nicht in der Schule beschäftigen. Eltern und Großeltern übten sich in Schweigen. Aus Scham? Oder einfach deshalb, weil sie keine Lust hatten, sich gegen die öffentliche Meinung, die oft nichts anderes als die von Spiegel oder BILD veröffentlichte Meinung ist, zu verteidigen? Grit Lemke geht anders an das Thema heran. Sie hat einen dokumentarischen Roman über Hoyerswerda aus bisher nicht dagewesener Perspektive geschrieben.
Die Lausitz – ihre Geschichte, die Landschaft, die Umbrüche durch Bergbau und Energiewirtschaft, der herbe Menschenschlag und nicht zuletzt der Konflikt zwischen gelebter und verdrängter sorbischer Tradition – hat immer wieder Stoff geboten für gute Literatur. Grit Lemke hat einen weiteren wichtigen Beitrag dazu geleistet. Ihr Buch dürfte zum Besten gehören, was in den letzten dreißig Jahren über den Osten geschrieben wurde.
Man wirft hier „nicht mit hohen Begriffen umher wie mit madigen Pflaumen“, heißt es bei Strittmatter. Der Satz könnte auch von Grit Lemke sein. Für meinen Schwiegervater Helmut, Jahrgang 1923, Wehrmachtssoldat und nach dem Krieg als Schlosser bis zum Lebensende mit heute für die Generation nach 1990 kaum verständlichem Stolz als Arbeiter ausgestattet, war Strittmatter einer „von uns“. „Die da sollen aufhören, dämliches Zeug über ihn zu quatschen.“ Gemeint war damit, „die Wessis verstehen uns nicht, müssen die auch nicht“. Für Helmut wäre Grit Lemke mit ihrem Buch wegen des Themas, ihrer Sprache und des wohlvertrauten Ortes eine von uns. Literatur in der Tradition des Bitterfelder Wegs also?
Ein energisches Nein und ein „um Gottes Willen“ wären verständlich, aber zu kurz gedacht. Denn zu erklären ist erstens, damit das heute verstanden wird, dass in den Hochhäusern von Hoyerswerda Ärzte, Maschinisten, Ingenieure, Krankenschwestern, Künstlerinnen und Philosophen, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Lehrerinnen, Direktoren, zur Bewährung entlassene ehemalige Strafgefangene und lokale Parteigrößen Tür an Tür wohnten. Zum Abitur strebende Kinder waren nicht separiert von jenen, die „normale“ Berufe anstrebten. Das „Behütet-Sein“, sagt Schudi im Roman von Grit Lemke, ging viel weiter als dieses „Helikopter-Ding“ von heute, „… mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen.“ Schließlich noch die Kittelschürzen: „Eine Kittelschürze ist alle Kittelschürzen. Hat man etwas ausgefressen, geht man besser jeder aus dem Weg. Hat man ein aufgeschlagenes Knie oder eine Rotznase, kann man sich an jede wenden.“
Zweitens muss der damalige Stellenwert von Kunst und Kultur in den heute als öde Kulisse in 20.15-Uhr-Kriminalfilmen stigmatisierten Plattenbauten betont werden. Röhli sagt im Roman: „Das war ja’n ganz komisches Ding in Hoyerswerda: Es gehörte zum guten Ton, eine tragbare kulturelle Bildung zu haben. Es gab … in jeder Wohnung bei uns im Haus, egal ob die Leute Schichtarbeiter waren oder Doktoren, das Bücherregal. Also ich kenn keene Wohnung ohne. Das musste man haben. Und man hat sich alles reingezogen, was da so rumstand.“
Spätestens hier muss etwas über die Sprache gesagt werden. Nicht nur, wenn Grit Lemke Leute aus Hoy, wie sie Hoyerswerda nennt, zitiert, lesen wir von der Koofhalle für Kaufhalle, ooch für auch, meenste für meinst du, zwee für zwei, keene für keine, ni für nicht, angescheuselt für schick angezogen usw. Und dann diese für Fremde schrecklichen, aber geradezu liebevoll gemeinten, Abkürzungen wie WK und GD für Wohnkomplex und Generaldirektor oder seltsame Worte wie Zwischenbelegung, große und kleine Hausordnung, nullte Stunde, rollende Woche, erste, zweete und dritte Schicht sowie die wahre Bedeutung von Ordnung Sicherheit Disziplin. Dazu kommen noch sorbische Wörter oder wenigstens das, was von ihnen im „Hoyerswerdschen Dialekt“ übrigblieb. Grit Lemke schildert starke Typen in ihrem dokumentarischen Roman und muss einfach ihre authentische Sprache präsentieren und damit auch ihr eigenes im Alltag benutztes Reden salonfähig machen. Sie trifft den Ton der Kinder von Hoy und ihrer Eltern. Oder nein, das ist eine zu schwache Aussage. Sie trifft den Sound einer Region und ihres Menschenschlags.
Figuren und Konflikte sind in einer Art zu Kunst verdichtet, die den besonderen Reiz dieses eigenwilligen Buches ausmacht. Das ist für einen dokumentarischen Roman mit eingebauten Interviews und Berichten über tatsächlich Geschehenes nichts Selbstverständliches. Man merkt, dass Grit Lemke vom Dokumentarfilm kommt. Der Roman folgt einer bis ins Letzte durchdachten Dramaturgie. Da ist Rhythmus in der Erzählweise, der das Buch zu einer runden und sehr gut lesbaren Geschichte macht. Der pädagogische Zeigefinger fehlt komplett, auch wenn die Sprache auf die rassistischen Ausschreitungen von 1991 kommt. Grit Lemke geht es nie darum, einen Beitrag zum Verständnis oder zur Rechtfertigung dessen zu leisten, was da geschehen war. Sie folgt auch nicht der momentanen Mode, in gerader Linie die Ursachen im Wesen der DDR zu suchen oder andersherum jeden Zusammenhang zur Stadtgesellschaft oder dem untergegangenen realen Sozialismus zu leugnen.
Sie schildert genau, aber eben von innen heraus, aus der Sicht einer Hoyerswerdschen und kritischen und gleichzeitig bekennenden ehemaligen DDR-Bürgerin, wie die Menschen hier „im ewigen Takt der Schichtbusse, der ein Ende nicht vorsieht“ lebten, wie sie als Erbauer von Schwarze Pumpe und der sozialistischen Planstadt Hoyerswerda vom Gedanken beseelt waren, dass mit ihnen die Geschichte erst beginnt, alles Zukunft war. Lange Zeit waren sich die Leute sicher, dass da noch etwas kommt. Nichts ist vorbei, es geht erst richtig los. Später dann wird klar: „Die Zukunft rückt immer weiter in die Ferne – obwohl sie doch näher kommen müsste.“ Noch später, nach 1989, ist die Zukunft „in einem großen Loch verschwunden“.
Die rassistischen Ausschreitungen tun ein Übriges. Grit Lemke beschreibt nicht einfach einen Vorgang vom Standpunkt des Zuschauers. Sie ist Teil des großen Kollektivs, aus dem das kam, und interessiert sich eben nicht bloß für eine Sache, sondern für die Schicksale von Menschen und erzählt sie uns. Wir lesen bei Grit Lemke: „Später, als Brandsätze in die Wohnheime der Ausländer fliegen und eine Menge sich vor ihnen versammeln und dazu jubeln wird, später wird es heißen, die Gewalt sei aus dem Nichts und von außen gekommen. Das wissen wir nun wirklich besser.“ Aber eine lehrbuchreine Erklärung wird es nicht geben. Grit Lemke bemüht sich auch gar nicht darum.
Mutig ist Lemkes Buch, weil ein Kollektiv der Hauptheld der Geschichte ist. „Kollektiv“ kann dann natürlich nicht in der heute üblichen abwertenden Bedeutung gemeint sein. Grit Lemke schafft es, eine Geschichte sehr unterschiedlicher Typen differenziert und genau zu erzählen. Sie gehen eben nicht in ein kollektives Einerlei auf, sondern werden erst in diesem Kontext zu interessanten Persönlichkeiten. Sie und viele der Leserinnen und Leser bekommen es mit der Frage zu tun, ob über das utopische Potential dieser Zeit überhaupt noch zu sprechen ist. Ich kann mir vorstellen, dass Grit Lemkes Buch bei neugierigen jungen Menschen, die die manchmal doch etwas verklärten Jugenderinnerungen ihrer Großeltern nicht mehr hören können, auf Interesse stößt. Und die Großeltern? Sie werden vielleicht ermuntert, sich anders zu erinnern, kritischer und dennoch nicht dem Druck ausgesetzt, sich einzusortieren als Opfer, Mitläufer oder Täter.
Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror, Suhrkamp 2021, 255 Seiten, 16,00 Euro
„Ich habe verdammt Lust, glücklich zu sein“ schrieb Rosa Luxemburg 1898 an ihren politischen Mitstreiter und Geliebten Leo Jogiches. Dieses Zitat spricht für Rosa Luxemburgs unbändigen Gestaltungswillen und die Überzeugung, dass weder die gesellschaftlichen Verhältnisse noch das persönliche Glück dem Schicksal überlassen werden sollten. Und so wurde dieser Ausspruch zum Motto einer Festveranstaltung, mit der die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ihr 30-jähriges Bestehen und den 150. Geburtstag ihrer Namensgeberin im Spartacus auf dem freiLand-Gelände feierte.
Unser Bildungsprogramm für Ende September und Anfang Oktober 2021 als
»Eine Ballerina muss immer zu den Sternen aufschauen, auch wenn sie diese nicht sehen kann.«
Mit diesem Zitat von Fernanda Bianchini laden wir herzlich ein zum bezauberndem DokFilm "Looking at the stars" über die erste und weltweit einzige Ballettschule für blinde Tänzer*innen, gegründet von Bianchini in Sao Paulo.
- Donnerstag, 23. September 2021, 18 Uhr
- Filmtheater UNION Fürstenwalde/Spree (Berliner Str. 10, 15517 Fürstenwalde/Spree)
Mit diesem Film geht unsere Film- und Gesprächsreihe "Handicap - Leben mit Behinderung" in Zusammenarbeit mit dem Filmtheater Union Fürstenwalde in die nächste Runde.
„Looking at the Stars“ (Olhando para as Estrelas)
Blinde Ballerinen machen das Unmögliche möglich
Regie: Alexandre Peralta, Brasilien 2016, 89 min, FSK 0, Darsteller: Geyza Pereira, Thalia Macedo, Fernanda C. Bianchini Saad, Cesar Albuquerque, Sandra Macedo
Mitten im brasilianischen São Paulo liegt die Ballettschule „Associação Fernanda Bianchini“. Die jungen Frauen und Männer, die hier den klassischen Tanz lernen, sind genauso entschlossen, diszipliniert und voller Hoffnung, wie alle jungen Tänzer. Und sie sind blind. Die weltweit erste und einzige Ballettschule für Blinde baut statt auf Blut, Schweiß und Tränen, auf Berührungen, Gehörsinn und vor allem: Mut. Für Fernanda Bianchinis Tänzer ist die Schule ein sicherer Hafen und die Bühne ein Ort, an dem sie frei und unabhängig sein können. Geyza erblindete mit neun Jahren und ist heute Primaballerina und Ballettlehrerin an Fernandas Schule. Wenn sie tanzt, sieht ihr niemand an, wie unsicher sie sich oft in ihrem Alltag fühlt. Nach ihrem lang ersehnten Hochzeitstag hofft sie, ihr Privatleben mit ihrer Ballettkarriere vereinen zu können. Und die 14-jährige Thalia, die in der Schule oft gemobbt und gemieden wird, ertanzt sich ihre Unabhängigkeit – und hat dabei endlich echte Freunde gefunden.
Die weltweit einzige Ballettschule für blinde Menschen macht das Unmögliche möglich. Hier, im brasilianischen São Paulo, unterrichtet Fernanda Bianchini klassischen Tanz durch bloße Berührung. Dem unvergleichbaren Inklusionsprojekt für Kinder und Erwachsene setzt Alexandre Peralta ein bewegendes filmisches Denkmal. Sein bezaubernder Dokumentarfilm „Looking at the Stars“ ermutigt, nach den Sternen zu greifen, egal welche gesellschaftlichen Widerstände es gibt.
Zu den pandemiebedingten Auflagen im Filmtheater Union:
In einer Gesprächsrunde über Rosa Luxemburg und linke politische Bildung erinnerte sich der erste Vorsitzende des Vereins (1991-1996), Dieter Wollenberg, an den damaligen Wunsch, die Deutung der DDR-Geschichte selbst mitgestalten und die Idee eines demokratischen Sozialismus bewahren zu wollen. Dagmar Enkelmann, Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, betonte, dass die parteinahe Stiftung ein Forum für Debatten seien könne, die in der Partei kontrovers geführt oder Tabu-behaftet verdrängt werden. Die Bedeutung der politischen Bildung in den metropolfernen Regionen wurde in dem Beitrag von Gerd-Rüdiger Hoffmann deutlich, der bereits zur Zeit der Gründung des Vereins die politische Bildungsarbeit in der Lausitz gestaltete. Der jetzige Vorsitzende, Steffen Kludt, berichtete von seiner damaligen Motivation, als er 2006 während seines Geschichtsstudium zur RLS Brandenburg fand. Durch seinen Gestaltungsdrang in der Politischen Bildung fand er letztlich auch den Weg zum Engagement in der Partei DIE LINKE. Achim Trautvetter, Geschäftsführer der Trägergesellschaft des freiLand, schlug schließlich noch eine Brücke zwischen den Generationen, indem er auf die Geschichte des Spartacus-Clubs einging, der seine Anfänge als Arbeiterjugendclub in den frühen 80er Jahren in der DDR hatte und später im freiLand ein neues Zuhause gefunden hatte. Außerdem betonte er mit Bezug auf das Motto der Gesprächsrunde, wie wichtig der Spagat zwischen „Hedonismus und politischer Kultur“ sei, denn viele junge Menschen politisieren sich erst durch die gemeinsame Gestaltung von Freiräumen, die man ihnen bietet. Gemeinsame Selbstorganisation als Prozess politischer Bildung zu begreifen, wäre sicher ganz im Sinne Rosa Luxemburgs.
In der szenisch-musikalischen Lesung „Blumen-Liebe-Revolution“ verkörperte die Schauspielerin Alrun Herbig – begleitet von Oksana Weingart am Klavier – den Facettenreichtum der Persönlichkeit von Rosa Luxemburg. Die Aktualität Rosa Luxemburgs für aktuelle politische Debatten drängte sich regelrecht auf: wenn sie in ihrer Rede an die Genossen feststellt, dass „die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg wie eine Seifenblase zerplatzt“, oder wenn sie fordert, dass es „nicht genüge, einen Stimmzettel abzugeben“, sondern „die Schwerkraft der sozialdemokratischen Politik in die Massen verlegt werden“ müsse. Auch die romantisch-verliebte Rosa Luxemburg und die begeisterte Botanikerin kamen zu Wort. So bot sich ein differenziertes Bild dieser interessanten Persönlichkeit.
Die Veranstaltung zeigte, dass Rosa Luxemburg viele Anknüpfungspunkte für aktuelle politische Auseinandersetzungen bietet, dass diese Auseinandersetzungen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung ihren Platz haben und dass wir dabei, das Streben nach Glück nicht aus dem Auge verlieren sollten. Denn schließlich hat jede*r das gleiche Recht, glücklich zu sein – egal, wo auf dieser Welt.
Am 18. September 2021 verstarb der Maler Ronald Paris zu Hause in Rangsdorf.
Paris war ein gefragter, kluger und inspirierender Gesprächspartner auch bei Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, so z.B. im Januar 2018 im völlig überfüllten Raum in der Geschäftsstelle der RLS in der Dortustraße, als es um die Ausstellung "Hinter der Maske" im Barbarini in Potsdam ging, oder zuletzt im Dezember 2019 im Güldenen Arm, als wir die "Kulturgeschichte der DDR" von Gerd Dietrich diskutierten.
Dr. Gerlinde Förster, selbst eine Zeitlang Mitglied im Kuratorium der RLS Brandenburg, hat als Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und Freundin von Ronald Paris einen Nachruf verfasst, der heute in der Zeitung "neues deutschland" erschienen ist und den wir hier dokumentieren.
Um die Würde des Menschen ging es ihm
Zum Tod des Malers Ronald Paris
von Gerlinde Förster
erschienen am 20. September 2021 in der Zeitung "neues deutschland", S. 13
Ronald Paris gehörte zu den herausragenden deutschen Malern und Grafikern seiner Generation. Am 17. September ist er in seinem Haus in Rangsdorf (Brandenburg) im Alter von 88 Jahren verstorben.
Die Werke des 1933 im thüringischen Sondershausen geborenen Sohnes eines Theaterschauspielers und einer Weißnäherin befinden sich in so bedeutenden Sammlungen, öffentlichen Gebäuden und Museen wie der Eremitage in St. Petersburg, der Berliner Nationalgalerie, im Dresdner Albertinum, im Gewandhaus und im Museum der Bildenden Künste in Leipzig, in der Kunsthalle Rostock sowie in den Uckermärkischen Bühnen Schwedt. Mehrfach wurde er ausgezeichnet, zuletzt für sein Lebenswerk mit dem Ehrenpreis des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg.
Mit seinen großen Epochenbildern für den Palast der Republik oder für das Haus der Statistik am Berliner Alexanderplatz, eindrucksvollen Porträts (z.B. Schauspielerin Inge Keller, Liedermacher Wolf Biermann, Sänger Ernst Busch, Komponist Hanns Eisler oder Regisseur und Schriftsteller Heiner Müller), expressiv realistischen Landschaften in kraftvoller Farbigkeit hat sein Schaffen in unzähligen Ausstellungen, zuletzt im Schloss Biesdorf in Berlin und aktuell an der Ostsee in der Kunstscheune Barnstorf in Wustrow im Bildgedächtnis vieler Menschen einen unverrückbaren Platz gefunden.
Seine künstlerische Haltung war Zeit seines Lebens geprägt von Einmischung. Im DDR-Künstlerverband setzte er sich argumentationsstark für die Interessen anderer Künstler*innen wie für die Vielfalt künstlerischer Handschriften ein. Auch unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen bezog er kritisch Position. Prägnantes Beispiel dafür sind seine Bilder zur Flüchtlingsdramatik im Mittelmeer.
In gestalterischer Dichte, der ihm eigenen Leidenschaft für Farbe, Form und Figur forderte er den Dialog heraus. In seinem über sieben Jahrzehnte gewachsenen Werk ging es ihm um Grundthemen und Grunderfahrungen, die der Mensch zu allen Zeiten macht. So spiegeln die Gemälde und Zeichnungen, Grafiken und Collagen, die baugebundenen Arbeiten menschliches Leben als Handeln zwischen Verführung, Glücksverheißung, Liebe und Leid wider. Paris brauchte die menschliche Gestalt, das Erlebnis europäischer wie außereuropäischer Landschaftsräume und die damit verbundene Geschichte, um den Menschen vom Wesen her in seinem natürlichen wie sozialen Bedingungsgefüge zu begreifen, hinter die Gründe und Abgründe seines Tuns zu kommen. Um die Würde des Menschen ging es ihm.
Diese mit den Mitteln seiner Kunst zu verteidigten, war Antrieb für das Entstehen seiner Bildwelt. Von prägendem Einfluss in dieser Hinsicht waren während seines Studiums der Wandmalerei von 1953 bis 1958 an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee Künstlerpersönlichkeiten wie Gabriele Mucchi, Arno Mohr, Bert Heller und Kurt Robbel und später während seiner Zeit als Meisterschüler an der Akademie der Künste Otto Nagel.
Ronald Paris verstand sich mit seiner Kunst als Realist. In den Jahren seiner Professur an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein in Halle von 1993 bis 1999 suchte er seinen Student*
innen diese Überzeugung als künstlerische Grundhaltung zu vermitteln. Selbst sah er sich, wie er immer betonte, »in der Reihe derjenigen, die weniger einen Stil suchen, als vielmehr unterwegs und auf der Suche sind, lebendig und offen auch für jenes, was unbewusst im Arbeitsvorgang entstehen kann«. So gab es für ihn keine Kunst ohne Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Neugier war die Quelle seiner Inspiration und Offenheit das Maß für Glaubwürdigkeit.
Wir laden herzlich ein zu einer Stadtführung zu Wohn-, Wirkungs- und Gedenkorten von Rosa Luxemburg in Berlin-Friedenau, die uns Claudia von Gélieu (Frauentouren Berlin) vorstellen wird.
Sie hat während ihrer Recherchen zu ihrem neuen Buch “Rosa Luxemburg in Berlin” viel Neues über die Zeit der berühmten Sozialistin in Berlin-Friedenau (1899-1911) erfahren können: wo sie als Rednerin auftrat, warum sie jeden Tag zum Friedenauer Postamt eilte, wohin sie ihre Dienstmädchen schickte… Und selbstverständlich geht es auch um Reform und Revolution, Massenstreik und Krieg.
Die Stadtführung am 14. August 2021 wird in ca. zwei Stunden zu Fuß absolviert. Treffpunkt ist um 16 Uhr am S-Bahnhof Friedenau (unten in der Durchgangshalle).
Aufgrund beschränkter Platzkapazitäten bitten wir um eine Anmeldung. Ein paar wenige Plätze sind aktuell noch frei.
- per Mail an c.buergelt[at]bbg-rls.de oder
- per Telefon unter 0172 393 19 15
Die Kolleg*innen der Hellen Panke - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin haben Andrej Holm befragt, was genau das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel bedeutet, welche Konsequenzen daraus folgen und was jetzt zu tun ist.
Erschienen ist das Video in der Reihe 3x3 - 3 Fragen, 3 Antworten in je 3 Minuten:
Der Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. ist der Empfehlung des Kuratoriums gefolgt und wird den Förderpreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. 2020 an Lukas Warning für seine an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Bernkastel-Kues vorgelegte Masterarbeit "Förderung demokratischer Unternehmen als Instrument transformativer kommunaler Wirtschaftspolitik" vergeben.
