Nachbarland Polen

Berichte, Analysen, Veranstaltungsdokumentationen

Polen hat gewählt - eine Einschätzung durch unser Vereinsmitglied Dr. Holger Politt (Warschau)

17. Oktober 2023

von Dr. Holger Politt (Warschau)


Das entscheidende Ergebnis des Wahltages stand frühzeitig fest: Das nationalkonservative Lager hat seine regierungsfähige Mehrheit im Sejm verloren. Entsprechend groß der Jubel auf der Oppositionsseite, betretene Gesichter hingen auf der anderen Seite. Dort war man überzeugt, die Alleinregierung – seit Herbst 2015 verfügten die Nationalkonservativen über eine absolute Mehrheit der Sejm-Sitze – verteidigen zu können. Wie ein Trostpflaster wurde aber demonstrativ darauf verwiesen, wieder stärkste Gruppierung geworden zu sein. „Wir haben gewonnen!“, so schallte es von der Bühne, nachdem Jarosław Kaczyński seine Rede zum Wahlausgang beendet hatte. Und doppeldeutig vermeldete der von der Regierung kontrollierte öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass die Regierungspartei gewonnen habe, wobei die Opposition zusammengerechnet nun aber über eine regierungsfähige Mehrheit verfüge. Unübersehbar also die Hoffnung, dass die für Polen eher ungewohnte Regierungsbildung aus drei recht unterschiedlichen Koalitionspartnern scheitern möge. Was den Oppositionsbogen zusammenhalte, sei alleine die tiefe Feindschaft zur PiS-Regierung und die totale Gegnerschaft zum nationalkonservativen Umbau des Landes, um eben Gerechtigkeit und Recht durchzusetzen, um Polens Souveränität zu stärken. 

Das Kaczyński-Lager kommt auf 35,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, was im 460-köpfigen Sejm 194 Abgeordnetensitze einbringt. Rechts von PiS werden die Abgeordneten der Konfederacja (Konföderation) sitzen, die allerdings mit 7,2 Prozent der abgegebenen Stimmen nur 17 Abgeordnetensitze erhalten, die also bei Koalitionsüberlegungen auf der nationalkonservativen Seite kaum noch eine Rolle spielen dürften. Noch Ausgangs des Sommers sahen sich die Rechtsausleger mit Umfragewerten von über 10 Prozent als kommenden Königsmacher. Am Wahlabend war der Traum schnell zerplatzt.

Eine komfortable Mehrheit besitzt nun der demokratische Oppositionsbogen, der sich in den langen Jahren der Auseinandersetzung mit der nationalkonservativen Alleinregierung in vielen kleineren und größeren politischen Schlachten zusammengefunden hat. Den dominierenden Teil bildet eine Bürgerkoalition (KO), die, von Donald Tusk angeführt, den liberalen Kern des Oppositionsbündnisses zusammenhält. Die KO kommt auf 30,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, was 157 Abgeordnetensitze einbringt. Der konservative Flügel der KO wird ergänzt oder erweitert durch die nun zweitstärkste Gruppierung im Oppositionsbogen, dem als „Dritten Weg“ (TD) firmierenden Parteienbündnis aus gemäßigten Konservativen, Agrariern und konservativen Liberalen. TD kommt auf 14,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, 65 Abgeordnetensitze sind der Lohn. Und nach links findet KO in der gemeinsam auftretenden Lewica (Linke) die Abrundung. Lewica kommt auf 8,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, was 26 weitere Abgeordnetensitze für den Oppositionsbogen bedeutet. Zusammengerechnet stünden hinter einer künftigen Koalitionsregierung aus KO, TD und Lewica 248 Abgeordnetensitze.

