Publikation Gesellschaftliche Alternativen - Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie Radikale Demokratie und Sozialismus

Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Alex Demirović,

Erschienen

Januar 2018

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Die fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaftsformationen erscheinen blockiert. Keines der relevanten Probleme, die die kapitalistischen Gesellschaften seit mehreren Hundert Jahren bestimmen, wird gelöst: die Armut und Arbeitslosigkeit, die heteronormative Gewalt zwischen den Geschlechtern und sexuellen Orientierungen, der Rassismus und die koloniale Übermächtigung vieler Regionen der Erde durch wenige privilegierte Zentren, die Zerstörung der Natur als Bedingung menschlichen Lebens – die schon längst eingesetzt hat und nicht nur den Klimawandel mit seinen Folgen, sondern auch die Erosion der Böden, die Desertifikation oder die Knappheit von sauberem Trinkwasser einschließt –, weiterhin die Ausbeutung des menschlichen Arbeitsvermögens und die ungeheure Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums, der sich bei einigen wenigen konzentriert.

Die herrschenden bürgerlichen Kräfte erweisen sich als unfähig, diese Probleme anzugehen. Das bedeutet nicht, dass nicht auch Teile von ihnen Handlungsbedarf sehen. Die Diskussionsrunden auf dem World Economic Forum zeigen dies jedes Jahr aufs Neue; es werden auch seit vielen Jahren entsprechende nationale und internationale Kommissionen, Expertengremien, Konferenzen und Forschungen institutionalisiert. Doch zu relevanten Entscheidungen kommt es nicht und kann es nicht kommen. Ein Gesamtinteresse und entsprechende gemeinsame Handlungen können sich nicht formieren. Den Ansätzen, die es gibt, stehen heterogene, mächtige Interessen entgegen. Absprachen, Bündnisse oder Verträge scheitern oder halten nur zeitweise. Der Streit betrifft die Definition der Wirklichkeit, die Frage der Handlungsstrategien und schließlich das Problem, welche Interessen welcher Gruppen in welchem Umfang begünstigt oder benachteiligt werden sollen. Das Modell des kleinsten gemeinsamen Nenners muss zwangsläufig viele Interessen außer Betracht lassen; es kommt eher zu einer negativen Koordination als zu einer gemeinsamen positiven Lösungssuche und Gestaltung.

So ist seit Jahren eine Art Pendelbewegung im bürgerlichen Lager zu beobachten: Die Rechte der Lohnabhängigen werden mal eingeschränkt, dann wieder geringfügig reformiert; die Bürgerrechte werden ausgebaut und wieder beschnitten; die Naturschutzgesetze verbessern und verschlechtern sich, mal wird die erneuerbare Energieerzeugung gefördert, mal die fossile Energie. Aber in all diesen Oszillationen geht es, wenn überhaupt, nur sehr langsam voran: Aufklärung und Mythos schlagen ständig von Neuem ineinander um, zu einem Fortschritt des Ganzen kommt es nicht.

In der Zwischenzeit werden wenige Menschen reicher und kommen in den Genuss einer umfassenden Versorgung, viele werden ärmer und erfahren alltägliche Entwürdigung und Gewalt, einige leben länger und viele sterben weiterhin früh, der Klimawandel schreitet voran und Umweltkatastrophen treten häufiger und umfassender auf. In einer solchen Situation müsste sich ein gesamtgesellschaftliches, und das heißt: menschheitliches Interesse zur Geltung bringen. Doch das Gegenteil scheint zu geschehen. Die primitivsten Formen der Interessendurchsetzung sind erfolgreich. Die Staatsapparate werden von reichen Oligarchien gekapert und quasi privatisiert, Betrug und Korruption breiten sich aus – während die evidenten Fakten bestritten, die Medien angegriffen, die Wissenschaften als Irrlehren lächerlich gemacht werden. Wie in allen autoritären Perioden der modernen kapitalistischen Geschichte werden nicht nur einzelne Wahrheiten bestritten, sondern es werden Wahrheit und Vernunft selbst diskreditiert. Damit wird der Liberalismus auf die Spitze getrieben, der immer schon dazu neigt, Wahrheiten als bloße Meinungen zu relativieren.

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ALEX DEMIROVIĆ ist Apl. Professor an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Senior Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie Redakteur der Zeitschriften Prokla und LuXemburg. Er arbeitet zu kritischer Gesellschaftstheorie und materialistischer Staats- und Demokratietheorie.