Pandemiebedingt konnte die Verleihung nicht wie gewohnt während des Neujahrsempfangs im Januar 2021 stattfinden, sondern wird nun online am 12. Mai 2021 vorgenommen werden. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass die prämierte Arbeit in der Veranstaltung einen größeren Raum einnehmen kann.
- Der Förderpreisträger
Lukas Warning, Jg. 1991, studierte Politische Philosophie, Nachhaltigkeit und Ökonomie in Maastrich, Toulouse und an der Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues.
Er ist Mitbegründer des Think Tanks communia - Zentrum demokratische Wirtschaft, war Koordinator des Aktionsbündnisses Wachstumswende und als Bildungsreferent für Klimagerechtigkeit tätig.
- Die prämierte Arbeit
In seiner wissenschaftlich fundierten und zugleich praxisorientierten Arbeit widmet sich Lukas Warning der Frage, wie im Bestehenden und konkret vor Ort bereits heute qualitative Veränderungen bewirkt werden können, die über den Kapitalismus hinausweisen, und wie eine kommunale Wirtschaftspolitik auszusehen hätte, die die großen Gegenwartskrisen (Klimakrise, Gerechtigkeitskrise, Krise der repräsentativen Demokratie) zu bewältigen hilft.
Dazu lotet er Handlungsspielräume kommunaler Wirtschaftspolitik aus, entwickelt das Konzept einer "Transformativen kommunalen Wirtschaftspolitik" und dekliniert es bis in die instrumentelle Ebene durch.
Ausgangspunkt für die Masterarbeit ist die Feststellung, dass die konventionelle kommunale Wirtschaftsförderung de facto eine Unternehmens- und Infrastrukturförderung ist, gefangen in der Vorstellungswelt von Wachstum, Standortwettbewerb und Umwerbung multinationaler Konzerne. Damit hat sie die im kapitalistischen Wirtschaftssystem angelegte multiple Krise eher verschäft, als dass sie hinsichtlich der sozial-ökologischen Veränderung, extremer Ungleichheit oder der Frage der Beteiligung an Entscheidungsprozessen zukunftsweisende Antworten gegeben hätte.
Der Autor schlägt stattdessen vor, demokratisch zu verhandelnde Ziele wie Gute Arbeit, gerechte Verteilung, Halten des Wohlstand vor Ort oder Klimaschutz in den Fokus kommunaler Wirtschaftspolitik zu rücken und entwickelt als eine konkrete Maßnahme transformativer kommunaler Wirtschaftspolitik ein dreiteiliges Förderprogramm zur Stärkung transformativer demokratischer Unternehmen.
Die Arbeit verortet sich in der Tradition der kritischen Transformationsforschung und der Bewegung des Neuen Munizipalismus und möchte ermutigen, kommunale Wirtschaftspolitik mutig neu zu denken.
Und in der Tat liegt mit diesem anregenden Konzept eine echte Alternative gegenüber den vorherrschenden neoliberalen Konzepten konservativen kapitalistischen Wirtschaftens vor, das zu diskutieren der Förderpreis und die damit verbundene Publikation hoffentlich breit befördern wird.
Lukas Warning:
Aufbruch in eine demokratische Wirtschaft.
Wie Kommunen transformative Unternehmen stärken können
Potsdam: WeltTrends Verlag 2021
ISBN 978-3-947802-76-0
86 Seiten / 15,90 €
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Herzliche Einladung zur Förderpreisverleihung und anschließender Vorstellung der prämierten Arbeit
Mittwoch, 12. Mai 2021, 19 Uhr
online, nur live
- Verleihung des Förderpreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg 2020 durch
- Steffen Kludt (Vorsitzender der RLS Brandenburg),
- Dr. Wolfgang Girnus (Vorsitzender des Kuratoriums der RLS Brandenburg) und
- Dr. Julia Bär (Geschäftsführerin der RLS Brandenburg), anschließend
- Vorstellung der prämierten Arbeit und Diskussion mit
- Lukas Warning (Förderpreisträger)
- Moderation: Cathleen Bürgelt (RLS Brandenburg)
Die Veranstaltung wird ausschließlich live (ohne Aufzeichnung) über die Plattform BigBlueButton realisiert. Zur Teilnahme ist lediglich ein aktueller Browser nötig.
Direkt zum Veranstaltungsraum: https://rosalux.applikations-server.de/b/rls-aai-bwb-ewu
Wir bitten darum, den Raum nach Möglichkeit ca. 5 Minuten vor Beginn der Veranstaltung zu betreten. Bei technischen Fragen sind wir gern behilflich.
- Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gentrification und Wohnungspolitik. Er engagiert sich darüber hinaus in Berlin aktiv für das Recht auf Wohnen und ist in zahlreichen stadtpolitischen Initiativen aktiv.
Mit der heutigen Entscheidung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichtes haben die Richter*innen in Karlsruhe eine landesrechtliche Mietpreisbegrenzung in Berlin für unzulässig erklärt. Sie verneinen insbesondere die landesrechtliche Zuständigkeit für die Regulierung der Mieten und erteilen damit dem Versuch eines zumindest zeitweiligen Stopps von Mieterhöhungen in Berlin eine Abfuhr.
Geklagt hatten mit einer sogenannten Normenkontrollklage 284 Bundestagsabgeordnete aus den Fraktionen von CDU/CSU und der FDP. Die Richter in Karlsruhe mussten also vor allem entscheiden, ob Berlin die verfassungsrechtlichen Kompetenzen hat, einen Mietendeckel zu beschließen. Das Urteil vom 15.4.2021 ist keine Entscheidung darüber, ob ein Mietendeckel grundsätzlich zulässig ist.
Die Richterinnen und Richter sind zu dem einstimmigen Schluss gekommen, dass eine Mietpreisfestsetzung im Sinne des Mietendeckels nicht in die Regelungskompetenz eines Landes gehört und bereits auf Bundesebene «abschließend geregelt» sei. Die Berliner Landesregierung war beim Beschluss des Mietdeckels aber genau davon ausgegangen, weil mit der Föderalismusreform von 2006 der sogenannte «Kompetenztitel Wohnungswesen» in die Zuständigkeit der Länder gegeben wurde.
In ihrem Urteil gehen die Richter in Karlsruhe einen komplizierten Argumentationsweg: Zwar sei das Wohnungswesen in die Kompetenz der Länder gegeben worden, aber nach Auffassung der Richter ohne eine Zuständigkeit für die Regulierung der «ungebundenen Wohnungen». Zwar hätte früher auch die Mietpreisregulierung für diese privat vermieteten Wohnungen zum Bereich des Wohnungswesens gezählt – aber zum Zeitpunkt der Föderalismusreform eben nicht mehr. Seit wann und durch welche Gesetze und vor allem warum die Regulierung von ungebundenen Wohnraum nicht mehr zum Wohnungswesen gehört, erklären die Richter*innen nicht.
Unabhängig von der schwer nachvollziehbaren Begründung, steht jedoch fest, dass das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel in Berlin für ungültig erklärt hat.
Welche Auswirkungen wird das für Berlins Mieterinnen und Mieter haben?
Für viele Mieter*innen ist das Urteil aus Karlsruhe eine dramatische Nachricht, denn mit der Entscheidung werden die wohnungspolitischen Uhren wieder zurück zu regelmäßigen Mietsteigerungen, überhöhten Neuvertragsmieten und einer steigenden Verdrängungsgefahr gedreht.
Der im Mietendeckel festgelegte Mietenstopp wurde aufgehoben und Mietsteigerungen können jetzt auch in laufenden Verträgen wieder verlangt werden. Es gelten aber nach wie vor die Beschränkungen des BGB, die eine Steigerung an die ortsübliche Vergleichsmiete bindet und in Berlin auf maximal 15 Prozent in drei Jahren beschränkt.
Neue Mietvertragsabschlüsse müssen sich aber nicht mehr an der Tabellenmiete des Mietendeckels orientieren, sondern können frei vereinbart werden. Einzige Beschränkung bietet hier nun die sogenannte Mietpreisbremse, die die Neuvermietungsmieten bei 10 Prozent über den Vergleichsmieten kappt. In der Vergangenheit wurde die Mietpreisbremse oft umgangen und Neuvermietungsmieten waren teilweise doppelt so hoch wie die zeitweise geltenden Mietendeckelmieten.
Aufgehoben wurden mit der Entscheidung in Karlsruhe auch alle Absenkungen von zu hohen Mietpreisen, so dass Vermieter*innen jetzt auch rückwirkende Nachforderungen in Zahlung stellen können. Da es sich zum Teil um erhebliche Beträge handelt, sind hier massive Mietrückstände und auch Kündigungsklagen zu befürchten.
Was heißt das nun für die Zukunft?
Es braucht jetzt zum einen den kurzfristigen Schutz für die Mieter*innen, die mit Nachzahlungsforderungen konfrontiert werden. Denkbar ist hier zum Beispiel ein Notfallfonds um die Nachzahlungsforderungen für Haushalte mit normalen und geringen Einkommen zu übernehmen. Ohne eine solche Unterstützung drohen Zwangsräumungen und eine Schuldenfalle für viele Mieter*innen in Berlin.
Zweitens sollte die rot-rot-grüne Koalition den Mietendeckel dort gesetzlich verankern, wo sie die uneingeschränkte Zuständigkeit hat: Bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen. Der Senat kann jetzt zeigen, dass der gemeinsame Beschluss für den Mietendeckel (MietenWoG) ernst gemeint war: Die anstehende Novelle des Wohnraumversorgungsgesetzes (WoVG) bietet die kurzfristige Chance, das bisherige MietenWoG ins WoVG zu integrieren, damit sich wenigstens die landeseigenen Wohnungsunternehmen mit 330.000 Wohnungen auch künftig an den Mietendeckel halten müssen.
Drittens sollte nun ein Bundesgesetz für einen Mietenstopp gefordert werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verortet die Zuständigkeit zur Regulierung von Mieten beim Bund – dann muss dort jetzt gehandelt werden. Auch die Berliner Landesregierung soll sich für ein bundesweites Mietenstoppgesetz einsetzen. Schon jetzt gibt es die «Kampagne Mietenstopp!» (unter anderem mit dem DGB, Paritätischer Wohlfahrtsverband, DMB und vielen weiteren Initiativen), die ein solches Gesetz fordert.
Schließlich wird mit dem heutigen Urteil das Anliegen der Initiative «Deutsche Wohnen & Co Enteignen» noch dringlicher. Die Entscheidung in Karlsruhe zeigt erneut, wie schwer es ist, mit gesetzlichen Regeln bezahlbare Mieten durchzusetzen. Aus fast allen Großstädten wissen wir: Private Gewinninteressen und günstige Mieten schließen sich aus. Wenn rechtliche Maßnahmen nicht greifen dürfen, bleibt logischerweise nur der Ausbau von nicht gewinnorientierten Wohnungsbeständen, um den Mietenwahnsinn aufzuhalten. Für viele Mieter*innen wird nun die «Enteignung zum Zwecke der Sozialisierung» die nächstliegende Lösung sein. Die Kampagne «Deutsche Wohnen und Co Enteignen!» wird sich über mehr Zulauf freuen können.
Mehr zum Thema im Dossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung "Wohnen. Stadt. Gesellschaft"
Online-Buchvorstellung mit Gespräch
mit der Autorin Anja Röhl
Donnerstag, 18. März 2021, 19 Uhr
online, nur live
Das Elend der Verschickungskinder
Kindererholungsheime als Orte der Gewalt
Ende Januar 2021 ist das Buch "Das Elend der Verschickungskinder" von Anja Röhl im Psychosozial-Verlag erschienen. Anja Röhl, die seit einigen Jahren ehrenamtlich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde/Spree aktiv ist, legt damit eine erste wissenschaftliche Skizze zum Thema der Gewalt in Kindererholungsheimen vor - basierend auf den erschütternden Erfahrungsberichten, die sie in der "Initiative Verschickungskinder" zusammengetragen hat. Ausgangspunkt dafür war ihre eigene Betroffenheit, die sie zunächst literarisch und dann journalistisch verarbeitet hat. Die vielen Zuschriften, die sie daraufhin erhielt, führten schließlich dazu, dass dieses bisher nahezu unbearbeitete Thema kollektiver Traumatisierung endlich eine Öffentlichkeit erfährt und wissenschaftlich bearbeitet werden kann.
- Anja Röhl:
Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt
Gießen: Psychosozial-Verlag 2021
305 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8379-3053-5
Auf der Verlagsseite sind auch ein Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe zu finden.
Zwischen den 1950er und 1990er Jahren wurden in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren auf kinderärztliches Anraten und auf Kosten der Krankenkassen ohne Eltern zur "Erholung" verschickt. Während der meist sechswöchigen Aufenthalte an der See, im Mittelgebirgsraum oder im Hochgebirge sollten die Kinder "aufgepäppelt" werden. Tatsächlich erlebten sie dort jedoch oft Unfassbares: Die institutionelle Gewalt, die sich hinter verschlossenen Türen ereignete, reichte von Demütigungen über physische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch. Betroffene leiden noch heute an den Folgen der erlittenen Traumata.
Anja Röhl gibt den Verschickungskindern eine Stimme und möchte die Träger ehemaliger Verschickungsheime in die Verantwortung nehmen. Sie zeigt, welches System hinter den Kinderkuren stand, und geht möglichen Ursachen für die dort herrschende Gewalt nach. Das Buch ist ein erster großer Schritt zur Aufarbeitung eines bisher unerforschten Bereichs westdeutscher Nachkriegsgeschichte und zur Anerkennung des Leids Betroffener.
Weitere Informationen gibt es auch auf der Internetseite von Anja Röhl bzw. bei der "Initiative Verschickungskinder".
Online-Buchvorstellung mit Gespräch
mit der Autorin Anja Röhl
Donnerstag, 18. März 2021, 19 Uhr
online, nur live
Das Elend der Verschickungskinder
Kindererholungsheime als Orte der Gewalt
„Anscheinend sehe ich aus wie ein Mensch, der die Pflicht hat, ein großes Werk zu schreiben."
Rosa Luxemburg
Ein Geburtstagsgruß aus Zamość zum 5. März 2021
von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der RLS in Warschau, Übersetzer und Herausgeber der polnischen Schriften von Rosa Luxemburg)
Rosas Wiege wurde notariell bestätigt, auch ist bekannt, wo sie gestanden hat. Selbst wenn sich weder in Zamość noch anderswo ein Dokument finden lässt, das das exakte Geburtsdatum verriete, gibt es so wenigstens den festen Anhaltspunkt, der von der Ankunft des neuen Erdenbürgers zeugt. Die Stadtarchivarin Ewa Lorentz stieß vor einigen Jahren auf einen merkwürdigen Kaufvertrag, mit dem Edward Luxenburg im März 1871 den gesamten Hausstand der Familie an die Ehefrau Lina, geborene Löwenstein, veräußerte. Darin aufgelistet war auch eine Wiege aus Fichtenholz, rot angemalt und auf 50 Kopeken taxiert.
Die nun siebenköpfige Familie bewohnte zu jener Zeit im Parterre zwei nicht allzu geräumige Zimmer in einem schmucklosen Haus in der damaligen Ogrodowa-Straße, wenige hundert Meter vom Marktplatz entfernt, der dazugehörige Obstgarten endete bereits an der Stadtmauer. Das Haus gehörte der Familie allerdings nicht mehr, es war wegen wirtschaftlicher Zwänge verkauft worden. Jetzt wohnte sie nur noch zu ausgehandelten Bedingungen auf bestimmte Zeit zur Miete beim neuen Eigentümer, dem Popen der orthodoxen Kirche in der Stadt. Der baldige Auszug nach Warschau war also vorgegeben, er war nur noch eine Frage der Zeit.
Von dort war einst Abraham Luxenburg, Rosas Großvater väterlicherseits, hierhergezogen, weil er in eine in Zamość ansässige wohlhabende jüdische Familie eingeheiratet hatte und fortan das kaufmännische Glück von hier zu zwingen suchte. Edward und drei weitere Brüder kamen allesamt in Zamość zur Welt, der Familie ging es entsprechend, wie die Wohnstätten in dem vom Wohlstand zeugenden Stadthäusern am Salzmarkt und Markt verraten. Abraham hatte für seinen ältesten Sohn Edward außerdem das Haus in der Ogrodowa-Straße erworben, bevor er selbst wieder mit seinen anderen Kindern nach Warschau zurückkehrte.
Dann ging es auf und ab in den geschichtlichen Turbulenzen, Abraham verlor bald sein ganzes Vermögen, war plötzlich ein ruinierter Mann und gegenüber dem russischen Fiskus hochverschuldet. Er ging vor der ihm drohenden Verfolgung seitens der russischen Behörden außer Landes, kam schließlich nach Berlin, wo er 1872 verstarb und begraben wurde. Die Schulden aber bürdete sich Edward auf, der älteste Sohn – der Grund also, weshalb er Haus und Hof verkaufen und schließlich Zamość wenig später mit Sack und Pack verlassen musste. Rosa Luxemburg war zu diesem Zeitpunkt höchstens drei Jahre alt, wird sich später kaum noch an etwas erinnern können.
In Warschau wächst Rosa Luxemburg bürgerlich auf, dafür sorgt die große Familie, auch wenn die Eltern – Edward und Lina – nie aus gewissen materiellen Engpässen herauskommen werden. Aber für ein anständiges Dach über dem Kopf und vor allem für gute Bildung ist gesorgt. Der feste Wunsch, an einer Universität zu studieren, zeichnet den Weg ins Ausland, in die Schweiz und nach Zürich vor, denn in Warschau war es den Frauen – wie anderswo im Zarenreich – trotz Hochschulreife verwehrt, sich zu Studienzwecken einzuschreiben.
Der Sozialismus war Rosa Luxemburg freilich nicht in die Wiege gelegt, dahin kam sie auf anderen Wegen und als einzige aus ihrer Familie. Der Weg dahin setzte frühzeitig ein, bereits als frischgebackene Abiturientin engagierte sie sich in Warschau für Arbeiterbildung, was von den Zarenbehörden strengstens verfolgt wird. Aus Spuren in den frühen Texten lässt sich immerhin rekonstruieren, dass sie außerdem Kindern, die bereits in jungen Jahren in den Fabriken der Stadt arbeiten mussten, das Lesen und Schreiben beizubringen suchte. Auch das wurde verfolgt, es wiedersprach den strengen Regeln des Versammlungsrechts. Vielleicht war die in Warschau und anderswo in den Fabrikstädten des Zarenreiches grassierende Kinderarbeit, die der jungen und aufmerksamen Rosa Luxemburg die schmerzliche, brutale Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft oft genug vor Augen führte, überhaupt der wunde Punkt, der Rosa Luxemburgs frühe Entscheidung für den Sozialismus in einem großen Maße prägte. Als die blutjunge Frau Warschau verließ und im Februar 1889 in Zürich eintraf, war der Weg bereits gewiesen, der sie in die Reihen der europäischen Arbeiterbewegung führt.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. hatte für den 27. Januar 2021 eine Veranstaltung zum neuen Buch „Hana. Eine jüdisch-sorbische Erzählung“ von JURIJ KOCH mit einem Nachwort des Gründungsdirektors des Centrum Judaicum Berlin HERMANN SIMON geplant.
Corona-bedingt mussten wir auch die Planungen zu dieser Veranstaltung erst einmal aussetzen und dokumentieren eine Buchbesprechung von Gerd-Rüdiger Hoffmann, der die Idee zu dieser Veranstaltung hatte.
Jurij Koch war Mitte zwanzig als seine Novelle „Židowka Hana“ („Die Jüdin Hana“) 1963 auf Sorbisch erschien. Unter den Sorben ist das Buch bekannt und beliebt und erfuhr mehrere Auflagen. Zumindest Auszüge wurden vor 1989 im Sorbischunterricht gelesen und diskutiert. Lenka Cmuntova, Regisseurin aus Prag, inszenierte 1968 mit dem Sorbischen Pioniertheater Bautzen eine dramatisierte Fassung der Novelle.
Als der Historiker und Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum Hermann Simon 1990 Jurij Koch um eine deutsche Übersetzung der Novelle bat, war er von der Idee gar nicht begeistert. Bis heute sieht Koch seine Novelle kritisch. Es wäre ein erster literarischer Versuch gewesen, sentimental, voller ausschweifender Naturbetrachtungen und stellenweise regelrecht pathetisch. Einer Übersetzung würde er niemals zustimmen. Das war es dann erst einmal – bis der linke Landtagsabgeordnete Heiko Kosel Hermann Simon bat, auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 100. Geburtstages der am 15. August 1918 in Horka geborenen katholischen Sorbin jüdischer Herkunft Annemarie Schierz zu sprechen.
Historiker werfen Schriftstücke nicht weg, und so fand Hermann Simon den Briefwechsel mit Koch über die literarische Figur Hana und die historisch verbürgte Person Annemarie Schierz bzw. Kreidl, die im Dorf nur Hana Šĕrcec oder Kschischans Hana genannt wurde. Simon sichtete das Material und sagte zu. Jurij Koch, 1936 in Horka geboren, ließ das Thema ebenfalls nicht los. Sein 2012 erschienenes Buch „Das Feuer im Spiegel - Erinnerungen an eine Kindheit“ beginnt mit einer Begebenheit, in der es genau um diese Frau geht. Diese Erinnerungen sind für Hermann Simon wichtige Anregung, die Biografie der tatsächlichen Hana doch noch erforschen zu können. Jurij Koch entschloss sich schließlich, die fiktionale Geschichte über Hana in deutscher Sprache neu zu schreiben. Man ahnt das Risiko, einmal Veröffentlichtes neu zu schreiben, also umzuschreiben. Vielleicht reicht das Ergebnis nicht ganz, um wie Kochs „Augenoperation“, „Der Kirschbaum“ oder „Jubel und Schmerz der Mandelkrähe“ zum Besten der Gegenwartserzählkunst in deutscher Sprache gerechnet zu werden. Ein herausragendes Stück Literatur ist es allemal und ein Glücksfall, dass diese Erzählung mit diesem Stoff nun vorliegt. Ein weiterer Glücksfall ist das Nachwort von Hermann Simon, in dem er akribisch, mit 87 Anmerkungen belegt, den Forschungsstand zur Biografie von Annemarie Schierz einer wahren Kriminalgeschichte gleich ausbreitet.
