Nachricht | Zum Tod von Prof. Dr. Wilhelm Ersil (1928-2024)

Nachruf von Prof. Dr. Raimund Krämer

Prof. Dr. Wilhelm Ersil bei der Festveranstaltung zu seinem 90. Geburtstag 2018 [Foto: Christian Spicker]

Ein Nachruf von Prof. Dr. Raimund Krämer

(langjähriges Mitglied des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. )


Er war oft zu Gast in unserer Stiftung, bei abendlichen Vorträgen, zu Konferenzen oder nur einfach zu einem Kaffee im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg in der Potsdamer Dortusstraße – meist mit seiner Frau Inge. Aber war er denn Gast? Er war doch fast von Anfang an dabei. Es war gewissermaßen „seine“ Stiftung, die er mit Rat und Tat nach vorn, auf die Höhe der politischen Anforderungen zu bringen versuchte – und dabei auch viel erreichte. Mit Dr. Detlef Nakath, dem langjährigen Geschäftsführer der Stiftung, entwickelten sie die Konferenzreihe zur Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen. Aus ihr wurde dann in Zusammenarbeit mit WeltTrends der Potsdamer Außenpolitische Dialog, der nach wie vor jährlich mit internationaler Beteiligung stattfindet. Willi, wie er von Freunden genannt wurde, war stets dabei, strategisch denkend, klar analysierend und pointiert fragend.

Wilhelm Ersil, geboren 1928, gehörte zu jener „Aufbau“-Generation, die nach den Schrecken des 2. Weltkrieges, der bei ihm auch zum Verlust der Heimat führte, ein neues, ein antifaschistisches Deutschland wollte und sich dafür auch mit der ganzen Person im Osten einsetzte. Neue Lehrer brauchte die junge Republik. Wilhelm Ersil wurde einer. Selbst erst Mitte 20, lehrte er Gleichaltrige. Lag das Interesse zunächst in der jüngeren deutschen Geschichte, so wurde in den 1960er Jahren die Außenpolitik des anderen deutschen Staates zum neuen Gegenstand, zu dem Willi Ersil forschte und über den er lehrte. Es war dann logisch, dass Westeuropa und die Prozesse der Integration in den Mittelpunkt seiner Arbeit am mittlerweile gegründeten Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg rückten. Fast sechs Jahrzehnte forschte, lehrte und publizierte Wilhelm Ersil zu diesem Thema. Die Zahl seiner Publikationen ist enorm. Es ging um zentrifugale und zentripetale Kräfte, Kerneuropa und Peripherie, Militarisierung, konzentrische Kreise, Westeuropa in der Entspannungsphase und bei der erneuten Verschärfung des Kalten Krieges und immer wieder ging es um die Rolle Deutschlands, zunächst die des westlichen, kapitalistischen Teils, dann die des vereinigten Deutschlands in Europa.

Als Lehrer war Willi Ersil zwar ein fordernder, aber zugleich einer, der Studierende durch sein umfangreiches Wissen und die präzise Art seines Denkens enorm bereicherte. Ihm ging unter den Studenten ein gewisser Ruf voraus, der zu einem gründlicheren Vorbereiten führte. Eine unpräzise, eher lockere Bemerkung konnte zu einer scharfen Gegenfrage führen, die zwar die Erkenntnis förderte, aber in dem Moment eher die Schamröte provozierte. Willi Ersil stand für die präzise Analyse – nicht jenseits von Parteibeschlüssen, jedoch ließ er sich von diesen nicht in seinem Denken einschränken oder gar fesseln.

Als im Jahre 1989 für viele das weltanschauliche Gerüst zusammenbrach, blieb das von Willi Ersil stabil. Sicherlich rüttelte der Zeitgeist auch an den Fundamenten seines Analyserasters, aber das Gerüst blieb erhalten. Er verstand sich als Marxist und suchte den Anschluss an die marxistische Szene im vereinten Deutschland. Parteipolitisch mischte er sich bald mit fundierten Beiträgen in die Europadebatten der Linken in den frühen 1990er Jahren ein, damals noch mit seinem Kollegen und Freund Jochen Dankert. In der Arbeitsgruppe „Europäische Union“ der neugegründeten PDS arbeitete Willi von Anfang mit, ja, nach den Worten des langjährigen Europa-Abgeordneten Helmut Scholz gestaltete Willi Ersil diese „Denkfabrik“ für den Vorstand der Partei maßgeblich. Er war ein geschätzter Partner für Abgeordnete in der Bundestagsfraktion der Partei, auch wenn die Politik dann akademische Ratschläge nicht immer umsetzte, aber das kannte er von früher. Er blieb der Partei treu, auch wenn er deren Defizite in außenpolitischen Fragen im Gespräch sah und benannte.

Gruppenbild beim Symposium zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil [Foto: Christian Spicker]

Zu seinem 90. Geburtstag organisierten das neu gegründete WeltTrends-Institut für Internationale Politik und die RLS Brandenburg 2018 mit ehemaligen Kollegen und heutigen Freunden eine Festveranstaltung. WeltTrends ehrte Willi Ersil mit der Ernennung zum Honorary Research Fellow und einer Festschrift unter dem Titel „Nachdenken über Europa“. Diese Festschrift bietet auch heutigen Lesern einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Œuvre von Professor Wilhelm Ersil. Sie zeigt sowohl die roten Fäden in seinem Denken über Europa als auch die steten Veränderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen ergeben. Konstante seiner Schriften und seiner Vorträge war, dass er der deutschen und europäischen Linken mit seiner marxistischen Analyse der europäischen Integrationsprozesse Orientierung geben wollte. Dabei war ihm die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ein stabiler Partner, und er war ein produktiver Mitstreiter der Stiftung.

Vor einigen Wochen besuchte er noch das Sommerfest der Stiftung und diskutierte in vielen Gesprächen die Chancen für einen Frieden in der Ukraine und die Perspektiven der deutschen Linken. Beides trieb den 96-jährigen heftig um.

Am 1. August 2024 starb Prof. Dr. Wilhelm Ersil.

Cover der Festschrift "Nachdenken über Europa" zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil
  • Raimund Krämer (Hrsg.):
    Nachdenken über Europa
    Festschrift zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil

    WeltTrends, Potsdam 2018
    ISBN 978-3-945878-93-4
    231 Seiten

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