Das Oppositionsbündnis drängt auf schnelle Regierungsübernahme, was den schnellen Abschluss entsprechender Koalitionsverhandlungen voraussetzt. Allerdings liegt der Ball jetzt erst einmal beim Staatspräsidenten, denn an Andrzej Duda ist es, eine der gewählten Gruppierungen mit der Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung zu beauftragen. Die Nationalkonservativen pochen darauf, dass sie es zunächst sein müssten, denn sie lägen vorne. Das Oppositionsbündnis indes verweist auf die Verantwortung des Staatspräsidenten, der zu sondieren habe, welche Gruppierung tatsächlich in der Lage sei, unter den gegebenen Mehrheitsverhältnissen im neuen Sejm eine Regierung zu bilden. Von Dudas Entscheidung hängt nun ab, wieviel Zeit ins Land gehen wird, bevor Polens neue Regierung ins Amt treten kann.

Die Wahlen haben wieder einmal bestätigt, wie fest die politischen Lager – hier die Nationalkonservativen, dort ihre demokratischen Gegner – gefügt sind. Wählerwanderung zwischen den beiden großen Lagern gab es kaum, was beim Wahlgang allein den Ausschlag gab, war die bessere und erfolgreichere Mobilisierung der je eigenen Wählerpotentiale. Die demokratische Opposition ging das Risiko ein, auf eine gemeinsame Liste zu verzichten und stattdessen getrennt mit dem einigenden Ziel zu marschieren, eine regierungsfähige Mehrheit an Abgeordnetensitzen herauszuschlagen. Das Ergebnis vom 15. Oktober 2023 spricht in dieser Hinsicht für sich.

Aus Sicht Brandenburgs sei hier erwähnt, dass die beiden benachbarten Wojewodschaften Lubuskie und Pomorze Zachodnie die niedrigsten Stimmenergebnisse für die Nationalkonservativen, entsprechend die höchsten Werte für den demokratischen Oppositionsbogen aufzuweisen haben. Kein schlechtes Zeichen für die künftige Entwicklung und Ausrichtung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Achim Kessler & Piotr Janiszewski: Polen vor den Sejm-Wahlen. Im Vorfeld der Wahlen greift die Regierung zu scharfen Mitteln

Gebäude des Sejm in Warschau [Foto: Von I, Kpalion, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php]

21. Juni 2023

von Dr. Achim Kessler (Leiter des Büros der RLS in Warschau) und Dr. Piotr Janiszewski (wiss. Mitarbeiter im Büro der RLS in Warschau)


Die Wahlen zum polnischen Sejm finden voraussichtlich am 15. Oktober statt. Im Vorfeld verschärft die Regierung bereits seit Monaten den Ton. Nun, da die Umfragen ein Patt zwischen Regierung und Opposition vorhersagen, die Regierung also um ihre Mehrheit fürchten muss, greift diese zu scharfen Mitteln.

Am 4. Juni gingen in Warschau eine halbe Million Menschen auf die Straße, um gegen die Politik der Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) zu protestieren. Die Demonstration waren ursprünglich nur von der größten Oppositionspartei, der liberalen «Bürgerplattform» (PO), geplant worden. Dies änderte sich, als das von der PiS dominierte Parlament eine Woche vor der geplanten Demonstration eine parlamentarische Kommission mit Sonderbefugnissen einsetzte.

Diese Kommission hat zugleich die Funktionen von Anklage und Gericht, was jedem demokratischen Rechtsverständnis widerspricht. Sie soll untersuchen, ob politische Entscheidungen in der Vergangenheit unter «russischem Einfluss» getroffen worden sind. Es ist offensichtlich, dass das Hauptziel dieser Kommission die Diffamierung des PO-Vorsitzenden, Donald Tusk, sein soll, der von 2007 bis 2014 Ministerpräsident Polens war und heute die Opposition anführt. Die Kommission besitzt sogar die Befugnis, Personen von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Die meisten unabhängigen Medien und Politiker*innen der Opposition bezeichnen das Gesetz zur Einrichtung der Kommission deshalb als «Lex Tusk». Und in der Tat liegt der Verdacht nahe, dass die Ergebnisse der Untersuchung bereits feststehen und als Kampfmittel im Wahlkampf genutzt werden sollen.