Die Erzählung behandelt vier Jahre. Die Handlung beginnt im Frühling 1939 und endet im Sommer 1943. Ort der Handlung ist Horka, das sorbische Hórki bei Kamenz, heute Ortsteil von Crostwitz (Chrósćicy), nicht das Horka (Hórka) bei Niesky, das während der Nazizeit Wehrkirch heißen musste. Allein der Titel des Buches - „Eine jüdisch-sorbische Erzählung“ - lässt bereits vermuten, dass es hier nur um wenige Jahre gehen kann. Das Unheilvolle wird von Jurij Koch ohne Umwege, ohne künstlichen Spannungsaufbau gleich auf den ersten Seiten eingeführt. Wie sollte auch eine Geschichte über eine jüdisch-sorbische junge Frau in dieser Zeit anders begonnen werden. Dass sie nicht gut ausgehen wird, dürfte von Anfang an klar sein. Dennoch ist Spannung garantiert. Der nur achtundsiebzig Seiten umfassende Text, einmal zu lesen begonnen, lässt nicht los. Es geht um einen Mord, um Nazis als Außenseiter der Dorfgemeinschaft, um unspektakulären Widerstand, um Anpassung, um Liebe in schwerer Zeit, um Solidarität als das Normale in dem kleinen sorbischen Dorf, auch um Angst und Verrat. Die Erzählung handelt von der anfangs zwanzigjährigen Hana, die das Sorbische und Katholische mit Selbstverständlichkeit auf dem Hof ihrer Stiefeltern lebt, eigentlich aber Tochter wohlhabender Juden aus Dresden ist. Jüdische Schicksale aus der Zeit der systematischen Verfolgung und Vernichtung durch den deutschen Faschismus sind wahrlich nicht selten Thema in der Literatur. Die Perspektive jedoch, aus der Jurij Koch erzählt, dürfte etwas Einmaliges sein. Das Schlimme, das Gemeine, kommt leise ins Dorf Horka, in die Welt der Sorben und damit in das Leben von Hana. Nicht Hana ist die Fremde im Dorf, auch nicht als immer mehr darüber zu reden ist, dass sie jüdische Eltern habe. Das Fremde im Dorf ist der Wahnsinn der „modernen Zeitläufe“, der die Menschen wohl als Gottes Ebenbilde, „aber doch unterschiedlich in Güte und Gattung“ (S. 24), wie der Crostwitzer Pfarrer predigt, zu sehen verlangt. Fremd sind Soldaten mit „ihren aufgenähten flügelspreizenden Adlern über den rechten Brusttaschen und den mitfliegenden hakigen Kreuzen im Schwanzschlepp“ (S. 10). Fremdkörper im Dorf ist der Polizist, des Sorbischen nicht mächtig, der aber unter den Sorben „für deutsche Ordnung zu sorgen hatte“ (S. 21). Und Hanas jüdische Eltern in Dresden? „Sie sind mir fremd. Ich lebe hier mit meinen Eltern. Sie sind meine richtigen Eltern. Obwohl sie nicht meine richtigen Eltern sind. (…) Hier bin ich aufgewachsen. Hier ist mein Zuhause. Meine Dresdener Eltern haben große Sorgen. Es ist besser, wenn sie sich nicht auch noch um mich sorgen müssen. Und ich nicht um sie.“ (S. 15f.)
Wie so oft bei Jurij Koch, eine sehr eigenwillige Poesie der leisen Töne und des Einklangs von Natur und Mensch kennzeichnen seine Erzählkunst auch in diesem Buch. Die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ in der Natur, im Rhythmus der Arbeiten auf dem Feld und im Stall und im nahen Steinbruch gehört zum Alltag und bedarf keiner philosophischen Reflexion. Wie auch die sorbischen Feste, die Trachten und die Umgangsformen, das Sorbische im Katholischen und das Katholische im Sorbischen einfach da sind und ohne draufgesetzte Erklärung auskommen. Der Tagesablauf ist einem Naturgesetz ähnlich geregelt und immer gleich, auch für Hana: „Eine Stunde noch, dachte sie, dann ist der Sonntag wieder vorbei. Füttern, melken, zu Abend essen, ins Bett! So geht’s Tag für Tag. Alle Tage, alle Feiertage.“ (S. 8) Die Welt da draußen mit ihrem Streben nach Fortschritt und seltsamen neuen Wertvorstellungen darüber, wer die Minderwertigen und wer die Höherwertigen seien, sie möge wenig mit diesem im Gleichklang von Natur und Mensch ablaufendem Leben im Dorf und der harten Arbeit im nahen Steinbruch zu tun haben. Neue Moden und Anweisungen, das Tragen eines Judensterns etwa, passen nicht ins sorbische Dorf. „Und ob sich Hana auch einen Stern annähen müsse? ‚Quatsch!‘, sagte der Schmied. ‚Geht gar nicht. Passt nicht zur Tracht.‘“ Anfangs machen die Dörfler noch Witze und halten zusammen als der Polizist Hana den Besuch von Tanzveranstaltung und Gottesdienst verbietet. Noch trugen „die Ereignisse der Alltage im Dorf“ dazu bei, die Welt zu verklären. Doch der Krieg wird mit dem Eintreffen schwarz gerahmter Briefe gegenwärtiger. Das Misstrauen untereinander wächst und die Sorge auch, „dass das katholisch-slawische Getue nicht mehr in die modernen Zeitläufe passe.“ (S. 52) „… ob es vielleicht eines Tages auch einen Sorbenstern geben werde?“ (S. 47) Die Flucht in die Schweiz, bis ins Kleinste von Hanas Liebsten Bosćij gut geplant, scheitert. Bosćij wird verhaftet, weil er der Einberufung zur Wehrmacht nicht nachkam. Ihr Stiefvater überlebt die psychischen Schikanen nicht. Gestapo und Dorfpolizist wissen, wie sie den treuen Katholiken am besten erledigen können. Sie streuen das Gerücht, dass er ein Verhältnis in Schande mit seiner jüdischen Stieftochter hätte. Hana wird deportiert. Niemand weiß, wann und wo sie umgebracht wurde. So endet die Erzählung. Und so schließt auch der Bericht von Hermann Simon über das Leben der Annemarie Schierz. Auf den letzten Seiten, Hana berichtet mitgefangenen Frauen aus ihrem Leben, entfaltet sich noch einmal in besonderer Weise der einmalige Stil des meisterhaften Erzählers Jurij Koch – berührend und doch ohne Sentimentalität. Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.
Auf dem STOLPERSTEIN in der Crostwitzer Straße 17 in Horka ist zu lesen:
„Tule Narodźi so a bydleše / Annemarie Kreidl / přiwzata / Hana Šěrcec / katolska serbowka / židowskeho pochada / lětnik 1918 / zajata 1942 / morjena 1943“
„Hier wurde geboren und lebte Annemarie Kreidl, adoptierte Hana Šĕrcec, katholische Sorbin jüdischer Herkunft, Jahrgang 1918, verhaftet 1942, ermordet 1943“
Die Kolleg*innen von SV Babelsberg haben die heutige Veranstaltung mit Ronny Blaschke und Reza Wahdat über Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution dankenswerterweise gestreamt und als Video bei facebook onlinegestellt.
Eine herzliche Einladung zum Nach-Sehen an alle, die nicht live dabei sein konnten.
Lestenē liegt rund 80 Kilometer westlich der lettischen Hauptstadt Riga. Gut 300 Seelen zählt der kleine beschauliche Weiler. Doch auf dem Ort lastet der faschistische Völkermord. Gerade auch über dem Friedhof gleich neben der im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums restaurierten evangelisch-lutherischen Barockkirche.
Nicht für die Dörfler ist der Friedhof angelegt, sondern für lettische Angehörige der Waffen-SS, die das Internationale Militärtribunal in Nürnberg 1946 als verbrecherische Organisation verurteilt hatte. Grundsteinlegung für die schaurige Stätte war am 27. April 1996, die Eröffnung am 27. September 2003. Der unerhörte Skandal: Alles unter aktivster Förderung der lettischen Regierung! Mit höchster Ehrerbietung wurden dorthin bisher 7.360 Banditen der lettischen Waffen-SS (einige Deutsche sind auch darunter) »umgebettet«, 1.112 bekamen eigene Grabplatten. Die meisten waren im Kurlandkessel vom 10. Oktober 1944 bis 8. Mai 1945 umgekommen. An zwei Seiten eingerahmt ist das Ganze von 18 Wänden aus Granit, auf denen die Namen von 11.000 lettischen SS-Leuten eingraviert sind. Der Platz für 20.000 weitere soll noch gefüllt werden.
Montag, 26. Oktober 2020, 19 Uhr
SV Babelsberg 03, Karl-Liebknecht-Str. 90, 14482 Potsdam
Buchvorstellung und Diskussion mit
- Ronny Blaschke (Sportjournalist und Buchautor) und
- Reza Wahdat (iranischer Fußballfan, der inzwischen in Berlin lebt und viel über die Fußballkulturen im Nahen Osten berichten kann)
Koorperation mit SV Babelsberg 03
Black Lives Matter, Belarus, Hongkong: In unterschiedlichen Kulturkreisen machen sich Sportler für Bürgerrechte stark, darunter viele Fußballer. Der Berliner Journalist Ronny Blaschke beobachtet seit Jahren die politischen Hintergründe im Sport. Für sein neues Buch "Machtspieler - Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution" (Verlag: Die Werkstatt) hat er in 15 Ländern auf vier Kontinenten recherchiert. Durch das Vergrößerungsglas Fußball blickt er auf Homophobie in Russland, Nationalismus auf dem Balkan oder die wirtschaftliche Expansion Chinas. Blaschke analysiert die Mobilisierung von Fußballfans: In Ägypten, in der Ukraine, und in der Türkei stützten Ultras Proteste gegen autokratische Regierungen. Was ist aus ihren Bewegungen geworden? Während der Recherchen hat Blaschke auch den iranischen Fan Reza Wahdat kennengelernt, der inzwischen in Deutrschland lebt und viel über die Fußballkulturen im Nahen Osten berichten kann. Blaschke und Wahdat diskutieren in Babelsberg über Fußball zwischen Propaganda und Protest.
Alle diese »Helden« zählten zu den etwa 160.000 lettischen Kollaborateuren der faschistischen Mordmaschinerie. Geschätzt über die Zeit dienten 115.000 in der Lettischen SS-Freiwilligen-Legion, deren Aufstellung Hitler am 10. Februar 1943, unmittelbar nach Stalingrad, befahl. Sie leistete Hitler den Treueschwur. Die Legion setzte sich aus der 15. und 19. Lettischen SS-Freiwilligen-Division zusammen.
Lesart heute: Die allermeisten der »Helden« seien von den Nazis zwangsrekrutiert worden, und Zwangsrekrutierte fallen nicht unter das Nürnberger Diktum von der SS als verbrecherischer Organisation. Tatsächlich nahm das Kriegsverbrechertribunal jene aus, die »vom Staate zur Mitgliedschaft in solcher Weise herangezogen wurden, dass ihnen keine andere Wahl blieb, und die keine solchen Verbrechen begingen«. Und gekämpft hätten sie zudem für die Befreiung von der Sowjetherrschaft.
Nur etwa 25 bis 30 Prozent seien Freiwillige gewesen, lautet eine verschleiernde Behauptung. Auch deshalb, weil die heimische sowjetfeindliche Propaganda Werbewirkung erzielt hatte. Vor allem aber: Eingegliedert in die Lettische Legion wurden 1943/44 zielgerichtet Letten, die zu »Strafkommandos« des »Sicherheitsdienstes« (SD) der SS gehörten. Die waren schon in den Jahren zuvor bei Massenmorden an der Zivilbevölkerung und an sowjetischen Kriegsgefangenen sowie gegen sowjetische Partisanen im Baltikum, in Russland, Weißrussland und in der Ukraine eingesetzt. Russische Archive benennen 27 lettische Bataillone, die Dörfer in Brand steckten, die Bevölkerung vertrieben und Tausende erschossen.
Allein die 19. Lettische SS-Freiwilligen-Division vernichtete so vom 18. November 1943 bis 2. April 1944 23 Dörfer und tötete 1.300 Menschen. Insgesamt ereilte mehrere Hundert Dörfer mit Zigtausenden Toten dieses Schicksal. Weiteren »Ruhm« ernteten die lettischen Faschisten bei der Mordorgie gegen das Warschauer Ghetto 1942/43. Die 15. Lettische SS-Freiwilligen-Division war nicht »besser«: Nach ihrer Zerschlagung im Sommer 1944 ermordeten Angehörige des Verbandes, inzwischen in die »Schwester«-Division eingegliedert, am 31. Januar 1945 im heutigen Podgaje 32 mit Stacheldraht gefesselte Soldaten der 1. Polnischen Armee. Aber zu den schlimmsten Kriegsverbrechen der lettischen SS-Truppen zählte ihre Beteiligung an der Blockade Leningrads vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944, die bis zu 1,1 Millionen Einwohnern das Leben kostete.
Lettische SS-»Helden« nahmen im Verbund mit dem SD, dem deutschen »Sicherheitsdienst« an den Massenerschießungen im Wald von Biķernieki teil, wo vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1944 35.000 bis 46.500 Menschen ermordet wurden (die Zahlen divergieren). Sie bewachten Todeslager, darunter das Konzentrationslager Salaspils, südlich von Riga, wo Tausende Menschen umkamen, darunter viele Kinder und Jugendliche. Ein großer Teil der 500 Mann lettischen Hilfspersonals, das an den Hinrichtungen von über 27.000 Juden am 30. November und 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula »mitwirkte«, kam dann in den lettischen Verbänden der Waffen-SS unter. Darunter befand sich das Kommando Victors Arājs, eines lettischen Polizeioffiziers, dessen Blutspur sich durch die nordwestliche UdSSR zog, der 1942 zum SS-Sturmbannführer ernannt wurde und der 1943 das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern bekam. Reste des Kommandos wurden 1944/45 in die Lettische SS-Freiwilligen-Legion eingegliedert. Doch damit nicht genug: Die von den Nazifaschisten installierte lettische Selbstverwaltung war es, die Einberufungen zur lettischen SS veranlasste. Dahinter stand die Erwartung eines selbstständigen Lettlands, das den Moskau-feindlichen Kurs der halbfaschistischen Diktatur unter Kārlis Ulmanis im Riga der 30er Jahre fortsetzen würde.
Ganz offiziell glorifizierte das lettische Parlament am 29. Oktober 1998 in einer Deklaration die Lettische Legion als ausschließliche Kämpfer für die staatliche Unabhängigkeit und bestritt, dass diese an irgendwelchen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sei. Zum offiziellen Feiertag erklärte es noch im selben Jahr den 16. März - in Erinnerung an einen militärischen Kleinerfolg gegen die Rote Armee 1944 am Fluss Welikaja im Raion Opotschka. Dies, nachdem schon seit 1991 alte und neue lettische Faschisten in Riga den »Tag der Legionäre« mit Aufmärschen begingen. Bei einer Gedenkveranstaltung am 27. September 2019 bezeichnete Verteidigungsminister Artis Pabriks »Lettlands Legionäre ... (als) Stolz des lettischen Volkes und des Landes«. Ihr Kampf sei »glanzvoll« und »ewig«. Protestschreiben an den Generalsekretär der NATO, zu deren eifrigsten Mitgliedern Lettland zählt, verhallten ebenso wie solche jüdischer Weltorganisationen. Die westliche Wertegemeinschaft in Aktion. So auch bei dem Skandal, dass Deutschland seit 1990 lettischen SS-Veteranen eine Rente zahlt (2019 noch mehr als 2000). Oder dass westdeutsche Gerichte keine Möglichkeit sahen, den Kommandeur der 19. Lettischen SS-Freiwilligen-Division und Generalleutnant der Waffen-SS Bruno Streckenbach, beschuldigt des Mordes an einer Million Menschen, zu verurteilen. Wenigstens Arājs erhielt lebenslänglich; er starb 1988 im Kasseler Gefängnis. SS-Legionäre betrieben ihr Unwesen übrigens bis 1952 als »Waldbrüder« weiter - und auch sie gelten heute als Nationalhelden der Baltenrepublik. Mehr als 3000 terroristische Akte mit Tausenden von Opfern gehen auf ihr Konto.
Lestenē ist nicht der einzige Ort zur Verherrlichung der SS-Täter in Lettland. Entsprechende Grabstätten findet man vor allem auch auf dem Brüderfriedhof in Riga, dem bedeutendsten Lettlands. Während sich das SS-Erbe in Lettland - ähnliches ist auch aus Estland und Litauen zu berichten - der bevorzugten moralischen und finanziellen Unterstützung der Herrschenden erfreut, sind beispielsweise das Museum für das Rigaer Ghetto (eines der allerschlimmsten) und des Holocausts in Lettland, betrieben von der Nichtregierungsorganisation »Šamir«, auf Spenden angewiesen.
Eklatante Geschichtsfälschung trifft man in allen baltischen Staaten an. Noch ein Beispiel: Im Grūtas-Park in Litauen, wo abgebaute Skulpturen aus sozialistischer Zeit zum Gruseln vorgestellt werden (darunter auch Karl Marx und Friedrich Engels), erfährt man: Der Vormarsch der Roten Armee in Osteuropa bedeutete nicht etwa die Befreiung von der Naziherrschaft, sondern war die Eröffnung des Kalten Krieges durch das »Sowjetregime«. Das alles ist kein Wunder, gehörten doch die heute im Baltikum Regierenden zu den aggressivsten Initiatoren der Entschließung des Europaparlaments vom 19. September 2019, die in unglaublicher Weise die UdSSR und Nazideutschland gleichsetzt.
Doch beileibe nicht alle Balten machen sich die extrem nationalistischen und revisionistischen Sichten der Regierenden zueigen: Die Mahnmale und Gräber der für die Befreiung in den drei Republiken gefallenen Sowjetsoldaten, die man wegen geltender Verträge nicht beseitigen darf, sind reicher geschmückt als für jene, die an der Seite der Naziokkupanten standen. Die Ehre Lettlands retteten jene 100 000 Bürger, die aufopferungsvoll an der Seite der Roten Armee für die Niederringung des Faschismus kämpften; 35 000 von ihnen ließen ihr Leben.
Der US-Präsidentschaftswahlkampf findet in diesem Jahr im Kontext vielfältiger Krisen statt, die die US-amerikanische Gesellschaft erschüttern. Der Journalist Max Böhnel hat im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung in den USA Interviews mit Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen geführt und sie zur Situation in der US-amerikanischen Gesellschaft befragt.
Bis zu den Wahlen am 3. November wurden jeweils wöchentlich Audio- und Videointerviews zu den brennenden Themen des Wahlkampfs von uns veröffentlicht: Rassismus und Polizeigewalt, die Verlierer der Corona-Krise, Green New Deal und die Außenpolitik unter Trump und Biden.
Außerdem gab bzw. gibt es zwei Online-Diskussionsrunden, die ebenfalls die Lage in den USA diskutieren und einen Ausblick auf die Wahl und ihre möglichen Auswirkungen wagen.
Diskussion #2: Quo vadis? Die USA nach den Wahlen
Am 3. November 2020 finden die US-Präsidentschafts- und Kongresswahlen statt. Noch ist völlig offen, ob Joe Biden den amtierenden Präsidenten ablösen wird oder Donald Trump die Wiederwahl gelingt. Eines scheint aber jetzt schon sicher: Diese Wahl erschüttert die USA und wird das Land voraussichtlich noch länger beschäftigen.
Die Gräben zwischen den politischen Lagern sind tiefer geworden, Risse gehen mitten durch die Gesellschaft. Hinzu kommt, dass sich das Land auch international zunehmend isoliert hat. Einschneidende Veränderungen scheinen daher unabdingbar, wenn der politische, ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhalt in den USA nicht völlig verloren gehen soll.
Kurz nach der Abstimmung wollen wir das Wahlergebnis – und aktuelle Entwicklungen – aus verschiedenen Blickwinkeln bewerten: Wie stellt sich die politische Gemengelage kurz nach den Wahlen dar? Und wie stehen die Chancen für echte Veränderungen? Dabei gilt unser Blick den gesellschaftlichen Verwerfungen in den USA ebenso wie den Konsequenzen für die transatlantischen Beziehungen und die internationale Politik. Letztlich geht es auch um Perspektiven für linke Politik auf beiden Seiten des Atlantiks.
Diskussion mit:
- Andreas Günther, Leiter des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
- Carsten Hübner, Journalist und Gewerkschafter
- Stefan Liebich, MdB DIE LINKE und stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe USA des Bundestages
- Ann Wertheimer, Vorsitzende der American Voices Abroad
- Moderation: Nadja Charaby (Berlin), Leiterin des Referats Internationale Politik und Nordamerika in der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Donnerstag, 05.11.2020, 18:30 - 20:30 Uhr
Anmeldung für die Zoom-Veranstaltung (Englisch)..
STOLPERSTEINE in Senftenberg
Die Idee, sogenannte STOLPERSTEINE zu verlegen, geht auf den Kölner Künstler und Bildhauer Gunter Demnig zurück. Er erinnert mit den kleinen Messingtafeln an diejenigen Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus religiösen, politischen, rassistischen oder anderen menschenfeindlichen Gründen verfolgt und getötet wurden - direkt an ihrem letzten selbst gewählten Wohnort.
Auf den Tafeln steht "Hier wohnte ... " und wenige Angaben zum Leben und zum Leidensweg. Die Daten sind so klein, dass man sich herunterbeugen muss, um sie lesen zu können, man verbeugt sich quasi vor den STOLPERSTEINEN. In dem manchmal sehr Unscheinbarem liegt jedoch eine große Wirkung: man stößt häufig eher zufällig auf die Orte, überall in unseren Städten, an denen Nachbarn, Kolleg*innen, Mitschüler*innen, Geschäftsleuten unfassbares Leid geschah - und all zu häufig ohne dass sich ihre Nachbarn schützend vor sie gestellt und sie unterstützt hätten.
