Eben erschienen erstmals für eine deutschsprachige Leserschaft in der bereits stattlichen Reihe Potsdamer Textbücher die zwischen September 1910 und Februar 1911 anonym veröffentlichten Artikel von Rosa Luxemburg nahezu vollständig in gesammelter Form. Darunter Artikel wie „Nach dem Pogrom“, „Arbeiter und Nationalkultur“ und „Antisemitismus Arm in Arm mit dem Banditentum“. Ursprünglich publiziert wurden die Texte in den von Leo Jogiches redigierten polnischen Zeitungen der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) „Mlot“ und „Czerwony Sztandar“ sowie (drei kleinere Artikel) im Berliner sozialdemokratischen „Vorwärts“.
Die SDKPiL, die Partei der Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Adolf Warski Gesicht und Profil gaben, wurde mit Ausbruch der Revolution von 1905/06 schnell zu einer Massenpartei, insbesondere in den polnischen Arbeiterzentren.
Die Luxemburgischen Zeitzeugnisse jener Jahre hat Holger Politt entdeckt, identifiziert, größtenteils übersetzt – und vor allem in ihrem historischen Kontext ein Jahrhundert später für eine überwiegend anders sozialisierte Leserschaft erschlossen. Werk und Wirken Rosa Luxemburgs stehen im Mittelpunkt von Holger Politts Forschungen. In Bälde erscheint seine umfassende Quellenedition, die ebenfalls erstmals die polnischen Texte Rosa Luxemburgs zur Revolution von 1905/06 in einem voluminösen Band dem deutschsprachigen Leser erschließen wird. Damit wird den seit den 70er Jahren im Berliner Dietz-Verlag erschienenen Bänden der „Gesammelten Werke“, ein weiterer Band hinzugefügt werden.
Holger Politt gab bereits die 1908 und 1909 von Rosa Luxemburg in der Polemik mit Wladimir Lenin verfasste analytische Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ vollständig heraus, ohne die ein alternatives sozialistisches Nationalitätenkonzept nicht gedacht werden kann. 1903 entstandene Texte von Rosa Luxemburg stellte er, ebenfalls von ihm übersetzt und eingeleitet, in den „Wegmarkierungen“ vor, um nur wenige Beispiele der produktiven Arbeit des langjährigen Leiters des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung „vor Ort“, in Warschau, zu nennen. Von dort aus förderte er auch die verdienstvolle und gediegene Quellenedition der Stiftung, des „Herbariums“, der Pflanzenbestimmungen und Zeichnungen der Rosa Luxemburg. (Krakow, 2009.)
Zur Kärrnerarbeit Holger Politts gehören zahlreiche Online- oder Zeitschriftenpublikationen. Darin analysiert er scharfsinnig und aus detaillierter Kenntnis jeweils aktuelle oder historische Geschehnisse vor allem in Polen, aber auch in anderen Teilen Osteuropas. Erinnert sei an „Rosa Luxemburg und der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“ (2003), seine Aufsätze in der Utopie kreativ, in den Rosa-Luxemburg-Forschungsberichten und last but not least im Blättchen, auf die jederzeit im Netz zugegriffen werden kann.
Hier ist von Warschau aus kein Stubengelehrter am Werk, sondern ein aktiv im Leben stehender Wissenschaftler mit ausgreifenden Interessen, fundierten Kenntnissen, einem Gefühl für die deutsche wie die polnische Sprache, für das Nationalgefühl des einen wie des anderen Landes.
Die hasstriefenden Äußerungen des militanten Antisemitismus in der Alltagssprache auf Schulhöfen und in Fußballstadien, die Inschriften im öffentlichen Raum, die Äußerungen im Jargon nicht nur der Journaille und nicht zuletzt im Politsprech der Eliten wurzeln, wie die vorliegende Publikation dokumentiert, in der Zeit zu Anfang des vorigen Jahrhunderts. Sie wurden in der Polemik Rosa Luxemburgs mit den damaligen Verbreitern dieser antisemitischen Stereotype, unter ihnen der Judenhetzer Andrzej Niemojewski (1864-1921), bloßgelegt und seziert. Sie blieben jedoch keineswegs auf Polen beschränkt, existieren in exzessiven Ausartungen auch als Antisemitismus, der keiner oder keines Juden bedarf.
Antisemitische Schmutzkampagnen, destilliert aus zum Teil „zeitlosen“ klerikalen und rassistischen Elementen, richten sich, verbunden mit jeweils aktuellen politischen Geschehnissen, persönlichen Verleumdungen und diskriminierenden unsäglichen Gemeinheiten, europaweit besonders gegen die Idee und die Versuche, eine alternative Gesellschaftsordnung politischer und sozialer Freiheit zu verwirklichen. Zu Rufmord kam und kommt Mord, kam schlussendlich europaweit antisemitischer und antikommunistischer Völkermord als unübersehbares historisches Zeichen.
In der vorliegenden Ausgabe werden die historischen Wurzeln antisemitischer Politik und antisemitischen Banditentums in den Jahren nach der Revolution vom Herausgeber nicht nur sorgfältig dokumentiert, sondern auch dechiffriert und differenziert bewertet.
Eine knappe „Editorische Notiz“ erweitert an Hand des Briefwechsels von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches („Gesammelte Briefe“, Bd. 3 und Bd. 4) die Kenntnis des Lesers zu den Beweggründen für die Erstveröffentlichung der Artikel „Nach der Revolution“. Detaillierte „Biografische Angaben“ vor allem zu polnischen und russischen Zeitzeugen geben nicht nur Auskunft über deren Wirken in den Jahren der Revolution zu Anfang des 20. Jahrhunderts sondern auch in späteren Jahren und teilweise Jahrzehnten. Das ebenfalls alphabetisch geordnete „Glossar“ zu Parteien, Zeitungen, zeitgenössischen Begriffen ist umfassend, erleichtert und ermöglicht es – auch in Verbindung zum sorgfältigen wissenschaftlichen Apparat zu jedem einzelnen Artikel Rosa Luxemburgs – vermutlich nicht wenigen deutschen Lesern wohl erst, in die Gedankenfülle und Geistesschärfe der der Publikation den Namen gebenden Artikel „Nach dem Pogrom“ einzudringen und ihre Bedeutung für das Heute zu erkennen.
Die vorgelegten Forschungsergebnisse des Herausgebers bestechen durch ihre Genauigkeit in den Einzelheiten wie im Gesamten, im Biographischen, im Institutionellen wie im historischen Geschehen. Solide Quellenkenntnis zeichnen wie die Kenntnis der deutsch- und polnischsprachigen wissenschaftlichen Literatur die Publikation aus.
Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom. Texte über Antisemitismus 1910/11, Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Holger Politt, Potsdamer Textbücher PTB, WeltTrends, Potsdam 2014, 138 Seiten, 14,90 Euro.
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Quelle: das-blaettchen.de/2014/04/antisemitismus-und-banditentum-28822.html (Abruf am 28.04.2014)