Die Verabschiedung des Gesetzes hat die Gegner der PiS-Politik mobilisiert und zusammengeführt; die Rekordzahl der Demonstrationsteilnehmer*innen unterstreicht dies. Nach dem Beschluss des Gesetzes hatten die Vorsitzenden der meisten anderen Oppositionsparteien gar keine andere Wahl, als zu dieser Demonstration aufzurufen und selbst an ihr teilzunehmen, um ihre Solidarität gegen diesen antidemokratischen Akt der Regierung zu bekunden.

Sparpolitik führte zum Wahlsieg der PiS

Seit 2005 wird die polnische Politik von zwei Parteien dominiert, der nationalkonservativen PiS und der liberalkonservativen PO. Die Vorsitzenden beider Parteien, Jarosław Kaczyński und Donald Tusk, sind erbitterte Rivalen, die von den meisten ihrer Anhänger*innen verehrt werden und bei den Wähler*innen der rivalisierenden Partei verhasst sind. Die PiS übernahm 2015 die Macht von der PO, bei den Wahlen 2019 wurde ihre Mehrheit bestätigt.

Der Wahlerfolg der PiS lässt sich auf zwei Hauptfaktoren zurückführen. Der eng mit dem Katholizismus verbundene, soziale und kulturelle Konservatismus genießt in Polen seit jeher großen Rückhalt, insbesondere außerhalb der städtischen Gebiete. Deshalb hat die Unterstützung der katholischen Kirche der Regierungspartei sehr genützt. Das allein würde jedoch nicht ausreichen, um mehrere Wahlen nacheinander zu gewinnen.

Im Wahlkampf 2015 machte die PiS zahlreiche sozialpolitische Versprechen, die sich an wirtschaftlich bedrohte Familien und Berufstätige richteten. Für die bedrohliche soziale Situation vieler Menschen verantwortlich war die Kürzungspolitik der PO-Regierung und in früheren Wahlperioden auch der sozialdemokratischen Partei «Bund der Demokratischen Linken» (SLD), der Nachfolgepartei der kommunistischen Partei («Polnische Vereinigte Arbeiterpartei») und Vorgängerpartei der 2021 gegründeten «Neuen Linken».

Die PiS erreichte viele Wähler*innen vor allem durch das Versprechen eines Kindergeldprogramms «500+» (500 polnische Zloty, mehr als 100 Euro, monatlich für jedes Kind) und die Ankündigung der Rücknahme des Gesetzes zur Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre, das die Regierung Tusk 2012 eingeführt hatte. Indem sie ihre Versprechen nach den Wahlen 2015 tatsächlich einhielt und ihren Schwerpunkt auch auf einige andere soziale Themen legte, konnte die PiS ihre Wählerschaft dauerhaft an sich binden, denn die soziale Situation vieler Menschen, vor allem in ländlichen Regionen, verbesserte sich dadurch tatsächlich.

Kampf um soziale und Menschenrechte

Dies hat jedoch an der weit verbreiteten Kritik an der PiS innerhalb und außerhalb Polens nichts geändert. Denn die «Sozialpolitik» der PiS galt immer nur einem Teil der Bevölkerung und hielt sie nicht davon ab, die öffentliche Daseinsvorsorge zu privatisieren und zu schwächen. Harsche Kritik gibt es aber auch an den zunehmenden autoritären Tendenzen sowie an einer diskriminierenden Politik gegenüber Frauen, queeren Menschen und Migrant*innen. Das polnische Antiabtreibungsgesetz, das durch ein Urteil des von der PiS dominierten Verfassungsgerichts noch drakonischer wurde, war die Ursache für den Tod von Frauen, die in Krankenhäusern starben, weil Ärztinnen und Ärzte Angst davor hatten, vor Gericht gestellt zu werden, sollten sie einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen.