Gunter Demnig sagt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Zwischen 2007 und 2016 konnten in Senftenberg (und Hörlitz) insgesamt 21 STOLPERSTEINE verlegt werden. Drei mussten in diesem Zeitraum nachverlegt werden, da sie zerstört oder entwendet worden waren, so auch der STOLPERSTEIN für Dr. Rudolf Reyersbach.
Diskussion #1: Trump oder Biden? Die USA vor den Präsidentschaftswahlen
Die USA – so scheint es – stehen dieses Jahr vor einer Zerreißprobe. Präsidentschaftswahlkämpfe haben schon öfter zu einer Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft geführt, dennoch stehen die diesjährigen Wahlen unter besonderen Vorzeichen, nicht zuletzt aufgrund der COVID-19-Pandemie: Das Selbstverständnis der USA ist auf eine Weise erschüttert worden, wie es schon lange nicht mehr der Fall war. Es herrscht ein Gefühl der Verzweiflung und Frustration, und die Gräben zwischen den politischen Lagern werden tiefer. Vielfältige Krisen fordern die Supermacht heraus und bestimmen den Wahlkampf: der Umgang mit der COVID-19-Pandemie und den Ungerechtigkeiten des US-amerikanischen Gesundheitssystems, Rassismus und Polizeigewalt, soziale Ungleichheit und, nicht zuletzt, der Klimawandel.
Wenige Tage vor den US-Präsidentschaftswahlen wollen wir über die Lage in den USA diskutieren und einen Ausblick auf die bevorstehende Wahl und ihre möglichen Auswirkungen wagen. Trump oder Biden – wer wird gewählt? Was bedeutet das für die Zukunft des Landes? Und was bedeutet das für die Welt?
Diskussion mit
- Max Böhnel, freier Journalist in New York
- Andreas Günther, Leiter des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
- Dorothea Hahn, taz-Korrespondentin in den USA
- Tamara Kamatovic, freie Journalistin in Wien
- Nelini Stamp, Organizing Director, Working Families Party, USA (angefragt)
- Moderation: Nadja Charaby, Leiterin des Referats Internationale Politik und Nordamerika in der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Dr. Rudolf Reyersbach - ermordet am 10. November 1938 in Senftenberg
Als eines der vielen Todesopfer der Novemberpogrome 1938 starb Dr. Rudolf Reyersbach am Morgen des 10. November 1938 auf der Senftenberger Polizeiwache. 1897 geboren, kam der Rechtsanwalt und Notar des Berufes wegen 1925 in die südbrandenburgische Kleinstadt und eröffnete hier eine Kanzlei - in seinem Wohnhaus am Steindamm. Als mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums" allen Jurist*innen jüdischer Herkunft ab 1. April 1933 die Ausübung ihres Berufes verboten wurde, gelang es Reyersbach zunächst, sich dagegen zu wehren, war er doch als Soldat im I. Weltkrieg gewesen. NSDAP-Mitglieder aus Senftenberg denunzierten ihn als "national unzuverlässig" beim Justizministerium, da er der SPD nahe stand und linksorientierte Angeklagte in Prozessen gegen Nazis vertreten hatte. Erneut konnte Dr. Reyersbach seine Wiederzulassung erreichen, da eine ganze Reihe von bekannten Senftenberger Persönlichkeiten ihm in schriftlichen Erklärungen seine "Unbedenklichkeit" bescheinigten.
Jedoch nahmen die Angriffe gegen seine Kanzlei und gegen sein Wohnhaus zu: bereits im März 1933 wurden des Nachts Fensterscheiben eingeworfen. Besonders verheerend war jedoch das Novemberpogrom 1938 in Senftenberg. Am Morgen des 10. November 1938 wurden die als jüdisch markierten Bürger*innen der Stadt aus ihren Wohnungen gezerrt und auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Aus Augenzeugenberichten kann man die unvorstellbaren Gewaltexzesse und Demütigungen nur erahnen. Dr. Reyersbach wurde an diesem Tag auf dem Markt fast zu Tode gequält - in aller Öffentlichkeit. Kurz darauf verstarb er 41-jährig auf der Polizeiwache. Seine nicht-jüdische Ehefrau Martha und sein 1931 geborener Sohn Walter überlebten in Deutschland. Seine Mutter Valeska sowie die Schwestern Marianne und Henny wanderten zunächst nach Guatemala aus und lebten später in der Schweiz.
2007 konnten wir für Dr. Rudolf Reyersbach einen STOLPERSTEIN durch Gunter Demnig verlegen lassen - in Anwesenheit seines Sohnes Walter und seiner Familie. Am 30. Januar 2013 wurde dieser STOLPERSTEIN gewaltsam entwendet - die Täter*innen konnten nicht ermittelt werden. Am 9. November 2013 konnten wir den STOLPERSTEIN nachverlegen.
Interview #5: Green New Deal - Klimagerechtigkeit und Klimaverantwortung
Für einen Green New Deal, der die Klimakatastrophe eindämmen, den Planeten und die Weltbevölkerung retten könnte, ist nur noch wenig Zeit. In dem Videobeitrag befassen sich Tom Goldtooth und Yifat Susskind mit den innenpolitischen und globalen Herausforderungen, denen schleunigst begegnet werden muss. Yifat Susskind erläutert, weshalb Klimaverantwortung und -gerechtigkeit feministischen und globalen Ansätzen folgen muss. Tom Goldtooth erörtert Widerstandsstrategien der indigenen Bevölkerung in Nordamerika gehen die Klimakiller-Konzerne.
- Yifat Susskind leitet die mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York kooperierende internationale Frauen- und Menschenrechtsorganisation MADRE.
- Tom Goldtooth ist Angehöriger der Navajo Nation und Leiter des Indigenous Environmental Network in Minnesota.
[Untertitel in Deutsch und Englisch]
Fünfter und letzter Beitrag der Interview-Serie «Biden oder Trump – Die USA vor der Zerreißprobe»
Auch Dora Singermann, Ernestine Grünzeug, Siegfried Marcus, sein Bruder Ludwig und dessen Frau Else wurden am Morgen des 10. November 1938 in aller Öffentlichkeit misshandelt und gequält - ebenso wie die 12-jährige Astid Zellner und ihre Eltern Leo Zellner und Herta Röstel. Leo Zellner wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt und seine Frau starb schließlich an den Spätfolgen der Misshandlungen, hatte sie sich während des Pogroms doch schützend vor ihren Mann geworden.
Mehr Informationen zu den genannten Personen gibt es hier...
Interview #4: Rassismus und Polizeigewalt
Videointerview zum US-Präsidentschaftswahlkampf mit der linken Aktivistin Rachel Herzing
«Black Lives Matter» gilt zurecht als neue US-Bürgerrechtsbewegung und manchen sogar als größte soziale Bewegung in der Geschichte der USA. Die Medienberichterstattung ist immens. Aber schafft es die Bewegung jenseits davon, ihre Forderungen tatsächlich zu verankern und vielleicht sogar durchzusetzen? Würde eine zweite Amtszeit von Trump ihr gewaltsames Aus bedeuten? Würde andererseits ein Weißes Haus unter Joe Biden bessere Bedingungen zur Bekämpfung des strukturellen Rassismus und für Polizeireformen schaffen?
- Rachel Herzing ist die Co-Direktorin des Center for Political Education, eines Forschungs- und Bildungsinstituts in San Francisco für linke Organisationen, soziale Bewegungen, Basisgewerkschaften und People of Color. Rachel Herzing ist Mitgründerin von Critical Resistance, einer nationalen Basisorganisation, die sich der Abschaffung der Knastindustrie widmet.
Senftenberg hatte keine Synagoge, Menschen jüdischen Glaubens zählten sich zur Gemeinde in Cottbus. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde dort die Synagoge in der Karl-Liebknecht-Straße angezündet und durch den Brand vollständig zerstört.
Der rbb hat 2018 eine interaktive Karte zu Gebetshäusern und Synagogen in Berlin und Brandenburg veröffentlicht, die jeweils darüber informiert, was dem Gebäude in den Novemberpogromen widerfahren ist.
Aufgrund der Recherchen eines Studierenprojekts der Universität Potsdam sind in Brandenburg 16 Synagogen zerstört und zehn beschädigt worden, eine blieb unzerstört, von sechs weiteren sind keine Informationen überliefert. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind auch im - aktuell leider nicht mehr im Handel verfügbaren - Buch "Synagogen in Brandenburg" veröffentlicht worden und auf der Projekt-Homepage zusammengestellt.
Interview #3: Rassismus, Klassen- und Geschlechterverhältnisse in der Coronakrise
Mithilfe der Theorie sozialer Reproduktion erläutert die marxistische Feministin die Auswirkungen der Corona-Krise in New York und darüber hinaus in den USA. Die Krise hat Klassenverhältnisse neu sichtbar gemacht und verdeutlicht deren Verquickung mit dem strukturellen Rassismus wie auch den patriarchalen Geschlechterverhältnissen. Trump vs. Biden – was folgt daraus für die Wahlen am 3. November?
- Cinzia Arruzza ist Professorin für Philosophie an der New School for Social Research und dem Eugene Lang College in New York. Sie hat in diesem Jahr für das New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Studie erarbeitet zum Thema: «Austerität und die Krise der sozialen Reproduktion. Die Kämpfe von Arbeiterinnen in den USA»
Interview #2: Extreme Rechte, Republikaner und die Wahlen
Das Wahlsystem in ihrem Sinne auszuhebeln versuchen die Rechten in den USA nicht erst seit Trump. Gleichwohl verfügt die radikale Rechte, seit sie mit in der Regierung sitzt, über noch mehr Macht und Möglichkeiten, mit legalen Tricks und der Mobilisierung von Rechtsextremen die Wahlen zu beeinflussen. In dem Audiobeitrag erörtern Experten, wie weit in den USA die gesellschaftliche Polarisierung und der «Trumpismus» kurz vor den Wahlen fortgeschritten sind.
- Cynthia Miller-Idriss ist Professorin für Pädagogik und Soziologie an der American University in Washington, D.C.. Sie forscht zu Rechtsextremismus in den USA.
- Max Elbaum ist seit den 1960er Jahren aktiv in der Friedensbewegung, in der antirassistischen Bewegung und in der US-Linken. Er analysiert seit vielen Jahren die Rolle der extremen Rechten in der Klassengesellschaft USA.
Unter Nachbarn - eine Theatertour entlang der STOLPERSTEINE
Eine Gruppe von Studierenden aus Potsdam hat gemeinsam mit Sharon Kotkovsky und Sabine Wiedemann einen theatralen Rundgang durch die Potsdamer Innenstadt entwickelt, der anhand der STOLPERSTEINE, des Denkmals für die Opfer des Faschismus und der beiden Standorten der Alten und der zukünftigen Synagoge von jüdischem Leben in Potsdam berichtet, von Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, Enteignung, Ermordung, Überleben, Weiterleben und die Frage stellt, wo die Zusammenhänge sind - gestern und heute.
Das Projekt konnte mit Hilfe der Cultus UG realisiert werden, unterstützt durch die Landeshauptstadt Potsdam und auch durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr zum Projekt gibt es bei facebook. Das Video kann bei youtube angesehen werden oder hier direkt:
Interview #1: US-Außenpolitik unter Trump – und unter Biden?
Die Außenpolitik ihrer Regierung interessiert die Mehrzahl der US-Bevölkerung prinzipiell kaum und kurz vor Präsidentschaftswahlen gar nicht – es sei denn, es gilt, sich im Kriegsfall hinter den Präsidenten zu stellen. Ist ein solches Szenario kurz vor den November-Wahlen denkbar?
Vier prominente Kritiker*innen der US-Außen- und Militärpolitik wägen in dem Hörbeitrag die Möglichkeiten eines außenpolitischen «October surprise» ab. In den Interviews geht es darüber hinaus um eine Bilanz und Perspektiven der Trump‘schen Außenpolitik an den beiden Brennpunkten China und Nahost. Welche Rolle spielt dabei das Militär? Und: welche Vorstellungen haben dazu Joe Biden und die Demokraten, inklusive ihres progressiven Flügels?
- Phyllis Bennis beschäftigt sich mit der US-amerikanischen Nahostpolitik und den Vereinten Nationen. Sie leitet das Projekt Neuer Internationalismus am Institute for Policy Studies in Washington D.C., einem progressiven Thinktank.
- John Feffer leitet das Projekt «Foreign Policy in Focus» am Institute for Policy Studies. Er arbeitet seit vielen Jahren unter anderem zur US-Außenpolitik im asiatischen Raum.
- Michael Klare ist Professor am Hampshire College in Amherst im Bundesstaat Massachusetts. Der Friedensforscher befasst sich darüber hinaus publizistisch mit Abrüstungspolitik und US-Militärstrategie.
- Lindsay Koshgarian leitet das Programm Verteidigungshaushalt in der Nichtregierungsorganisation National Priorities Project. Sie analysiert das US-Bundesbudget an der Schnittstelle zwischen Militär und Zivilgesellschaft.
"Das bisschen Pflege." Was falsch läuft und wie es anders gehen könnte
"Gesundheit ist eine Ware." Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens
Krankenhaus statt Fabrik. Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser – Kritik und Alternativen
Am 8. Oktober 2020 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung den "Atlas der Staatenlosen" öffentlich präsentiert - und macht damit ein Thema sichtbarer, das gerade durch Unsichtbarkeit charakteriert ist.
Anhand von 19 konkreten Länderbeispielen wird auf die vielfältigen Facetten von Staatenlosigkeit aufmerksam gemacht und Lösungswege für die jeweiligen Situationen und Probleme aufgezeigt.
Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass Menschen staatenlos sind. Sie reichen von der Aberkennung der Staatsangehörigkeit über Flucht und Vertreibung bis hin zu religiöser Diskriminierung oder den Folgen nomadischer Lebensweise. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind so unterschiedlich wie weitreichend: Staatenlose sind Menschen, die besonders verletzlich sind, weil kein Staat sie schützt und sie keinen Zugang zu grundlegenden Rechten haben.
Der geografisch ausgerichtete Atlas kann ebenso wie der begleitende Reader online oder als Papierausgabe bestellt werden.
Alle Infos dazu sowie einen kurzen Film und ein Interview mit Matthias Reuß vom UNHCR heute früh im Deutschlandradio gibt es hier gesammelt oder weiter unten als separate Links.
Jährlich veröffentlicht die RLS einen Bericht über ihre Arbeit und die Verwendung ihrer Finanzen.
Unter dem Schwerpunktthema 2019 - Feminismus von links - wird von besonderen Projekten berichtet, u.a. vom Feminist Future Festival auf der Zeche Zollverein. Aber auch die einzelnen Arbeitsbereiche der RLS und auch die Landesstiftungen präsentieren eine Auswahl ihrer Vorhaben vom vergangenen Jahr.
Wir haben in diesem Zusammenhang die szenisch-musikalische Lesung "Blume - Liebe - Revolution" zu Rosa Luxemburg vorgestellt, erarbeitet von unserem Mitglied Gerd-Rüdiger Hoffmann und präsentiert von der Schauspielerin Alrun Herbig und der Pianistin und Komponistin Oksana Weingardt. Zu finden im Jahresbericht auf S. 33.
Zum Jahresbericht der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. 2019 ...
Wer Interesse an einer gedruckten Ausgabe hat, kann sich gern an uns wenden.
Atlas der Staatenlosen
Daten und Fakten über Ausgrenzung und Vertreibung
erschienen im Oktober 2020
Den PDF-Download gibt es bereits unter diesem Link, dort folgt in Kürze auch die Möglichkeit, den Atlas als Broschüre zu bestellen.
Staatenlos! Welche Folgen hat fehlende Zugehörigkeit für die Betroffenen
Interview mit Matthias Reuß vom UNHCR
im Deutschlandradio (Studio 9) vom 8. Oktober 2020
Matthias Reuß hat am Atlas der Staatenlosen mitgearbeitet und ist im UNHCR-Regionalbüro Bangkok tätig und dort zuständig für Staatenlose im Raum Asien und Pazifik.
(7:46 min)
Kurzer Videofilm zum Thema Staatenlosigkeit
«Wie kann es sein, dass ich hier bin und trotzdem nicht existieren kann?» Staatenlose gibt es überall auf der Welt. Ihre genaue Anzahl ist nicht bekannt, weil die Daten zu Staatenlosen nur selten erfasst werden. Durch die hohe Dunkelziffer gehen Expert*innen aber von mindestens 10 Millionen Menschen ohne Staatsangehörigkeit aus. Ausschließende staatliche Rechtsordnungen sowie Flucht und Migration führen dazu, dass Menschen ihre Staatsbürgerschaft verlieren oder von Geburt an gar nicht erst bekommen. Die Schicksale der Menschen unterscheiden sich, aber die Konsequenzen sind für alle gleich: Diesen Menschen werden die selbstverständlichsten Dinge verwehrt: Bildung, medizinische Versorgung, Sicherheit, das Recht auf Besitz, Möglichkeiten zu arbeiten, ihre Nationalität an ihre Kinder weiterzugeben, zu wählen oder einfach zu reisen. Diese universellen Rechte stehen jedem Menschen zu – sie dürfen nicht an eine Staatsangehörigkeit gebunden sein.
Konzepte und Kritiken zu Staatenlosigkeit.
Ein Reader zum "Atlas der Staatenlosen"
Dieser Reader versammelt einige Beiträge über Staatenlosigkeit, die sich aus philosophischer und praktisch-politischer Sicht mit diesem Menschenrechtsproblem befassen. Die Texte ergänzen den geografisch ausgerichteten Atlas der Staatenlosen.
- Gebürtig oder eingebürgert
In den Vereinigten Staaten bilden der Ort der Geburt und die Abstammung einer Person zwei mächtige Mythen, die die Zugehörigkeit zur Nation begründen. Für Eingewanderte hingegen steckt das US-Staatsangehörigkeitsrecht voller Ungerechtigkeiten und Gefahren.
Von Stephanie DeGooyer - Unteilbar
Der Wert jedes Menschen ist gleich, seine Würde gilt überall. Sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt und kann verletzt werden, aber nicht verloren gehen.
Von Erin Daly und James R. May - Abgesichert
Oft wird Staatenlosen ihre materielle Sicherheit verweigert. Dabei gehört sie zu den Sozialrechten, die zugleich Menschenrecht sind. Kampagnen zu ihrer universellen Durchsetzung sollten so geführt werden, dass das «Recht auf Rechte» zur Selbstverständlichkeit wird, fordert das Konzept der «Globalen Sozialen Rechte».
Von Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold - Dazugehörig
Die westliche Kultur enthält Spuren eines kalten Rationalismus und einen nach innen gerichteten Chauvinismus, der das Heimatland erhöht und Außenstehende mit fremdenfeindlichem Misstrauen
betrachtet. Dies taugt nicht für eine moderne Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in Nachbarschaft leben. Stattdessen brauchen wir eine Ethik, die Fremde willkommen
heißt.
Von Rachid Boutayeb
Den PDF-Download gibt es bereits unter diesem Link, dort folgt in Kürze auch die Möglichkeit, den Atlas als Broschüre zu bestellen.
„Vielleicht finden Sie schon in Thüringen etwas Blumen auf den Wiesen, obwohl in dieser Höhe die Vegetation sich wahrscheinlich verspätet. Am Genfer See gibt es schon zahllose Vergißmeinnicht, Veilchen und bald auch meine allerliebste Wiesenblume – Wiesenschaumkraut; Himmelsschlüssel nicht zu vergessen. Nächstes Jahr, wenn ich heil heraus bin, ist keine von diesen Genannten vor mir sicher. Inzwischen gebe ich Ihnen Vollmacht, an meiner statt die Wiesen zu plündern.“ (Brief an Mathilde Jacob, 30. März 1915)
„Vor zwei Jahren – das weißt Du gar nicht – hatte ich einen anderen Rappel: In Südende packte mich die Leidenschaft für Pflanzen; ich fing an zu sammeln, zu pressen und zu botanisieren. Vier Monate lang machte ich buchstäblich nichts anderes, als im Feld zu schlendern oder zu Hause zu ordnen und zu bestimmen, was ich von den Streifzügen mitbrachte. Jetzt besitze ich zwölf vollbepackte Pflanzenhefte und orientiere mich sehr gut in der ‚heimischen Flora‘, z.B. im hiesigen Lazaretthof, wo ein paar Sträucher und üppiges Unkraut zur Freude der Hühner und zu meiner gedeihen. So muß ich immer etwas haben, was mich mit Haut und Haar verschlingt, sowenig sich das für eine ernste Person ziemt, von der man – zu ihrem Pech – immer etwas Gescheites erwartet.“ (Brief an Luise Kautsky, 18. September 1915)
Beide Briefe hat Rosa Luxemburg im Frauengefängnis in der Barnimstraße in Berlin verfasst, wo sie vom Februar 1915 bis Februar 1916 inhaftiert war;
zit. nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 50 und 74f.
Rosa Luxemburg ist eine der interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, bekannt vor allem als brillante Rednerin, scharfsinnige Theoretikerin und Journalistin, als leidenschaftliche Briefeschreiberin, als entschiedene Kämpferin gegen Nationalismus und Militarismus, als vehemente Streiterin für eine von politischer Freiheit und sozialer Gleichheit geprägte Gesellschaft – und als Opfer einer reaktionären Freikorps-Soldateska, die ihr am 15. Januar 1919 brutal das Leben nahm.
Weniger bekannt ist, dass Rosa Luxemburg, 1871 in Zamość im russisch besetzten Teil Polens geboren und in Warschau aufgewachsen, unbedingt Botanik, Zoologie und Geologie studieren wollte und dafür nach dem Abitur 1890 nach Zürich ging. Dort war zur damaligen Zeit Frauen ein gleichberechtigtes Hochschulstu-dium nicht verwehrt. Die Bekanntschaft mit dem Marxisten Leo Jogiches jedoch schmiedete sie „für immer an die verfluchte Politik“. (Brief an Leo Jogiches, 20. Oktober 1905)
Ihr Engagement in der europäischen Arbeiter*innen-Bewegung und insbesondere gegen den Ersten Weltkrieg brachte ihr lange Gefängnisaufenthalte ein – die Jahre 1915 bis 1918 verbrachte sie fast ausnahmslos in Haft, im Frauengefängnis in der Barnimstraße Berlin, in der Festung Wronke oder im Strafgefängnis an der Breslauer Kletschkaustraße.
Vor allem in dieser Zeit arbeitete Rosa Luxemburg an ihrem 1913 begonnenen Herbarium, das in insgesamt 18 Schreibheften vollständig erhalten und nach einem abenteuerlichen Weg über die USA schließlich im Staatlichen Archiv Akt Nowych in Warschau inventarisiert worden ist. Es umfasst neben 370 unterschiedlichen Pflanzen auch ein Heft mit „Geologischen und botanischen Notizen“.
In dieser Ausstellung wird eine kleine Auswahl daraus vorgestellt, vom ersten Blatt mit verschiedenen Johannisbeersorten vom Mai 1913 bis zum letzten beschrifteten Eintrag des erkrankten Spitzahorns vom Oktober 1918.
An vielen Stellen wird der Studiencharakter des Herbariums, Rosa Luxemburgs Anspruch als exakte Wissenschaftlerin und ihre große Freude an diesem Tun deutlich: Sie fügte den aufgeklebten Pflanzenteilen ausführliche Beschreibungen hinzu, ergänzte fehlende Teile durch eigene Zeichnungen, nahm notwendig gewordene Korrekturen vor.
Fast alle Blätter enthalten neben den deutschen und lateinischen Bezeichnungen Angaben dazu, wann und wo Rosa Luxemburg die Pflanzen bei ihren Spaziergängen oder bei Freigängen im Gefängnis- oder Lazaretthof gefunden hat. Auch ihre langjährigen engen Freund*innen und Weggefährt*innen wie u.a. Mathilde Jacob, Sonja Liebknecht und Marta Rosenbaum oder ihr Anwalt Dr. Kurt Rosenfeld schickten ihr Blumen und Pflanzen. Auch findet sich ein Fund vom Grab ihres großen politischen Vorbilds Ferdinand Lassalle in den Heften.
Insbesondere in ihren Briefen schilderte Rosa Luxemburg immer wieder ihre Liebe zur Pflanzen- und Tierwelt – sicherlich auch eine Ausflucht in Zeiten tiefer politischer Krisen und aus der Isolation und der Tristheit des Gefängnis-alltags.
Allerdings: man würde Rosa Luxemburg nicht gerecht, sähe man darin ausschließlich das Persönliche, Private – und nicht auch zugleich einen integralen Bestandteil ihres komplexen Verständnisses einer neuen, allem Leben mit Sorgfalt begegnenden, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft.
Eine Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, basierend auf dem 2016 im Karl Dietz Verlag Berlin erschienenen Buch „Rosa Luxemburg: Herbarium“, herausgegeben von Evelin Wittich, mit einer Einleitung sowie einer Auswahl von Briefen von Holger Politt.
Das Original des Herbariums von Rosa Luxemburgs befindet sich im Staatlichen Archiv Akt Nowych in Warschau.
Wir danken herzlich Dr. Holger Politt und Dr. Detlef Nakath für die freundliche Unterstützung bei der Realisierung der Ausstellung.
- VERANSTALTUNGSORT
Haus der Naturpflege Bad Freienwalde e.V.
Dr.-Max-Kienitz-Weg 2
16259 Bad Freienwalde (Oder) - KONTAKT
Telefon: (03344) 35 82
E-Mail: verein@haus-der-naturpflege.de
www.haus-der-naturpflege.de/ - ÖFFNUNGSZEITEN
dienstags bis sonntags, 10 bis 17 Uhr
Im Karl Dietz Verlag Berlin sind erschienen:
- Rosa Luxemburg: Herbarium,
hrsg. von Evelin Wittich, mit einer Einleitung und einer Auswahl an Briefen von Holger Politt, Berlin: Karl Dietz Verlag 2016.
-
Postkartenset: 10 Motive aus Rosa Luxemburgs Herbarium
www.dietzberlin.de
„Wir spielen mit den Kräften des Kosmos, obwohl wir dafür weder weise noch ausdauernd genug sind. Die gefährlichste Illusion, die wir in Bezug auf die Kernkraft haben, ist die, dass wir sie kontrollieren können.“ (Jonathan Schell)
Für den gestrigen Sonntag, 16.2.2020, hatten wir zu einer besonderen Veranstaltung "Solidarität - In Zeiten wie diesen" ins Bürgerhaus Wendische Kirche nach Senftenberg eingeladen - gemeinsam mit ars momento Cottbus, unterstützt vom Landkreis OSL und Hoffmann-Möbel Guben sowie einiger privater Spender*innen. Über 80 Menschen waren der Einladung gefolgt.
Der Nachmittag begann mit der ca. 60-minütigen berührenden Tanzperformance "In Zeiten wie diesen" in der Choreographie von Golde Grunske mit Denise Noack, Ioannis Avakoumidis, Christoph Viol, Floris Dahlgrün, Konstantinos Spyrou (Tanz) sowie Konrad Jende und Javid Kooravand (Livemusik), an die sich nach einer kurzen Pause eine Diskussionsrunde anschloss.
In der Einladung hieß es: "Die Tanzperformance setzt sich mit der aktuellen Situation in der Lausitz auseinander, reflektiert über den "Heimat"-Begriff sowie den Umgang mit Ungewohntem und Fremdem und ist ein Plädoyer für Solidarität in einer durch Differenz gekennzeichneten und durch Hass auf Andere bedrohten Gesellschaft." - und so wurde es auch von den Gästen assoziiert.
In der Gesprächsrunde ging es neben der Arbeitsweise der Tanzcompanie und dem Entstehungsprozess der Performance vor allem um die unterschiedlichen Perspektiven auf Flucht und Vertreibung, die sowohl die älteren Besucher*innen wie Geflüchtete wie auch die von den speziellen Bedingungen in der Lausitz betroffene Jugendliche oder auch Arbeitnehmer*innen je anders ansprachen; um das verbindendende Element von Musik und Ausdruckstanz, unabhängig von Sprache, Herkunft, Geschichte; um die innere Zerrissenheit bei Fragen des Gehens oder Bleibens und um den Wunsch, als Mensch mit je eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen anerkannt zu werden - ohne den Stempel "Geflüchteter".
„Erinnerung an die Zukunft. Strahlenopfer von Hiroshima & Nagasaki bis heute“ heißt eine Ausstellung der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. und die Fraktion DIE LINKE. in der Stadtverordnetenversammlung Cottbus/Chóśebuz aus Anlass des 75. Jahrestages der Atombombenabwürfe auf die Städte Hiroshima und Nagasaki nach Cottbus/Chóśebuz geholt haben. Dank Unterstützung durch die Galerie Brandenburg können wir die Ausstellung auf dem Gelände am Großenhainer Bahnhof zeigen.
Die Ausstellung versucht, sich anhand von Bildern und Texten von Strahlenopfern und Wissenschaftler*innen der Frage des Zusammenhangs von sogenannter „friedlicher“ und militärischer Nutzung der Atomkraft und der Gefahr beider für unser zukünftiges Leben zu stellen. So werden neben den kurz- und langfristigen Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki auch das Reaktorunglück von Tschernobyl oder verschiedene Atombombentests thematisiert.
Vom 6. bis zum 19. August kann die Ausstellung kostenfrei am Großenhainer Bahnhof (Altes Prima Wetter, Güterzufuhrstr.) besichtigt werden, und zwar montags bis samstags von 14 bis 18 Uhr.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. und die Fraktion DIE LINKE. in der SVV Cottbus/Chóśebuz laden herzlich zur Eröffnung der Ausstellung am 6. August um 16 Uhr ein. Zur Eröffnung sprechen Marlen Block, MdL (stellv. Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.) und Eberhard Richter (Vorsitzender der Stadtfraktion DIE LINKE).
Für den 16. August sind die Einweihung eines „Friedenspfahls“ in Anlehnung an den japanischen Philosophen und Friedensaktivisten Masahisa Goi auf dem Gelände des Großenhainer Bahnhofs, ein Rundgang durch die Ausstellung mit dem Kurator Jochen Schmidt von der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum und eine Diskussionsrunde geplant, an der u.a. auch ein Vertreter von ICAN (Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen e.V.) teilnehmen wird.
Ausstellung "Erinnerung an die Zukunft. Von Hirsohima & Nagasaki bis heute"
anlässlich des 75. Jahrestags der Atombombenabwürfe auf Hiroshima & Nagasaki
- Eröffnung: 6. August 2020 (Mittwoch), 16 Uhr
- Ausstellungszeitraum: 6. bis 19. August 2020
- Öffnungszeiten: montags bis samstags von 14 bis 18 Uhr
- Eintritt frei.
Aufgrund der Auflagen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie werden wir am Einlass personenbezogene Daten erheben, die eine mögliche Kontaktnachverfolgung ermöglichen und ausschließlich zu diesem Zweck verwendet werden. Zudem bitten wir um Einhaltung des Abstandsgebots und Beachtung der allgemeinen Hygieneregeln.
Eindrücke von der kleinen Ausstellungseröffnung am 6. August 2020
Vor wenigen Tagen ist der Theologe, Politiker und Antifaschist Prof. Dr. Heinrich Fink verstorben, der auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg eng verbunden war. Gerd-Rüdiger Hoffmann, Mitglied und für die RLS in der Lausitz engagiert, hat einen Nachruf verfasst, den wir hier dokumentieren.
„Alle wollte er für das Experiment gewinnen, ob nicht doch der Schritt vom Menschsein zur Menschlichkeit gemacht werden könnte. Er jedenfalls glaube unbeirrt, daß der Mensch für diesen Sinn lebe.“
Diese Worte fand Heinrich Fink am 27. Juni 1998 auf dem Waldfriedhof Hoyerswerda / Wojerecy am Grabe von Gerhard Gundermann. Vielleicht meinte er bereits damals mit dieser Einschätzung eines ganzen Lebens auch sich selbst. Jedenfalls war sein Streben als Theologe, Politiker und Antifaschist von dieser Hoffnung getragen: Mehr Menschlichkeit in diese Welt bringen, wo die großen Fragen auch im Kleinen gestellt werden und im Kleinen sehr praktisch um Lösungen gerungen wird. Sein Wissen, seine Geradlinigkeit und Milde gegenüber Andersdenkenden, selbst wenn er meinungsstark seine Position vertrat, haben viele Menschen auch in den Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Lausitz überzeugt. Und ganz nebenbei erschien durch ihn für so manche eingefleischte Atheisten im Revier das Christentum in einem völlig neuen Licht, vielleicht gerade deshalb, weil ihm jede Romantisierung und missionarisches Gebaren fremd waren.
Das Leben als Bewegung in zu bewältigenden Widersprüchen könnte eine Maxime von Heiner Fink gewesen sein. Auch Scheitern gehört zum Leben. Anpassung des „lieben Frieden willens“ war seine Sache nicht. Auf Feindbilder konnte er jedoch verzichten, was durchaus nicht Verzicht auf harte Auseinandersetzungen bedeutete. Vor allem seine Arbeit im VVN – Bund der Antifaschisten legt davon Zeugnis ab. Aber Aktionismus und Konfrontation „aus Prinzip“ gehörte nicht zu seinem Wesen. Klare Haltung und unbeirrtes Handeln, auch wenn die politisch korrekten Vokabeln dafür noch nicht gefunden waren, dürfen wohl als seine Markenzeichen gelten. In besonderer Erinnerung wird das 3. Senftenberger Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg im Januar 2002 zum Thema „Wir-Gefühl und Feindbild“ bleiben. Nicht nur das Wissen des Professors beeindruckte das Publikum, sondern auch die Art, wie Heiner Fink von den Berichten der ebenfalls anwesenden Überlebenden von Theresienstadt Michaela Vidladkova und Arthur Radvanski emotional berührt war.
Bis zum 13. September 2020 besteht in Erfurt die Möglickheit, sich die wirklich besondere Ausstellung "Zwei deutsche Architekturen 1949-1989" des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in der Galerie Waidspeicher anzusehen, die anhand von Fotografien, Plänen und Modellen zehn Architekturdiskurse zur Ausprägung der Architektur in der DDR und der BRD präsentiert.
Möglich geworden ist diese Schau aus Anlass des 30. Jahrestags von 1989/90 durch eine Kooperation der Thüringischen Landeshauptstadt Erfurt und zahlreicher Partner*innen, darunter auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Ausstellung nähert sich ihrem Gegenstand mehr mit Fragen als mit Antworten. Sie geht den Divergenzen und Konvergenzen von scheinbar getrennten Architekturdiskursen nach, reißt exemplarisch den kulturellen und politisch-ökonomischen Kontext der beiden Architekturentwicklungen an und untersucht den unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen erfolgten Verlauf mit Blick auf die Geschichte der Disziplin selbst. Dabei hat die Schau nicht den Anspruch, die eine verbindliche „Wahrheit“ festzuschreiben, sondern sie versucht vielmehr durch Offenlegung weitgehend unbekannten Materials aus ost- und westdeutschen Archiven zum Vergleich und zur Diskussion anzuregen. Im Zentrum der Betrachtung stehen die jeweiligen disziplinären Diskurse wie etwa Fragen um das Wohnen, das Gedenken oder das Verhältnis von Tradition und Innovation.
Eingeflossen sind die Ergebnisse einer mehrjährigen Forschungsarbeit am Fachbereich Architektur der Hochschule für bildende Künste Hamburg, an der sich neben den Kuratoren Simone Hain und Hartmut Frank sowie der Projektkoordinatorin Katrin Peter zahlreiche Studierende mit ihren Arbeiten und Modellen beteiligt haben. Seit ihrer Produktion im Jahr 2004 wurde die Ausstellung weltweit in 26 Städten gezeigt – unter anderem in Hamburg, Vilnius, Istanbul, Athen, Madrid, Canberra, Singapur, Shanghai, Peking, Bandung und Buenos Aires.
Eine Ausstellung des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Kooperation mit Föderation deutschsprachiger Architektursammlungen. Die Ausstellung wird in Erfurt in Kooperation mit der Stadt Erfurt präsentiert.
- Ausstellungszeitraum: 26. Juli 2020 bis 13. September 2020
- Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr
- Führungen: 11.8., 25.8., 1.9. (jeweils 16.30 Uhr) und 13.9. (11 Uhr)
- Ausstellungsort: Galerie Waidspeicher im Kulturhof „Zum Güldenen Krönbacken“, Michaelisstraße 10, 99084 Erfurt
Link zur Ausstellungsseite der Stadt Erfurt ...
Einladung zur Ausstellung als PDF-Datei ...
Im direkten Umfeld der Ausstellung sind zudem zwei Satelitten-Ausstellungen zu besichtigen, und zwar im Patrizierhaus "Zum Güldenen Krönbacken":
- Voting „DDR-Architektur – entbehrlich oder erhaltungswürdig?“
- Das Kulturwunder. Neue Perspektiven auf Geschichte und Werte
(hier mit der besonderen Thematisierung des Kulturpalastes Unterwellenborn)
Informationen dazu gibt es ebenfalls auf der Ausstellungsseite der Stadt Erfurt bzw. zur Ausstellung über die Kulturhäuser auf deren Internetpräsenz.
In meiner Arbeit als Politiker hat mich Heiner Fink stark beeinflusst. Das betraf gar nicht den Umgang mit Geschäftsordnungen und parlamentarischen Gepflogenheiten, sondern vielmehr den Umstand, dass es immer um Inhalte, also um die jeweils zu behandelnde Sache selber, gehen müsse. Von jeder „Sache“ sind Menschen betroffen. Sich hinter Sachzwängen zu verstecken, war seine Sache nicht. Diese erweisen sich allzu oft als Denkzwänge. Er hat als Kümmerer durchaus einen Anteil daran, dass ich so manche Haltung und Denkweise als kritischer Philosoph trotz oft harter Partei- und Parlamentsarbeit halbwegs bewahren konnte und vor Kleingeistern mit hohem Macht- und Einkommensbewusstsein nicht einknickte. Einig waren wir uns stets, dass diese seltsam passiv machende Talkshowdemokratie kein Ersatz für Selberdenken und Selbertun sein kann. Sein lebendiges Aktivsein in Verbindung mit seinen klugen wissenschaftlichen Vorträgen steckte Zögernde gelegentlich sogar an.
Mit Heinrich Fink hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg einen wichtigen Ratgeber, Mitstreiter und Genossen verloren.
Wir trauern um einen guten Freund und wünschen seiner Frau Ilsegret und der Familie viel Kraft in dieser schwerer Zeit."
Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann
Dr. Holger Politt, Leiter des Büros Warschau der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat drei Texte im Zusammenhang mit dem 75. Jahrestag der Befreiung verfasst, die wir in loser Folge hier dokumentieren.
- Teil 1: Zur Ausstellung "Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern"
- Teil 2: Gedanken zum 8. Mai aus Warschau
- Teil 3: Zu Emanuel Ringelblum als Chronist im Ghetto
Die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstandene Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ wurde mit großem Publikumserfolg erstmals im Frühjahr 2015 im Warschauer Museum zur Geschichte der polnischen Juden (Polin) gezeigt. Die Ausstellung war einer der ersten temporären Ausstellungen in dem Museum, das im Herbst 2014 seinen regulären Betrieb aufgenommen hatte. Danach zog die Ausstellung ihre Besucher an verschiedenen Orten in Polen, später auch in vielen anderen Ländern in ihren Bann. Im Januar und Februar 2016 wurden die Bildtafeln erstmals auch in Deutschland präsentiert, als sie im Gebäude der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu sehen waren. Seitdem gab es allein in Deutschland zehn weitere Ausstellungen (in Potsdam, zweimal in Bad Freienwalde, in Senftenberg, Fürth, Nürnberg, Augsburg, Halle/Saale, Magdeburg und Halberstadt).
Die Idee zur Ausstellung hatte Joanna Sobolewska-Pyz gehabt, die langjährige Vorsitzende des Vereins „Kinder des Holocaust“ in Polen, die davon überzeugt gewesen war, dass sich das engagierte öffentliche Wirken und die politische Bildungsarbeit des Vereins auch auf diese Weise unterstützen lasse. Mit künstlerischer Meisterschaft wurde verdichtend dem Schicksal von fünfzehn Überlebenden der Judenvernichtung im okkupierten Polen nachgegangen, die allesamt als kleine Kinder aus den Ghettos gerettet worden waren. Die jüdischen Eltern hatten in der lebensbedrohenden Situation, um das junge Leben der kleinen Kinder vor der drohenden Vernichtung zu bewahren, schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich von ihren Töchtern und Söhnen zu trennen. Rettung bedeutete in den meisten der dargestellten Fälle, wenn die kleinen Kinder in einer nichtjüdischen polnischen Familie unterkommen waren. Vieles von den abenteuerlichen Wegen der Rettung ist in verschiedener Form dargelegt worden, so vor allem in Büchern der Erinnerung, aber die Ausstellungsbilder ziehen den Betrachter auf eine ganz besondere Weise an, denn sie lassen nur noch einen kleinen Spalt vom einstigen Geschehen durchscheinen – und doch erzählen sie auf kleinstem Raum die ergreifende Geschichte.
Drei Ausstellungsorte in Polen seien hier gesondert erwähnt, weil sie heute in exemplarischer Weise den Massenmord an den Juden im besetzten Polen symbolisieren. In Treblinka wurde die Ausstellung ab Frühsommer 2018 erstmals zweisprachig gezeigt – polnisch und englisch. Bei der feierlichen Eröffnung im Museum der Gedenkstätte zeigte sich Joanna Sobolewska-Pyz besonders berührt, weil viele der Kinder des Holocaust ihre jüdischen Eltern wahrscheinlich hier verloren haben.
In Chełmno nad Nerem (Kulmhof), wo die Gedenkstätte an das erste Vernichtungslager der deutschen Besatzer überhaupt erinnert, stand im Sommer 2019 vor allem das Schicksal der Juden aus Łódź im Vordergrund. Und in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim (Ausschwitz) zeigte sich in den Sommermonaten 2018, welchen wertvollen Beitrag die Ausstellung für die deutsch-polnische Verständigung und insbesondere derjenigen in jüngeren Generationen leistet.
Wenn Joanna Sobolewska-Pyz vor ihr Publikum tritt, vergisst sie nicht auf die Medaille für die Gerechten unter den Völkern zu verweisen, die ihren polnischen Eltern posthum aus Yad Vashem verliehen wurde. Mit Stolz verweist sie dann darauf, dass die Sobolewskis sie zur Tochter nahmen, als die Entscheidung lebensbedrohlich war. Schnell wird in den anschließenden Diskussionen der Gesprächsfaden gesponnen, besonders berührend sind zumeist die Fragen von jungen Menschen, die noch zur Schule gehen oder studieren. In Cottbus wurde Joanna Sobolewska-Pyz im Januar 2020 im Niedersorbischen Gymnasium von einem Schüler gefragt, ob sie denn all die Menschen, die auf den Ausstellungstafeln zu sehen sind, persönlich gekannt habe. Nachdem die Befragte das bejaht hatte, entwickelte sich ein hinreißendes Gespräch, in dem diejenigen Menschen kurz porträtiert werden konnten, die einst ihre Bereitschaft erklärt hatten, ihre gleichermaßen tragische wie wunderbare Lebensgeschichte auf diese Weise in die weite Welt zu tragen.
Befragt, was bei den vielen Begegnungen am Rande der Ausstellung ihr am meisten in Erinnerung geblieben ist, entgegnet Joanna Sobolewska-Pyz ohne lange zu zögern: Nürnberg. Sie meint den Besuch im Memorium Nürnberger Prozesse im Januar 2019. Als kleines siebenjähriges Mädchen habe sie auf den Straßen Warschaus aus den Lautsprechern den Fortgang des Geschehens im fernen Nürnberg verfolgt, zusammen mit den polnischen Eltern. Jetzt selbst dort gewesen zu sein und stellvertretend für die Kinder des Holocaust aus Polen, gebe ihr ein tiefes Gefühl voller Genugtuung.
Ein besonderer Dank für die hilfreiche Unterstützung bei den Ausstellungen in Deutschland geht an die RLS-Landesstiftungen in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bayern.