Angesichts der Wirtschaftskrise und der Inflation von fast 20 Prozent fällt es der PiS-Regierung immer schwerer, ihr Image aufrechtzuerhalten, dass sie in der Lage ist, die Wirtschaft effizient zu fördern und gleichzeitig neue Sozialleistungen einzuführen. Und auch der Konflikt der PiS-Regierung mit der EU über das polnische Justizsystem, dessen Autonomie die PiS seit acht Jahren untergräbt, ist kostspielig: 35,4 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem EU-Konjunkturprogramm wurden von der EU wegen des Konflikts nicht ausgezahlt – Geld, dass dringend erforderlich wäre, um die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise durch Pandemie und Ukraine-Krieg anzugehen. Hinzu kommt, dass der Plan der PiS-Regierung, Polen zur größten militärischen Macht Europas zu machen, allein in diesem Jahr 27,5 Milliarden Euro verschlingt, das sind rund vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Durch diese enormen finanziellen Belastungen sind die Möglichkeiten der Regierung, weitere soziale Maßnahmen einzuführen, stark eingeschränkt. Sie hatte allerdings angekündigt, die Kreditaufnahme für das laufende Jahr deutlich zu erhöhen.

Alternativen zur PiS

Kaczyński und seine Partei stehen vor der konkreten Gefahr, die kommenden Wahlen zu verlieren. Vieles hängt jedoch von der politischen Opposition ab. Seit Donald Tusk 2021 in die polnische Politik zurückkehrte (er übernahm 2014 das Amt des EU-Präsidenten), konnte die PO einen Aufschwung verzeichnen und sich die Position als wichtigste Oppositionspartei sichern. Falls die PiS in diesem Jahr die Macht verlieren sollte, wird eine neue Regierungsmehrheit wahrscheinlich aus drei politischen Kräften bestehen: Neben der PO wären dies die «Koalition des Dritten Weges» und die «Linke».

Der «Dritte Weg» ist ein neu gebildetes Bündnis aus der christdemokratischen «Polnischen Volkspartei» (PSL) und «Polen 2050». Die PSL gilt traditionell als Vertreterin der polnischen Bauernschaft und ist fest im politischen System verankert. Sie war seit den 1990er Jahren in vielen Regierungskoalitionen vertreten und ist in den Regionen und Kommunen traditionell sehr stark. «Polen 2050» ist eine neue liberale Partei, die vom bekannten Journalisten, Schriftsteller und Fernsehmoderator Szymon Hołownia gegründet wurde, nachdem er bei der Präsidentschaftswahl 2020 fast 14 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Diese «Vernunftehe» erklärt einerseits, die PiS-Regierung beenden zu wollen; sie will aber andererseits eine Mitte-Rechts-Alternative für vormalige PiS-Wähler*innen sein, die von der Partei enttäuscht sind, aber nicht für Tusk stimmen wollen, dessen Image wegen seiner Sozialkürzungen bei vielen Menschen weiterhin schlecht ist.

Die politische Linke in Polen besteht hauptsächlich aus zwei Parteien: der sozialdemokratischen «Neuen Linken» und ihrem weiter links stehenden Juniorpartner, der «Vereinigten Linken» (Razem). Beide Parteien hatten bei der letzten Wahl auf einer gemeinsamen Liste kandidiert und bilden im Sejm die gemeinsame Fraktion «Lewica» (Linke). In den letzten Jahren hat die Linke darum gekämpft, sich als eigenständige Oppositionsstimme gegen die PiS zu positionieren, indem sie der Regierung sozialpolitische Versäumnisse vorwarf, beispielsweise die Unterfinanzierung und anschließende Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Gleichzeitig ist die Linke die stärkste Stimme für die Rechte von Frauen, queeren Menschen und Migrant*innen sowie gegen die enge Verbindung zwischen Staat und katholischer Kirche.

In den vergangenen Monaten gab es intensive Diskussionen über die Aufstellung einer gemeinsamen Wahlliste aller Oppositionsparteien, ähnlich wie bei den Parlamentswahlen in Ungarn im vergangenen Jahr oder in der Türkei in diesem Jahr. Ende Mai hatte es den Anschein, dass diese Debatten ohne Ergebnis beendet seien. Während die PO ihre Bereitschaft erklärte, eine gemeinsame Liste zu bilden, befürchteten die kleineren Parteien, durch die Kandidatur auf einer gemeinsamen Liste von Tusks PO marginalisiert zu werden. Es bestand auch die Sorge, dass eine solch breite gemeinsame Liste für viele Wähler*innen, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, inakzeptabel sein könnte.