Das Buch "Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie" sollte ursprünglich auf der Leipziger Buchmesse 2020 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Anlass sollte zudem genutzt werden, um an den frevelhaften Akt vom 13. März 2018 zu erinnern, bei dem auf Anweisung von Regierungsseite in einer Nacht- und Nebelaktion die Gedenktafel für Rosa Luxemburg in ihrer Geburtsstadt Zamość entfernt worden war. Der verstörende Vorgang wurde zum Ausgangspunkt für eine Spurensuche, mit der die beiden Herausgeber, Krzysztof Pilawski und Holger Politt, der Familiengeschichte Rosa Luxemburgs nachgingen.
Im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber stand also nicht Rosa Luxemburg selbst, sondern eine jüdische Familie in Polen, die allerdings nur deshalb ins Licht der Öffentlichkeit zurückgeholt wurde, weil Rosa Luxemburg überhaupt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zählt. Das Buch besteht ungefähr zu gleichen Teilen aus Dokumenten, Fotographien und Abbildungen, die mit einem begleitenden Text der Herausgeber die ersten schärferen Umrisse einer Familienbiographie ergeben.
Da das Buch derzeit nicht in öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt werden kann, wurden die beiden Herausgeber gebeten, an dieser Stelle zu einigen Fragen Stellung zu beziehen.
Dr. Holger Politt, Leiter des Büros Warschau der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat drei Texte im Zusammenhang mit dem 75. Jahrestag der Befreiung verfasst, die wir in loser Folge hier dokumentieren.
- Teil 1: Zur Ausstellung "Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern"
- Teil 2: Zu Emanuel Ringelblum als Chronist im Ghetto
- Teil 3: Zu den beiden Aufständen in Warschau 1943 und 1944
Zamość oder Warschau? Was sollte als Rosa Luxemburgs Heimatstadt bezeichnet werden?
Krzysztof Pilawski: Wohl Warschau. Rosa Luxemburg wird Zamość später nur vom Hören-Sagen kennen, nicht aus eigenem bewussten Erleben. Am ehesten wird wohl die ältere Schwester Anna mit Rosa Luxemburg in Warschau und später in Berlin oder Kolberg bei einem Kuraufenthalt über den Geburtsort der beiden gesprochen haben. In den bislang veröffentlichten Briefen Rosa Luxemburgs gibt es allerdings keine Stelle, die darauf hinweisen würde. Auch Mikołaj, der älteste der Geschwister von Rosa Luxemburg, könnte bei Gelegenheit gemeinsamer Treffen immer mal wieder auf Zamość zu sprechen gekommen sein. Familiengeschichtlich war Zamość eine wichtige Lebensetappe, die allerdings abgeschlossen war, als Rosa Luxemburg heranwuchs. Rosa Luxemburgs Großvater väterlicherseits, Abraham, war 1829 nach Zamość gezogen, nachdem er dort die Tochter eines bekannten ortsansässigen Händlers geheiratet hatte. Er blieb aber immer eng mit Warschau verbunden. Auch die Zukunft seiner Söhne verband Abraham in erster Linie immer mit dem aufstrebenden Warschau, nicht mit Zamość. Dass Rosa Luxemburgs Vater Edward, Abrahams ältester Sohn, dann am längsten in Zamość zurückblieb und ausharrte, ist einem Zufall zuzuschreiben, auf dessen Umstände im Buch näher eingegangen wird. Als Edward schließlich Ende Oktober 1872 nach einer Perspektive für die siebenköpfige Familie in Warschau zu suchen begann, wurde sein Hotelaufenthalt sogar in einem führenden Warschauer Blatt vermeldet. Auf einen kurzen Nenner gebracht vielleicht so: Zamość die Geburtsstadt und Warschau ganz sicher die Heimatstadt, auch wenn sie später in Berlin zu Hause sein wird.
Holger Politt: Für Warschau spricht zudem die enorme Bedeutung, die die Revolution 1905/06 für das politische und überhaupt Lebenswerk Rosa Luxemburgs besessen hatte. Warschau war nach Ausbruch der Revolution im Januar 1905 von Anfang an eines der Zentren der revolutionären Auseinandersetzungen im Zarenreich, vor allem aber derjenigen Ereignisse, die als Arbeiterrevolution gelten können. Nie wieder erlebte Rosa Luxemburg einen solchen politischen Höhepunkt, hatte sie doch seit 1893 den Ausbruch einer politischen Revolution im Russischen Reich für unabdingbar gehalten. Außerdem war sie überzeugt, dass der jahrhundertealte Fluch der Zarenherrschaft unter den Schlägen der Arbeiterrevolution endgültig bezwungen werden kann. Den Sieg vor Augen, hielt es Rosa Luxemburg trotz aller eindringlicher Warnungen nicht mehr in Berlin aus, sie fuhr Ende 1905 auf illegalen Wegen ins revolutionsschwangere Warschau, um an Ort und Stelle dabei zu sein, wenn dem Zarensystem ein letzter, entscheidender Stoß versetzt wird. Im März 1906 wurde sie festgenommen, die Zarenpolizei war durch Verrat auf die entscheidende Spur gekommen. Nach der Freilassung aus dem Zarengefängnis schrieb sie hier in Warschau im Juli 1906 die trotzigen, stolzen Worte: „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark“.
Was erinnert im heutigen Warschau noch an Rosa Luxemburg?
Krzysztof Pilawski: In erster Linie würde ich das Gefängnisgebäude für politische Gefangene im X. Pavillon der Zitadelle nennen, in dem Rosa Luxemburg 1906 ein Vierteljahr lang inhaftiert war. Der einstige Gefängnistrakt ist heute als Erinnerungsstätte ein gutgemachtes Museum. Zum Museumsbestand gehört, nebenbei gesagt, eine größere Skulptur Rosa Luxemburgs, auch ist die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ an einer Wand verewigt.
Die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstandene Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ wurde mit großem Publikumserfolg erstmals im Frühjahr 2015 im Warschauer Museum zur Geschichte der polnischen Juden (Polin) gezeigt. Die Ausstellung war einer der ersten temporären Ausstellungen in dem Museum, das im Herbst 2014 seinen regulären Betrieb aufgenommen hatte. Danach zog die Ausstellung ihre Besucher an verschiedenen Orten in Polen, später auch in vielen anderen Ländern in ihren Bann. Im Januar und Februar 2016 wurden die Bildtafeln erstmals auch in Deutschland präsentiert, als sie im Gebäude der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu sehen waren. Seitdem gab es allein in Deutschland zehn weitere Ausstellungen (in Potsdam, zweimal in Bad Freienwalde, in Senftenberg, Fürth, Nürnberg, Augsburg, Halle/Saale, Magdeburg und Halberstadt).
Aber zurück zur Frage: Vor allem sollte der Jüdische Friedhof erwähnt werden, der als Teil des Warschauer Ghettos die Schrecken der Okkupation wie durch ein Wunder überstanden hat. An den Gräbern der beiden Eltern dürfte Rosa Luxemburg in den letzten Dezembertagen 1905 oder dann 1906 gestanden haben, solange sie in Warschau auf freiem Fuß war. Überhaupt ist der Jüdische Friedhof ein überaus geeigneter Ort, um den Geheimnissen der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen.
Die Idee zur Ausstellung hatte Joanna Sobolewska-Pyz gehabt, die langjährige Vorsitzende des Vereins „Kinder des Holocaust“ in Polen, die davon überzeugt gewesen war, dass sich das engagierte öffentliche Wirken und die politische Bildungsarbeit des Vereins auch auf diese Weise unterstützen lasse. Mit künstlerischer Meisterschaft wurde verdichtend dem Schicksal von fünfzehn Überlebenden der Judenvernichtung im okkupierten Polen nachgegangen, die allesamt als kleine Kinder aus den Ghettos gerettet worden waren. Die jüdischen Eltern hatten in der lebensbedrohenden Situation, um das junge Leben der kleinen Kinder vor der drohenden Vernichtung zu bewahren, schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich von ihren Töchtern und Söhnen zu trennen. Rettung bedeutete in den meisten der dargestellten Fälle, wenn die kleinen Kinder in einer nichtjüdischen polnischen Familie unterkommen waren. Vieles von den abenteuerlichen Wegen der Rettung ist in verschiedener Form dargelegt worden, so vor allem in Büchern der Erinnerung, aber die Ausstellungsbilder ziehen den Betrachter auf eine ganz besondere Weise an, denn sie lassen nur noch einen kleinen Spalt vom einstigen Geschehen durchscheinen – und doch erzählen sie auf kleinstem Raum die ergreifende Geschichte.
Drei Ausstellungsorte in Polen seien hier gesondert erwähnt, weil sie heute in exemplarischer Weise den Massenmord an den Juden im besetzten Polen symbolisieren. In Treblinka wurde die Ausstellung ab Frühsommer 2018 erstmals zweisprachig gezeigt – polnisch und englisch. Bei der feierlichen Eröffnung im Museum der Gedenkstätte zeigte sich Joanna Sobolewska-Pyz besonders berührt, weil viele der Kinder des Holocaust ihre jüdischen Eltern wahrscheinlich hier verloren haben.
Holger Politt: Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, denn natürlich ist das Warschau von damals unwiederbringlich entschwunden. Dennoch kann der Interessierte vielfach Orte aufsuchen, die für den heranwachsenden Menschen größere Bedeutung gehabt hatten. Eine Aufzählung wäre übrigens gar nicht so kurz, auch wenn natürlich jene Gebäude, die Rosa Luxemburg und ihre Familienangehörigen ihr zu Hause genannt hatten, die Stürme der Zeit in den allermeisten Fällen nicht überstanden haben. Aber den Sächsischen Park, der für Rosa Luxemburgs Kindheit und Jugendzeit eine große Rolle gespielt hat, gibt es immer noch. So auch den Botanische Garten am Łazienki-Park. Oder, um ein Beispiel ganz anderer Art zu nehmen, der 40 Meter hohe Wasserturm, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Filteranlagen für die moderne Wasserversorgung der immer größer werdenden Stadt. Die noch heute bestehende und betriebene Anlage wurde eingeweiht, als Rosa Luxemburg die höheren Schulklassen besuchte. Und schließlich sei auch an das Herbarium erinnert, Rosa Luxemburgs wunderbare und gut erhaltene Pflanzensammlung, „Rosas Garten“ gewissermaßen, als welchen ein Rezensent die vorbildlich geführten Blätter in den kleinen, blauen Schulheften einst so überaus treffend bezeichnet hat. Das Original liegt in Warschau im Staatlichen Archiv Neue Akten (AAN) und ist ein besonderes Schmuckstück der Erinnerung an Rosa Luxemburg, auch deshalb, weil fest davon auszugehen ist, dass sie bereits in Warschau in ihrer Schuljugend in solch akribischen Dingen sich eifrig erprobt hatte.
Wird im Buch „Spurensuche“ nicht zugleich deutlich, wie abgeschottet Rosa Luxemburg vom alltäglichen Leben des Industrieproletariats aufgewachsen war?
Krzysztof Pilawski: Feliks Tych, der namhafte polnische Historiker der Arbeiterbewegung, hatte einmal umgekehrt geschlossen: Die spätere schnelle und vor allem konsequente Hinwendung zum Arbeiterkampf, zum Sozialismus sei nur erklärlich, wenn bereits frühere Weichenstellungen in der Jugendzeit vorausgesetzt werden. Die führte Tych auf eine angeborene Empfindsamkeit in sozialen Fragen, auf ein ausgeprägtes Gespür für soziale Ungerechtigkeiten und zu überwindende politische Machtverhältnisse zurück. Tych meinte, der Verweis auf das Familienmilieu, auf die offene geistige Atmosphäre daheim, gebe dafür alleine keine ausreichende Erklärung. Rosa Luxemburg kannte von der Familienseite her den jungen, stürmischen, vorwärtsdrängenden und höchst widersprüchlichen Industriekapitalismus in ihrer Heimat, in dem Arbeiterkämpfe bereits eine zunehmende und nicht mehr zu übersehende Rolle spielten. Das Elternhaus selbst gehörte nicht zu der wohlhabenden, den materiellen Alltagssorgen enthobenen Schicht, aber in der nächsten Familie sah das schon ganz anders aus. Rosa Luxemburg nahm zu Hause aber auf jeden Fall einen aufrichtigen Freiheitsimpuls auf, der an die besten Traditionen des aufgeklärten Bürgertums erinnerte, in denen Chancengleichheit und Bildung eine herausragende Rolle spielten. Sie bezog in ihr Freiheitsverständnis, als dieses reifte und sich entwickelte, den fortschrittlichen Arbeiterkampf, den modernen Sozialismus nicht nur ein, sondern diese Elemente des sozialen und politischen Kampfes wurden ihr zur Voraussetzung für den Freiheitskampf schlechthin.
Hat die „Spurensuche“ die Sicht der Herausgeber auf Rosa Luxemburg beeinflusst?
Krzysztof Pilawski: Ich bin natürlich stärker von der polnischen Sichtweise auf Werk und Leben Rosa Luxemburgs geprägt gewesen. Da wird gerne alles der polnischen Frage untergeordnet, also auf den allerdings auch in Polen kaum bekannten polnischen Teil verwiesen. Die heutige herausragende Weltgeltung aber wird voreilig und unüberlegt allein der deutschen Seite zugeordnet. Es erscheint dann mitunter so, als sei sie aus Polen nicht nur weggegangen, sondern habe sich schließlich auch selbst „ausgebürgert“. Die Geschichte der engen und engsten Familienangehörigen Rosa Luxemburgs wirft aber ein ganz anderes Licht, zeichnet ein anderes Gewicht in dieser gar nicht so einfachen Frage. Plötzlich wird ja deutlich, mit wieviel Fasern Rosa Luxemburg an diese Familie gebunden war, ein Faden, der niemals ganz gerissen ist. Und wieviel Voraussetzungen für die beeindruckende Karriere als brillanter Kopf im europäischen Marxismus wurden hier mitgegeben! Die im Buch nachgespürten Teile der Familiengeschichte selbst sind ja zugleich ein scharfes Spiegelbild der polnischen Geschichte bis hinein in den Zweiten Weltkrieg. Eine Rosa Luxemburg ohne angemessene Berücksichtigung des polnischen bzw. des jüdischen Kontextes in Polen ist eigentlich gar nicht vorstellbar!
Holger Politt: Ich kannte den polnischen Teil Rosa Luxemburgs, der immerhin fast ein Drittel des Gesamtwerkes ausmacht, bereits ganz gut. Nachweislich hat sie mindestens bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs polnische Texte geschrieben. Das ist eine Menge Holz. Aber mir ist plötzlich etwas aufgefallen, das stärker mit dieser Familiengeschichte zusammenhängt, die ja an allen Ecken und Kanten unweigerlich festgezurrt war an der polnischen Frage und an der jüdischen Frage in Polen. Rosa Luxemburg hatte in ihren Schriften den Stellenwert der nationalen und Nationalitätenfragen heruntergedrückt oder später in einem anderen Kontext aufzuheben versucht. Daraus konnte schnell der Vorwurf gestrickt werden, der immer in die Richtung zielte, dass sie sich in diesen Fragen eben geirrt habe. Vielleicht wird aber umgekehrt ein Schuh draus: Wer im ausgehenden 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts über die beiden Fragen nachdachte, stocherte im Grunde im dicken Nebel, fuhr, wie es jetzt in einem ganz anderen Zusammenhang oftmals bildlich heißt, nur „auf Sicht“. Rosa Luxemburg hatte in ihrem Werk bis zur Revolution 1905/06 diesbezüglich ein festgefügtes Navigationssystem, das ihr erlaubte – um in dem Bild zu bleiben – vergleichsweise schnell unterwegs zu sein, auch wenn sie höchst vorsichtig blieb und um die Untiefen wusste. Die schicksalsschwere Niederlage der Revolution erwies sich als Klippe, an dem dieses Navigationssystem in die Brüche ging. In ihrer großartigen Arbeit „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908/09) versuchte sie mit aller zur Verfügung stehenden Meisterschaft, dasselbe wieder schnell flottzukriegen, um auch in diesen Fragen wieder Fahrt aufnehmen zu können. Den Ausgang kennen wir.
Zu den Herausgebern:
- Krzysztof Pilawski arbeitet als Publizist und Journalist in Warschau, befasst sich insbesondere mit der offiziösen Geschichtspolitik im heutigen Polen und mit Fragen des Zusammenlebens mit den östlichen Nachbarländern Ukraine, Belarus und Russland.
- Holger Politt ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau sowie Übersetzer und Herausgeber des polnischen Werks von Rosa Luxemburg.
In Chełmno nad Nerem (Kulmhof), wo die Gedenkstätte an das erste Vernichtungslager der deutschen Besatzer überhaupt erinnert, stand im Sommer 2019 vor allem das Schicksal der Juden aus Łódź im Vordergrund. Und in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim (Ausschwitz) zeigte sich in den Sommermonaten 2018, welchen wertvollen Beitrag die Ausstellung für die deutsch-polnische Verständigung und insbesondere derjenigen in jüngeren Generationen leistet.
Wenn Joanna Sobolewska-Pyz vor ihr Publikum tritt, vergisst sie nicht auf die Medaille für die Gerechten unter den Völkern zu verweisen, die ihren polnischen Eltern posthum aus Yad Vashem verliehen wurde. Mit Stolz verweist sie dann darauf, dass die Sobolewskis sie zur Tochter nahmen, als die Entscheidung lebensbedrohlich war. Schnell wird in den anschließenden Diskussionen der Gesprächsfaden gesponnen, besonders berührend sind zumeist die Fragen von jungen Menschen, die noch zur Schule gehen oder studieren. In Cottbus wurde Joanna Sobolewska-Pyz im Januar 2020 im Niedersorbischen Gymnasium von einem Schüler gefragt, ob sie denn all die Menschen, die auf den Ausstellungstafeln zu sehen sind, persönlich gekannt habe. Nachdem die Befragte das bejaht hatte, entwickelte sich ein hinreißendes Gespräch, in dem diejenigen Menschen kurz porträtiert werden konnten, die einst ihre Bereitschaft erklärt hatten, ihre gleichermaßen tragische wie wunderbare Lebensgeschichte auf diese Weise in die weite Welt zu tragen.
Befragt, was bei den vielen Begegnungen am Rande der Ausstellung ihr am meisten in Erinnerung geblieben ist, entgegnet Joanna Sobolewska-Pyz ohne lange zu zögern: Nürnberg. Sie meint den Besuch im Memorium Nürnberger Prozesse im Januar 2019. Als kleines siebenjähriges Mädchen habe sie auf den Straßen Warschaus aus den Lautsprechern den Fortgang des Geschehens im fernen Nürnberg verfolgt, zusammen mit den polnischen Eltern. Jetzt selbst dort gewesen zu sein und stellvertretend für die Kinder des Holocaust aus Polen, gebe ihr ein tiefes Gefühl voller Genugtuung.
Ein besonderer Dank für die hilfreiche Unterstützung bei den Ausstellungen in Deutschland geht an die RLS-Landesstiftungen in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bayern.
Teil 1
Seit über vier Wochen hat die weltweite Corona-Krise nun auch Polen fest im Griff. Doch während anderswo sich die innenpolitische Hitze merklich verflüchtigt hat, fliegen in Polen immer noch die Fetzen. Der Stein des Anstoßes sind die Wahlen für das Amt des Staatspräsidenten, die für den 10. Mai 2020 angesetzt sind.
Das direkt gewählte Staatsoberhaupt hat in Polen Befugnisse, die mitunter über bloße Repräsentationszwecke hinausgehen. So kann er Gesetzesvorhaben blockieren, die dann wieder zurückkehren ins Parlament und dort mit einer Dreifünftel-Mehrheit verabschiedet werden müssen. Insofern sagte Jarosław Kaczyński noch am Wahlabend des 13. Oktober 2019, nachdem die absolute Mehrheit der Parlamentssitze im Sejm für die Nationalkonservativen ein weiteres Mal feststand, dass eine Niederlage bei den im Frühjahr anstehenden Präsidentschaftswahlen für seine politische Formation einer Katastrophe gleichkäme.
Mit Andrzej Dudas überraschendem Sieg im Frühjahr 2015 begann der seither anhaltende Siegeszug der von Kaczyński geführten Nationalkonservativen. Frühzeitig stand fest, dass das Kaczyński-Lager im Frühjahr 2020 auf den Amtsinhaber setzt, auch wenn das Verhältnis zwischen Duda und Kaczyński längst nicht spannungsfrei war, allerdings ist es Duda zu keiner Zeit gelungen, sich aus dem Schatten seines einstigen Gönners zu befreien und sich im hohen Amt von ihm zu emanzipieren. Zwischenzeitliche Überlegungen Kaczyńskis, für die nationalkonservativen Wähler doch einen anderen Kandidaten ins Rennen zu schicken, waren jedenfalls vom Tisch, als auch in Polen das neue Corona-Virus den Takt für das öffentliche Leben unbarmherzig vorzugeben begann.
Seit dem 12. März ging es Schlag auf Schlag. Erst wurden Hochschulen, Schulen und Kindereinrichtungen geschlossen, dann folgten die Grenzschließungen sowie das Kappen aller internationalen Luftverbindungen, schließlich wurde die Versammlungsfreiheit immer mehr heruntergedrückt, so dass nun zur Osterzeit im Grunde genommen es nur noch der jeweils einzelnen Person gestattet ist, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten – und auch dann nur noch unter strengen Auflagen. Ausnahmen von diesem scharfen Grundsatz sind genau festgelegt, können sich allerdings hin und wieder ändern. Trotz dieser einschneidenden Maßnahmen spricht das Regierungslager übergreifend von einer „neuen Normalität“, vermeidet jede Anspielung auf den Ausnahmezustand, denn der würde zwingend eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen vom 10. Mai erforderlich machen. Eine solche Verschiebung nun fordert die versammelte Opposition, auch ist laut Umfragen inzwischen eine Mehrheit zwischen 70 und 80 Prozent der Meinung, dass es angesichts der dramatischer werdenden Situation besser wäre, die Wahlen entsprechend zu verschieben.
Als wichtigsten Grund für die geforderte Verschiebung des Wahltermins führt die Opposition die gesundheitliche Gefährdung des Wahlvolks an, die sich dramatisch steigern würde, wenn es am Wahlsonntag in den bislang geschlossenen Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen zur Wahlurne gerufen würde. Auch kann sie auf den Ministerpräsidenten und den Gesundheitsminister verweisen, die nicht müde werden, die Bevölkerung darauf einzustellen, dass der Höhepunkt der Epidemie in Polen frühestens im Mai zu erwarten sei.
Kaczyński und seine Getreuen verfielen nun auf einen feinen Trick, den sie sich jüngst am Beispiel der Kommunalwahlen in Bayern abgeschaut hatten. Das Wahlvolk soll nun nicht stehenden Fußes an die Wahlurne kommen, sondern per Briefwahl seine Stimme kundtun. Die aber ist in Polen bislang unüblich, weshalb es umfangreichere Eingriffe in das Wahlrecht bedarf, was also den entschlossenen Politiker auf den Plan rief. Anstelle der Staatlichen Wahlkommission soll nun die polnische Post das Wahl-Kind schaukeln, die 30 Millionen Stimmberechtigten mit den nötigen Unterlagen versorgen und die abgegebenen Stimmen wieder rechtzeitig einholen. Um das Manöver zusätzlich abzusichern, wurde sogar der Postchef abgelöst, auf dessen Stuhl sitzt nun der bisherige stellvertretende Verteidigungsminister. Und alles soll wegen der außergewöhnlichen Situation außerdem unter strenger Kontrolle von Regierungsbehörden erfolgen!
Im Augenblick herrscht der Eindruck, als ob die Entscheidung über den Wahltermin im nationalkonservativen Lager ausschließlich mit Kaczyńskis Haltung steht und fällt. Schon sind erste Risse im einst festgefügten Regierungslager nicht zu übersehen, mit Jarosław Gowin, bislang Hochschul- und Wissenschaftsminister sowie stellvertretender Ministerpräsident, ist bereits ein wichtiger Mann von Bord gegangen, der den konservativen Flügel ohne den sonst üblichen nationalen Eifer zu prägen suchte. Der hatte sich mit Kaczyński überworfen, weil er einen Wahltermin am 10. Mai für illusorisch und ausgeschlossen hielt. Und auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kann eins und eins zusammenzählen, denn wenn er vor dem Parlament den Höhepunkt der Epidemie weit nach vorne in den Mai, womöglich sogar Juni schiebt, dürfte ihm klar sein, dass allgemeine, unmittelbare, gleiche, geheime und freie Wahlen in diesen Wochen nicht durchzuführen sind.
Vielleicht rächt sich für die Nationalkonservativen jetzt ein politischer Zuschnitt, der in der innenpolitischen Auseinandersetzung unter normalen Bedingungen durchaus Vorteile gebracht hatte. Getrennt waren Entscheidungsmacht, Einfluss und die Verantwortung. An Absolutismus erinnert Kaczyńskis Gebaren, der nominell lediglich Parteivorsitzender und normaler Parlamentsabgeordneter ist. Dennoch lässt er den Ministerpräsidenten unter geschicktem Vorwand regelmäßig zu Besprechungen in seinen Parteisitz einbestellen – ein Vorgang, wie er in Mitgliedsländern der Europäischen Union einzigartig sein dürfte. Und diejenigen, die letztlich vor dem Souverän und laut Verfassung die Verantwortung zu tragen haben, hatten bislang deutlich eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse, beschnitten in erster Linie durch Kaczyńskis unheimliche Machtfülle. Jetzt in der Corona-Krise, die das Land vor eine völlig unerwartete Situation stellt, offenbart dieser Zuschnitt mit einem Mal seine ganze Schwäche – die Verantwortung vor dem Souverän und die eigentliche Entscheidungsmacht klaffen weit auseinander.
Die Treuhandpolitik brach 1990 wie ein Schicksalsschlag über die Ostdeutschen herein. Waren sie im Herbst 1989 selbstbewusst für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen, nahm ihr Leben nun eine ungewollte Wendung.
9.000 volkseigene Betriebe mit insgesamt 4,1 Millionen Arbeitsplätzen sollte die Treuhandanstalt innerhalb kürzester Zeit «markttauglich» machen. Die Betriebe wurden privatisiert oder liquidiert. Millionen Menschen wurden arbeitslos. Wie erging es den Menschen dabei? Wie gingen sie mit dieser «Schocktherapie» um? Wie verarbeiteten sie die biografischen Brüche?
Davon erzählt die Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie gibt einen Einblick in die Vielzahl der Lebenswege. Die 13 ausgewählten Branchen und Betriebe stehen exemplarisch für die ostdeutsche Wirtschaft. Die meisten ostdeutschen Familien waren vom Wirken der Treuhandpolitik betroffen, ihr ausgeliefert. Sie erlebten die Treuhandanstalt als Schicksalsmacht.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lässt in der von Rohnstock-Biografien kuratierten Ausstellung Zeitzeug*innen zu Wort kommen, deren Lebensgeschichte durch das Agieren der Treuhandanstalt unmittelbar beeinflusst wurde. Sie waren zur Wendezeit beispielsweise Schlosser auf der Neptunwerft Rostock, Kranführerin im Stahlwerk Riesa, Maurer im Chemiekombinat Buna, Kumpel im Kaliwerk Bischofferode, Fernsehelektronikerin in Oberschöneweide - oder Sicherheitsinspektor im Braunkohlenkombinat Lauchhammer oder Betriebsdirektor des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer.
Die Folgen der Treuhandpolitik für Frankfurt (Oder) sind in der Ausstellung durch die Darstellung der Geschichte des Halbleiterwerks und seiner Beschäftigten präsent.
Als lebensgroße Porträts treten sie den Besucher*innen in der Ausstellung buchstäblich auf Augenhöhe gegenüber und berichten von ihren Erfahrungen. Über QR-Code können kurze Sequenzen aus ihren Erzählungen angehört werden, in denen sich die damalige Stimmungslage auch heute noch widerspiegelt.
Die Ausstellung ist nach der Eröffnung bis zum 23. Januar 2020 in Frankfurt (Oder) zu sehen:
Ort der Ausstellung
Europa-Universität Viadrina, Gräfin-Dönhoff-Gebäude
Europaplatz, 15320 Frankfurt (Oder)
Öffnungszeiten der Ausstellung
Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr
Wir laden herzlich zur Eröffnung der Ausstellung am 6. Januar 2020, 17 Uhr ein:
mit René Wilke (Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder)), Christian Hoßbach (Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Berlin-Brandenburg), Dr. Martin Wilke (bis Dezember 1990 Entwicklungsingenieur und Gruppenleiter in der Messverfahrensentwicklung im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder; 2000-2018 Oberbürgermeister von Frankfurt) und einem Grußwort von Prof. Dr. Julia von Blumenthal (Präsidentin der Europa-Universtät Viadrina)
Am 11. Februar 2020 stellten die beiden Herausgeber, die Historiker Gerd-Rüdiger Stephan und Dr. Detlef Nakath, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ihren kommentierten Protokollband "Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht" vor, moderiert von Prof. Dr. Siegfried Prokop.
Am 20. Januar 1990 beschloss die Zentrale Schiedskommission der SED-PDS den Ausschluss von 14 (von 17) führenden Funktionären und ehemaligen Politbüromitglieder aus der SED-Nachfolgepartei. Nun, nach 30 Jahren, sind die Tonbandprotokolle dieser langen Sitzung aufbereitet und können einerseits über die Homepage der RLS nachgehört werden. Andererseits erscheint die kommentierte Schriftfassung dieser Protokolle, ergänzt durch die schriftlichen Stellungnahmen der Befragten, einordnende Beiträge und biographische Notizen von Dr. Volkmar Schöneburg, Tom Strohschneider und Michael Herms voraussichtlich am 24. Februar 2020 im Karl-Dietz-Verlag.
Mit den drei Protagonisten des Abends waren zugleich auch mehrere Jahrzehnte Vereinsgeschichte präsent - waren doch Gerd-Rüdiger Stephan und Detlef Nakath über viele Jahre Geschäftsführer, Siegfried Prokop drei Wahlperioden lang Vorsitzender der RLS Brandenburg, worauf der heutige Vorsitzende, Steffen Kludt, bei seiner Begrüßung die über 50 Gäste aufmerksam machte.
Nachdem Gerd-Rüdiger Stephan den Fund der Tonbandprotokolle vor ca. 2 Jahren im Archiv der RLS, die Methode ihrer Bearbeitung und damit auch die Entstehung des Buches skiziiert und an die Zusammensetzung des Politbüros erinnert hatte, ordnete Detlef Nakath die damalige Anhörung in den historischen Zusammenhang ein (Stichworte: Außerordentlicher Parteitag, Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1990 mit 250.000 Teilnehmenden, "Sturm" auf die Stasi-Zentralen am 15.1.1990, zeitgleiche Sitzung des Parteivorstands, Modrows Plan für die Vereinigung, Umbenennung der Partei von SED-PDS in PDS am 4.2.1990, Beschluss zur Vorverlegung der Wahlen auf den 18.3.1990, ...) und beschrieb die Sitzung der auf dem außerordentlichen Parteitag berufenen Schiedskommission mit dem Zitat von Volkmar Schöneburg als "notwendigen Anachronismus", so sie versuchte, den Stalinismus mit poststalinistischen Mitteln auszutreiben.
An der anschließenden ausführlichen und zum Teil sehr emotionalen Diskussion beteiligten sich auch Zeitzeug*innen - so das gewählte Mitglied der Schiedskommission, Horst Nörenberg, oder der damalige Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam, Heinz Vietze.
Bericht zur Veranstaltung
In der jungen Welt ist am 13. Februar 2020 ein ausführlicher Bericht zur Veranstaltung von Arnold Schölzel erschienen, auf den wir an dieser Stelle gern verweisen:
von Arnold Schölzel (junge Welt, 13.2.2020, S. 11)
Die Tonbandprotokolle
Im Herbst 1989, vor nunmehr 30 Jahren, gingen Hunderttausende Bürger in Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt, Plauen und zahlreichen anderen Städten auf die Straße. Sie demonstrierten für eine Demokratisierung ihres Landes, für Reisefreiheit und die Entmachtung der alten Führungsstrukturen in der DDR. Darunter befanden sich auch zahlreiche Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sowie der anderen DDR-Blockparteien, die mehrheitlich für die Überwindung der diktatorischen Herrschaftsformen und des strukturellen Stalinismus eintraten.
Vielen von ihnen, insbesondere den SED-Mitgliedern, ging es um die Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen und um einen demokratischen Sozialismus in der DDR. Nachdem SED-Generalsekretär Erich Honecker und sieben Wochen später auch sein Nachfolger Egon Krenz sowie das gesamte Zentralkomitee und Politbüro zurückgetreten waren, hatte der von der Basis erzwungene Außerordentliche Parteitag den "unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System" beschlossen. Ein neues Parteiprogramm und Statut sowie grundsätzlich veränderte Führungsstrukturen standen am Beginn der Tätigkeit einer Partei, die sich nunmehr für wenige Wochen SED-PDS nannte. Bereits am 4. Februar 1990 beschloss der Parteivorstand den neuen Namen: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS).
Auf dem kurzen Weg zu diesem neuen Namen lag ein wichtiges Ereignis. In einer Sitzung, die vom Vormittag des 20. Januar bis in die frühen Morgenstunden des 21. Januar 1990 dauerte, tagte die vom Außerordentlichen Parteitag anstelle einer bisherigen Zentralen Parteikontrollkommission gewählte Schiedskommission unter Leitung ihres Vorsitzenden Günther Wieland. Sie beschloss nach intensiver Anhörung von 15 ehemaligen Mitgliedern und Kandidaten des SED-Politbüros den Auschluss von 14 Mitgliedern aus der Partei. Nicht ausgeschlossen wurde nach der Anhörung Siegfried Lorenz. Nicht befragt und nicht ausgeschlossen wurden Hermann Axen - auch mit Verweis auf seine Verfolgung im Faschismus - und Werner Eberlein, dessen Vater, Hugo Eberlein, 1941 im Zuge der stalinistischen Säuberungen erschossen wurde.
Diese Sitzung wurde aufgezeichnet. Nach 30 Jahren veröffentlichen die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Karl Dietz Verlag nun die Tonbandprotokolle dieser Nacht. Im Verlag erscheint die Transkription der Gespräche im vollen Wortlaut, zusammen mit zusätzlichen historischen Dokumenten sowie einem Geleitwort von Dagmar Enkelmann und Beiträgen von Michael Herms, Volkmar Schöneburg und Tom Strohschneider.
Befragt wurden:
- Margarete Müller (26 Jahre Kandidatin des Politbüros und Mitglied des DDR-Staatsrats – befragt vor allem zu verfehlter Landwirtschaftspolitik und Inanspruchnahme von Privilegien.)
- Werner Walde (Kandidat des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Cottbus – befragt vor allem über Informationsflüsse Cottbus-Berlin, verfehlte Energiepolitik und Privilegien.)
- Joachim Herrmann (Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Arbeit innerhalb der Parteiführung, Manipulation Massenmedien, Verhältnis zur KPdSU und Privilegien.)
- Siegfried Lorenz (Mitglied des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt – befragt vor allem zu Informationsflüssen Karl-Marx-Stadt-Berlin und Tätigkeit als Sekretär für Parteifragen und Privilegien.)
- Kurt Hager (Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Einhaltung des Parteistatuts, Verantwortung für Gängelei in Kulturpolitik, Bildung und Wissenschaft und Privilegien.)
- Alfred Neumann (Mitglied des Politbüros, 1. Stellvertreter des DDR-Ministerratsvorsitzenden – befragt vor allem zur Arbeit innerhalb der Parteiführung und Privilegien.)
- Horst Dohlus (Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zu Informationsflüssen Parteibasis-Politbüro, Unterdrückung kritischer Meinungen innerhalb der SED, Rolle beim Ablauf der Wahlen vom Mai '89, Privilegien.)
- Heinz Keßler (Mitglied des Politbüros, Minister für Nationale Verteidigung – befragt vor allem zu Information des Politbüros über Lage in der NVA, Haltung zur KPdSU und Privilegien für NVA-Kader.)
- Erich Mückenberger (Mitglied des Politbüros und Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission – befragt vor allem zur Verantwortung für schlechte Kritik-Kultur innerhalb der SED und Privilegien.)
- Werner Jarowinsky (Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zu seiner Verantwortung für geschönte Berichte über schlechte Versorgungslage, Zustand der Volkswirtschaft, Stimmung in der Bevölkerung und Privilegien.)
- Hans-Joachim Böhme (Mitglied des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle – befragt vor allem zu Informationsflüssen Bezirk Halle nach Berlin, Rolle bei Demonstrationen im Bezirk Halle im Oktober 89 und Privilegien.)
- Günter Schabowski (Mitglied des Politbüros, ZK-Sekretär, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin – befragt vor allem zu Informationsflüssen Bezirksparteiorganisation-Politbüro, Anteil am Sturz Erich Honeckers, Verantwortung für Übergriffe der Sicherheitsorgane am 40. Jahrestag der DDR und Privilegien.)
- Inge Lange (Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Mitverantwortung für ungenügende Frauenpolitik und Privilegien.)
- Egon Krenz (Generalsekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR – befragt vor allem zu kritikloser Unterstützung der Parteiführung, Rolle bei den Wahlen im Mai 1989, Einfluss auf das Ministerium für Staatssicherheit und Privilegien.)
- Gerhard Schürer (Mitglied des Politbüros, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR – befragt vor allem zur Verantwortung für wirtschaftliche Lage der DDR und Privilegien.)
Interview mit Dr. Detlef Nakath im Deutschlandfunk Kultur
Detlef Nakath im Gespräch mit Liane von Billerbeck in der Sendung "Studio 9" am 20.1.2020
Die Halbgötter der Partei vor ihrem politischen Ende.
Die Publikation
Ausschluss. Das Das Politbüro vor dem Parteigericht
Die Verfahren 1989/1990 in Protokollen und Dokumenten
Herausgegeben von Gerd-Rüdiger Stephan und Detlef Nakath
Bearbeitet von Christine Krauss
Mit einem Geleitwort von Dagmar Enkelmann sowie Beiträgen von Michael Herms, Volkmar Schöneburg und Tom Strohschneider
552 Seiten, geb., 49,90 Euro
ISBN 978-3-320-02365-2
Karl Dietz Verlag
dietzberlin.de
Die Treuhandpolitik brach 1990 wie ein Schicksalsschlag über die Ostdeutschen herein. Waren sie im Herbst 1989 selbstbewusst für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen, nahm ihr Leben nun eine ungewollte Wendung.
9.000 volkseigene Betriebe mit insgesamt 4,1 Millionen Arbeitsplätzen sollte die Treuhandanstalt innerhalb kürzester Zeit «markttauglich» machen. Die Betriebe wurden privatisiert oder liquidiert. Millionen Menschen wurden arbeitslos. Wie erging es den Menschen dabei? Wie gingen sie mit dieser «Schocktherapie» um? Wie verarbeiteten sie die biografischen Brüche?
Davon erzählt die Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie gibt einen Einblick in die Vielzahl der Lebenswege. Die 13 ausgewählten Branchen und Betriebe stehen exemplarisch für die ostdeutsche Wirtschaft. Die meisten ostdeutschen Familien waren vom Wirken der Treuhandpolitik betroffen, ihr ausgeliefert. Sie erlebten die Treuhandanstalt als Schicksalsmacht.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lässt in der von Rohnstock-Biografien kuratierten Ausstellung Zeitzeug*innen zu Wort kommen, deren Lebensgeschichte durch das Agieren der Treuhandanstalt unmittelbar beeinflusst wurde. Sie waren zur Wendezeit beispielsweise Schlosser auf der Neptunwerft Rostock, Kranführerin im Stahlwerk Riesa, Maurer im Chemiekombinat Buna, Kumpel im Kaliwerk Bischofferode, Fernsehelektronikerin in Oberschöneweide - oder Sicherheitsinspektor im Braunkohlenkombinat Lauchhammer oder Betriebsdirektor des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer.
Die Treuhandpolitik brach 1990 wie ein Schicksalsschlag über die Ostdeutschen herein. Waren sie im Herbst 1989 selbstbewusst für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen, nahm ihr Leben nun eine ungewollte Wendung.
9.000 volkseigene Betriebe mit insgesamt 4,1 Millionen Arbeitsplätzen sollte die Treuhandanstalt innerhalb kürzester Zeit «markttauglich» machen. Die Betriebe wurden privatisiert oder liquidiert. Millionen Menschen wurden arbeitslos. Wie erging es den Menschen dabei? Wie gingen sie mit dieser «Schocktherapie» um? Wie verarbeiteten sie die biografischen Brüche?
Davon erzählt die Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie gibt einen Einblick in die Vielzahl der Lebenswege. Die 13 ausgewählten Branchen und Betriebe stehen exemplarisch für die ostdeutsche Wirtschaft. Die meisten ostdeutschen Familien waren vom Wirken der Treuhandpolitik betroffen, ihr ausgeliefert. Sie erlebten die Treuhandanstalt als Schicksalsmacht.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lässt in der von Rohnstock-Biografien kuratierten Ausstellung Zeitzeug*innen zu Wort kommen, deren Lebensgeschichte durch das Agieren der Treuhandanstalt unmittelbar beeinflusst wurde. Sie waren zur Wendezeit beispielsweise Schlosser auf der Neptunwerft Rostock, Kranführerin im Stahlwerk Riesa, Maurer im Chemiekombinat Buna, Kumpel im Kaliwerk Bischofferode, Fernsehelektronikerin in Oberschöneweide - oder Sicherheitsinspektor im Braunkohlenkombinat Lauchhammer oder Betriebsdirektor des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer.
Die Folgen der Treuhandpolitik für Frankfurt (Oder) sind in der Ausstellung durch die Darstellung der Geschichte des Halbleiterwerks und seiner Beschäftigten präsent.
Als lebensgroße Porträts treten sie den Besucher*innen in der Ausstellung buchstäblich auf Augenhöhe gegenüber und berichten von ihren Erfahrungen. Über QR-Code können kurze Sequenzen aus ihren Erzählungen angehört werden, in denen sich die damalige Stimmungslage auch heute noch widerspiegelt.
Die Ausstellung ist nach der Eröffnung bis zum 23. Januar 2020 in Frankfurt (Oder) zu sehen:
Ort der Ausstellung
Europa-Universität Viadrina, Gräfin-Dönhoff-Gebäude
Europaplatz, 15320 Frankfurt (Oder)
Öffnungszeiten der Ausstellung
Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr
Wir laden herzlich zur Eröffnung der Ausstellung am 6. Januar 2020, 17 Uhr ein:
mit René Wilke (Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder)), Christian Hoßbach (Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Berlin-Brandenburg), Dr. Martin Wilke (bis Dezember 1990 Entwicklungsingenieur und Gruppenleiter in der Messverfahrensentwicklung im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder; 2000-2018 Oberbürgermeister von Frankfurt) und einem Grußwort von Prof. Dr. Julia von Blumenthal (Präsidentin der Europa-Universtät Viadrina)
Als lebensgroße Porträts treten sie den Besucher*innen in der Ausstellung buchstäblich auf Augenhöhe gegenüber und berichten von ihren Erfahrungen. Über QR-Code können kurze Sequenzen aus ihren Erzählungen angehört werden, in denen sich die damalige Stimmungslage auch heute noch widerspiegelt.
Die Wanderausstellung ist vom 4. bis 21. November in der Friedensgedächtniskirche in Lauchhammer zu sehen.
Öffnungszeiten der Ausstellung
Dienstag bis Freitag: 10 bis 17 Uhr
Samstag und Sonntag: 13 bis 17 Uhr
Am 4. November um 18 Uhr laden wir herzlich zur Eröffnung der Ausstellung ein:
mit Roland Pohlenz (Bürgermeister von Lauchhammer), Marlen Block (MdL, stellv. Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg), Axel Troost (Senior Fellow für Wirtschafts- und Europapolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Zeitzeug*innen
Zudem wird es zwei begleitende Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit. Prof. Dr. Christa Luft (Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung) geben:
Zum Faltblatt zur Ausstellung ...
Zur umfangreichen Begleitbroschüre ...
Zur Veranstaltungsübersicht in Lauchhammer und Senftenberg ...
Die Treuhandpolitik brach 1990 wie ein Schicksalsschlag über die Ostdeutschen herein. Waren sie im Herbst 1989 selbstbewusst für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen, nahm ihr Leben nun eine ungewollte Wendung.
9.000 volkseigene Betriebe mit insgesamt 4,1 Millionen Arbeitsplätzen sollte die Treuhandanstalt innerhalb kürzester Zeit «markttauglich» machen. Die Betriebe wurden privatisiert oder liquidiert. Millionen Menschen wurden arbeitslos. Wie erging es den Menschen dabei? Wie gingen sie mit dieser «Schocktherapie» um? Wie verarbeiteten sie die biografischen Brüche?
Davon erzählt die Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie gibt einen Einblick in die Vielzahl der Lebenswege. Die 13 ausgewählten Branchen und Betriebe stehen exemplarisch für die ostdeutsche Wirtschaft. Die meisten ostdeutschen Familien waren vom Wirken der Treuhandpolitik betroffen, ihr ausgeliefert. Sie erlebten die Treuhandanstalt als Schicksalsmacht.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lässt in der von Rohnstock-Biografien kuratierten Ausstellung Zeitzeug*innen zu Wort kommen, deren Lebensgeschichte durch das Agieren der Treuhandanstalt unmittelbar beeinflusst wurde. Sie waren zur Wendezeit beispielsweise Schlosser auf der Neptunwerft Rostock, Kranführerin im Stahlwerk Riesa, Maurer im Chemiekombinat Buna, Kumpel im Kaliwerk Bischofferode, Fernsehelektronikerin in Oberschöneweide - oder Sicherheitsinspektor im Braunkohlenkombinat Lauchhammer oder Betriebsdirektor des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer.
Als lebensgroße Porträts treten sie den Besucher*innen in der Ausstellung buchstäblich auf Augenhöhe gegenüber und berichten von ihren Erfahrungen. Über QR-Code können kurze Sequenzen aus ihren Erzählungen angehört werden, in denen sich die damalige Stimmungslage auch heute noch widerspiegelt.
Die Wanderausstellung ist vom 4. bis 21. November in der Friedensgedächtniskirche in Lauchhammer zu sehen.
Öffnungszeiten der Ausstellung
Dienstag bis Freitag: 10 bis 17 Uhr
Samstag und Sonntag: 13 bis 17 Uhr
Am 4. November um 18 Uhr laden wir herzlich zur Eröffnung der Ausstellung ein:
mit Roland Pohlenz (Bürgermeister von Lauchhammer), Marlen Block (MdL, stellv. Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg), Axel Troost (Senior Fellow für Wirtschafts- und Europapolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Zeitzeug*innen
Zudem wird es zwei begleitende Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit. Prof. Dr. Christa Luft (Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung) geben:
Zum Faltblatt zur Ausstellung ...
Zur umfangreichen Begleitbroschüre ...
Zur Veranstaltungsübersicht in Lauchhammer und Senftenberg ...
Und da der Festivaltrailer zauberhaft wie immer ist, hier als allererstes der Hinweis dazu:
"Für die einen ist er „das Wunderkind aus dem Plattenbau“ (B.Z. – August 2018), für die anderen „der Mann, der als Kind Fantasie-Bonbons aß“ (Berliner Zeitung - Februar 2018) – für das FilmFestival Cottbus ist er ein alter Bekannter: Axel Ranisch. Schon vor zehn Jahren, drehten er und Monika Anna Wojtyllo gemeinsam den Festivaltrailer des damals 18. FFC, für die aktuelle und 28. Ausgabe hat sich das Duo dem Thema noch einmal angenommen.Zwei TATORTe, eine Roman-Veröffentlichung und einige Kino-Erfolge weiter, ist Ranisch zur festen Größe des Unterhaltungsbetriebs aufgestiegen, der als kreativer Tausendsassa gilt und dessen Reservoir an Talenten unerschöpflich scheint – vielleicht mal vom Sport abgesehen, was nur den überrascht, der weiß, dass beide Eltern Leistungssportler waren.
Die Lubina, der Hauptpreis des FilmFestival Cottbus, war nie so liebreizend, was die wörtliche Übersetzung von Lubina aus dem Sorbischen ist, wie in der 2018er-Trailer-Interpretation durch Regisseur Ranisch und seine Hauptdarstellerin Monika Anna Wojtyllo, die der Dreh nun wieder zusammenführte."
Der Spielraum für Frauen- und Gleichstellungspolitik in Polen ist derzeit sehr eng: Geld für Frauenprojekte wurde auf allen Ebenen bereits gnadenlos gestrichen, ob es nun um Beratungsstellen für Betroffene häuslicher Gewalt oder Frauenhäuser oder auch nur Mädchenfußballprojekte ging. Der Vorwurf, sich nicht gleichermaßen an alle Geschlechter zu wenden, führte bei all diesen Einrichtungen und Projekten zu gravierenden Einschränkungen. Besonders die Ablehnung des rigorosen Abtreibungsrechts spielt aber weiterhin eine verbindende und mobilisierende Rolle über Geschlechter, Generationen und Parteien hinweg. Der gewaltige und auch international nachhallende „czarny protest“ (schwarzer Protest) aus dem vergangenen Jahr hatte die noch weitere Einschränkung des Abtreibungsrechts immerhin erst einmal gestoppt. Mit diesem Erfolg im Rücken gilt es nun eine wirksame Strategie für das anstehende Wahljahr zu erarbeiten.
Die Presseinformation des FFC gibt einen guten Überblick über den diesjährigen Festivaljahrgang:
Verfeindete Nachbarn und verratene Freunde
Das Filmprogramm des 28. FilmFestival Cottbus (FFC) lässt scheinbare Widersprüche aufeinanderprallen. Filme der FFC-Sektionen CLOSE UP UA, RUSSKIY DEN, SPOTLIGHT: GEORGIA und FREUND ALS FEIND beweisen, dass klassische Freund-Feind-Bilder bröckeln. „Im umfangreichen Programm des FilmFestival Cottbus zeigen wir die vielen Themen, die Osteuropa beschäftigen, setzen ganz unterschiedliche inhaltliche Akzente und geben unserem Publikum die Möglichkeit, sich tiefer mit Regionen, Ländern oder Themen auseinanderzusetzen“, sagt Bernd Buder, Programmdirektor des FilmFestival Cottbus.
Die Filmreihe CLOSE UP UA, die sich dem gegenwärtigen ukrainischen Kino widmet, beleuchtet den Prozess der schwierigen Identitätsfindung eines Landes, das sich einerseits in einem Krieg, andererseits auf dem Weg nach Europa befindet. Zwischen Nation Building und nationalistischen Sichtweisen diskutiert das gegenwärtige ukrainische Kino ganz unterschiedliche Blickwinkel auf Geschichte und Gegenwart eines Landes im Umbruch.
Der skandalöse Fall Oleg Sentsov steht sinnbildlich für die Probleme der Region: Der ukrainische Regisseur wurde 2014 von der russischen Justiz zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ukrainische Filmschaffende, aber auch Kollegen aus Deutschland sind noch immer schockiert und fordern seine Freilassung. Anna Palenchuk, die Sentsovs Theaterstück NUMBERS produziert, ist in Cottbus Teil der Internationalen Jury des WETTBEWERB SPIELFILM.
„Ukrainische Filmemacher reflektieren die Situation in ihrem Land treffsicher mit bitter-süßem Understatement, in das sich oft eine verhalten ironische Note und jede Menge Trauerarbeit mischt. Denn der Osten des Landes steht im Zeichen des Krieges im Donbass. Fast jeder Ukrainer ist davon betroffen“, erläutert Bernd Buder. „Als eines der wenigen Filmfestivals zeigen wir sowohl in den Filmreihen RUSSKIY DEN und CLOSE UP UA als auch im SPECTRUM und SPECIALS Produktionen, die sich mit dem Krieg im Donbass beschäftigen“, erklärt der Programmdirektor. „Filme aus den beiden Ländern teilen dabei eine ähnlich kritische Haltung gegenüber dem Krieg.“
Innerhalb der Filmreihe RUSSKIY DEN (Russischer Tag), die eine umfängliche wie vielfältige Darstellung des aktuellen russischen Kinos beinhaltet, läuft MIRA von Denis Shabaev. Der Regisseur vermischt Dokumentarisches mit Fiktivem und erzählt die Geschichte von Mira Rojach, der 2014 als Freiwilliger bei den pro-russischen Rebellen im Donbass kämpfte. MIRA beleuchtet neben MŪRIS | UNRUHIGE GRENZEN (LT, CZ 2017, SPECIALS) und ZHIZN VECHNAYA | EWIGES LEBEN (RU 2017, SPECTRUM) die Absurdität des Donbass-Konflikts aus russischem Blickwinkel.
„Die russische Filmbranche ist von politischen Konflikten – den Problemfeldern Ukraine, der Krimfrage, Antiterrorkampf in Syrien und dem europäischen Wirtschaftsembargo – weiterhin betroffen“, erklärt Marcel Maïga, Kurator von RUSSKIY DEN. „Ob der mangelnden Kooperation mit westlichen Partnern ist die Filmwirtschaft auf sich gestellt. Mit seinen Möglichkeiten der Förderung bzw. Nicht-Förderung von bestimmten unliebsamen Filmprojekten und deren Verleih hat der Staat ein adäquates Mittel der Einflussnahme. Während historische, die Sowjetzeit glorifizierende Filme in Russland flächendeckend Kassenschlager sind, haben die auf internationalen Filmfestivals gefeierten kritischeren Produktionen im Verleih nur ein Schattendasein und wenige Zuschauer.“
Anders beim FFC, wo der Festivalhit LETO kurz vor seinem deutschen Kinostart zu sehen ist. Der gegenwärtig in Russland wegen Veruntreuung angeklagte Regisseur Kirill Serebrennikov setzt mit dem Film der Band KINO ein filmisches Denkmal. Mit dem jakutischen Beitrag TOYON KYYL | KÖNIGSADLER erkundet das FilmFestival Cottbus – fernab der Hauptstadt Moskau und der aktuellen Krisenherde – die weitgehend unbekannte Region Jakutien und deren Geschichte.
Die Reihe CLOSE UP UA wird unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung und RUSSKIY DEN von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mit dem SPOTLIGHT: GEORGIA setzt das FFC ein Land in Szene, das immer wieder Stammgast auf internationalen Filmfestivals ist. Das Erfolgsrezept: Man setzt seit einigen Jahren auf Koproduktionen mit dem westlichen Ausland. Die 1990er-Jahre, in denen wegen der blutigen Konflikte um Südossetien und Abchasien kaum Filme produziert wurden und man von einer verlorenen Generation an Filmemachern sprechen muss, sind überwunden. SPOTLIGHT: GEORGIA wirft einen Blick auf diese wechselvolle Geschichte: von Georgi Schengelaias früher Literaturverfilmung ALAVERDOBA über Gio Mgeladzes ARA, MEGOBARO | NEIN, MEIN FREUND, der 1993 die tragischen Spannungen in seinem Land pointiert auf den Punkt bringt, bis zu frühen Kurzfilmen von internationalen Regie-Stars wie George Ovashvili und Nana Ekvtimishvili, hin zu aufstrebenden Regisseuren wie Tornike Gogrichiani, der in seinem ANDRO das Leben seines Titelhelden durch einen Anhalter aus den Fugen geraten lässt. Georgien-Kenner sollten MEZOBLEBI | NACHBARN von Gigisha Abashidze ins Auge fassen. Der Regisseur erzählt über den Mikrokosmos verschiedener Familien, deren heruntergekommene Häuser sich einen Hof teilen. Das für die Renovierung fehlende Geld hat ein Investor zu Genüge, er will ebendort ein Bürohaus errichten. Zustimmen müssen alle aus der Schicksalsgemeinschaft. Einige wittern die große Chance, andere denken anders.
Die Reihe SPOTLIGHT: GEORGIA wird gefördert vom Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg.
Immer wieder befeuern autoritäre Staaten und autoritäre Populisten Verrat oder auch seine Spielart, das Denunziantentum. Misstrauen wird zum ständigen Begleiter, Freunde werden zu Feinden, aus einem Miteinander wird ein Gegeneinander. In der Sektion FREUND ALS FEIND nimmt das FFC eine Auswahl von Filmen in sein Programm, die nicht verurteilen, sondern erkunden wollen, die sich Empathie erlauben und der Komplexität von Charakter, Psychologie und politischer Überzeugung der „Täter“ Raum geben.
„Nicht die Anklage steht dabei im Vordergrund, sondern der Wunsch tiefer einzudringen in ein Phänomen, das schwer zu fassen ist“, erklärt Karin Fritzsche, Kuratorin der Filmreihe. „Die Filme geben Einblicke in Persönlichkeitsstrukturen und Argumentationen, Manipulationsweisen und Wirkungszusammenhänge, zu denen der Zuschauer sonst vermutlich keinen Zugang hätte.“
In VATERLANDSVERRÄTER von Annekatrin Hendel (DE 2011) begegnet das Publikum Paul Gratzik. Er war Arbeiter, Liebling der Frauen und in den 1970ern gefeierter DDR-Literat. In den 1960ern hatte er sich aus Überzeugung von der Stasi anwerben lassen. Anfang der 1980er-Jahre stieg er aus, enttarnte sich selbst und fiel ins Bodenlose. Ein kritisches, verstörendes, liebevolles Porträt.
Hendels Film ANDERSON (DE 2014) spürt wiederum Sascha Anderson, dem wohl prominentesten und „schillerndsten“ IM der DDR, und dessen zerrissener Persönlichkeit nach. Die Regisseurin geht auf die Suche, sammelt Eindrücke, Fakten, Selbstzeugnisse ihrer Protagonisten, versucht, hinter ihre Panzerung zu schauen. Mit Filmen wie unter anderem DRÁGA BESÚGOTT BARÁTAIM | LIEBE BESPITZELTE FREUNDE (HU 2012) von Sára Cserhalmi geht die Filmreihe FREUND ALS FEIND über die rein deutsche Perspektive hinaus: Der 60-jährige Ándor – Literat und vor 1989 im kulturellen und ökologischen Untergrund Ungarns aktiv – erfährt aus den Akten, dass sein Freund János ihn jahrelang denunziert hat. Hin- und her gerissen zwischen Wut, Verletzung und dem Wunsch nach Revanche, sucht Ándor nach einer Lösung, diesen Vertrauensbruch aufzuarbeiten.
In Zeiten, in denen Parteien Kinder dazu aufrufen, ihre Lehrer geschützt durch die Anonymität des Internets an den Pranger zu stellen, könnten die Bezüge der Reihe zur Gegenwart aktueller nicht sein.
Die Reihe FREUND ALS FEIND wird gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Vor diesem Hintergrund fand am 29. und 30. September in Warschau die Konferenz „100 Jahre politische Frauenrechte in Polen – Herausforderungen für die Demokratie“ statt. Organisiert wurde sie vom Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit der Izabela-Jaruga-Nowacka-Stiftung. Izabela Jaruga-Nowacka war Polens Regierungsbevollmächtigte für die Gleichstellung von Mann und Frau, die beim Absturz der Präsidentenmaschine in Smolensk 2010 ums Leben kam. Die nach ihr benannte Stiftung engagiert sich sehr für gleichstellungspolitische Anliegen in Polen.
Im nächsten Jahr stehen in Polen mehrere Wahlen an: Von besonderem Interesse sind die Parlamentswahl im Herbst und natürlich die Europawahl im Frühjahr. Es wird befürchtet, dass die PiS-Regierung mit einem weiteren Sieg bei der Parlamentswahl noch viel deutlicher ihre Agenda durchsetzen wird, als dies bisher schon der Fall ist. Ein europäisches Wahlergebnis, das den rechten Parteien Aufwind gäbe, wäre auch für die PiS bei den Parlamentswahlen eine gute Ausgangsbasis. Unter diesen Vorzeichen nahmen Frauenpolitikerinnen unterschiedlicher linker, grüner, sozialdemokratischer und liberaler politischer Parteien bzw. Gruppierungen an der Konferenz teil. In den hochkarätig besetzten Diskussionen und Workshops ging es um die „Rechtsstaatlichkeit und Verteidigung von Frauenrechten in der EU“, um „Lokal- und Regionalpolitik angesichts der Gefahren von Autoritarismus“ und um „Menschenrechte in der heutigen Welt“. Im Rahmen der Konferenz fand auch eine Demonstration für reproduktive Rechte in der Innenstadt von Warschau statt. Es wurde deutlich, dass sich viele prominente Frauenpolitikerinnen von nationaler und regionaler Ebene sehr für eine übergreifende Zusammenarbeit der demokratischen Oppositionsgruppen einsetzen. Ein sehr ermutigendes Signal! Es gibt Hoffnung, dass gemeinsam Frauenrechte verteidigt werden können. Der Gründung einer separaten Frauenpartei wurde hingegen wenig Sympathie entgegen gebracht.
Prof. Dr. Wilhelm Ersil feierte am 4. Juli 2018 seinen 90. Geburtstag und am 6. Juli 2018 kamen ehemalige Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen, Wegbegleiter*innen zu einem Symposium an der Uni Potsdam in Griebnitzsee zusammen, um gemeinsam über den aktuellen Zustand der EU zu diskutieren.
Eingeladen dazu hatten WeltTrends, für den Wilhelm Ersil regelmäßig als Autor tätig ist, und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, deren Mitglied er ist - seit über 22 Jahren. Und bereits zuvor war Wilhelm Ersil als Referent im Land unterwegs, und dabei immer auch mit Fragen der Europäischen Integration beschäftigt. Hervorzuheben ist dabei besonders die in den 1990er Jahren mit ihm mitbegründete Reihe "Europa - Deutschland - Brandenburg", die Wilhelm Ersil maßgeblich mitprägte.
Prof. Dr. Raimund Krämer hat zu dieser Veranstaltung folgenden Bericht verfasst:
Am 6. Juli 2018 fand an der Universität Potsdam ein europapolitisches Symposium statt, das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg und dem WeltTrends-Institut für Internationale Politik veranstaltet wurde. Der Anlass war ein ganz besonderer. Zwei Tage zuvor hatte Prof. Dr. Wilhelm Ersil, der marxistische Europa-Forscher und Mitbegründer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, seinen 90. Geburtstag begangen. Was lag näher, die hochaktuelle Thematik um das Schicksal der Europäischen Union, die gegenwärtig in einer existentiellen Krise ist, mit dem persönlichen Jubiläum eines Mannes zu verbinden, der über sieben (!) Jahrzehnte zu den politischen, ökonomischen und militärischen Entwicklungen in Westeuropa geforscht, publiziert und gelehrt hatte. Seine erste Veröffentlichung lag sechs Jahrzehnte zurück; seine jüngste Publikation zur Militarisierung der EU war im Maiheft der Zeitschrift WeltTrends in diesem Jahr erschienen.
Die Resonanz auf die Einladung war außerordentlich. Der große Seminarraum im modernen Uni-Gebäude in Griebnitzsee war bis auf den letzten Stuhl gefüllt. Gekommen waren alte Freunde, ehemalige Kolleg*innen und viele Schüler*innen. Entsprechend wurde auch das akademische Viertel noch für Glückwünsche für den Jubilar und viel Hallo beim Wiederbegrüßen alter Bekannter genutzt. Im Namen der beiden Veranstalter eröffnete Prof. Dr. Raimund Krämer das Symposium. Die offizielle Gratulation erfolgte dann durch Gerry Woop, Staatssekretär für Europa im Berliner Senat und langjähriger Redakteur in der Zeitschrift WeltTrends. Er verband persönliche Erinnerungen mit aktuellen europapolitischen Fragen in der Berliner Politik. Danach ernannte der Vorstand des neu gegründeten Instituts für Internationale Politik Prof. Dr. Wilhelm Ersil für seine langjährige Forschungs- und Publikationstätigkeit und die enge Zusammenarbeit mit WeltTrends zum Honorary Research Fellow.
Dann referierte der Jubilar; 30 Minuten am Pult stehend, klar strukturiert und über die aktuellsten Entwicklungen bestens informiert. Er warf die Frage nach der weiteren Existenz der EU auf, ging auf die Bedeutung des Brexit ein, skizzierte die Möglichkeiten für weitere Ent-wicklung außerhalb der Verträge und stellte die nukleare Frage der EU in den Raum.
Im Anschluss sprach ein alter Bekannter und enger Freund von Prof. Ersil – Helmut Scholz, Abgeordneter der LINKEN im Europäischen Parlament. Natürlich gab es auch hier Persönliches. Zugleich stellte auch Scholz grundsätzliche Fragen wie die nach dem Verhältnis von intergovermentalen und gemeinschaftlichen Prozessen in der EU.
Dr. Petra Erler, ehemalige Kollegin des Jubilars und langjährig in der EU tätig, moderierte die an-schließende Debatte, in der es immer wieder einen Mix aus persönlichen Erinnerungen und grundsätzlichen Fragen an den Jubilar gab. Und Willi Ersil antwortete allen.
Das Symposium endete mit der Überreichung der Festschrift durch Helmut Scholz und Raimund Krämer. Unter dem Titel „Nachdenken über Europa“ enthält sie Texte von Willi Ersil aus sechs Jahrzehnten und Beiträge von Kollegen, Schülern und Freunden.
Nach dem traditionellen Gruppenfoto stießen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums beim abschließenden Empfang auf Willi Ersil und seine Frau Inge an.
In der Glückwunschanzeige, die am 4. Juli 2018, also zum 90. Geburtstag im neuen deutschland erschienen war, heißt es: „Willi Ersil prägt seit Jahrzehnten die marxistische Forschung zur europäischen Integration und gibt linker Europa-Politik klare Orientierungen. Er ist klug, streitlustig und steht für seine Überzeugungen. Als Schüler, Kollegen und Freunde wünschen wir Dir, lieber Willi, gute Gesundheit und weiterhin viel Schaffenskraft!“