Doch die starke Polarisierung der polnischen Politik, die durch undemokratische Maßnahmen wie die «Lex Tusk» noch verstärkt wird, begünstigt die PO als größte Oppositionspartei. Während der Kundgebung am 4. Juni skandierten viele Menschen den Slogan «Vereinte Opposition!». Die ersten Umfragen, die nach den Protesten veröffentlicht wurden, zeigen, dass die PO zwar an Unterstützung gewinnt, allerdings auf Kosten ihrer potenziellen Regierungspartner, so dass das Oppositionslager insgesamt gegenüber der Regierung nicht zulegen konnte. Sollten ihre Umfragewerte weiter sinken, werden «Dritter Weg» und «Lewica» kaum eine Alternative zur Kandidatur auf einer gemeinsamen Liste mit der PO haben . Die Frage ist jedoch, inwieweit sie ihre Forderungen dann noch prominent im Wahlkampf vertreten und, im Falle einer gemeinsamen Regierungsbildung, gegen Tusk durchsetzen können.

Bei all dem gibt es noch einen weiteren politischen Akteur, der die Dinge erheblich kompliziert: die «Konfederacja», ein Konglomerat aus nationalistischen, rechtsradikalen und libertären Parteien, das es vor vier Jahren nur knapp ins Parlament geschafft hat. Jetzt wächst ihre Unterstützung und sie erreicht in manchen Umfragen über zehn Prozent. Dies ist in erster Linie auf ihre Forderung nach Steuersenkungen und ihre lautstarke Ablehnung der «westlichen political correctness» zurückzuführen. «Konfederacja» scheint jedoch auch davon zu profitieren, dass sie die einzige Kraft im Parlament ist, die Vorbehalte gegenüber Polens politischer und militärischer Unterstützung für die Ukraine und der Politik der «offenen Türen» gegenüber ukrainischen Flüchtlingen äußert. Viele glauben, dass die «Konfederacja» der PiS letztlich die Stimmen verschaffen könnte, die sie für eine parlamentarische Mehrheit benötigt. Als Ergebnis stünde eine weitere Rechtsentwicklung der Regierungspolitik zu befürchten.

Wie weiter?

Wie die Wahlen im Oktober ausgehen werden, bleibt spannend. Die Umfragewerte beider Lager liegen dicht beieinander. Klar ist jedoch, dass die Polarisierung in den nächsten Monaten stark zunehmen wird – zum Schaden derjenigen, die von der Regierung ohnehin bereits ausgegrenzt werden.

Fest steht außerdem, dass der Wahlausgang großen Einfluss auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni nächsten Jahres haben wird. Denn infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine ist das Gewicht Polens in Europa deutlich gewachsen – und die PiS-Regierung nutzt dieses Gewicht, um ihre Themen auf die europäische Agenda zu setzen. Sie dürfte dies nach einem Wahlerfolg in Polen im Europawahlkampf mit noch größerer Energie tun. Für Polen und Europa hängt also sehr viel ab vom kommenden Urnengang.

Achim Kessler: «Solidarität in Zeiten der Krise!» 20 Jahre Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau

Das Team im RLS-Büro in Warschau [Foto: RLS]

20. Juni 2023

von Dr. Achim Kessler (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


100 Gäste aus Polen, Litauen, Lettland, Estland und Deutschland feierten am 25. Mai im Rathaus des Warschauer Stadtteils Bielany das 20. Jubiläum des Regionalbüros der Stiftung in Polen.

Unter den Gästen waren Prof. Heinz Dr. Bierbaum, Vorstandsvorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Gesandte der Bundesrepublik Deutschland in Warschau, Robert Rohde, die Bundesabgeordnete Caren Lay, die Sejm-Abgeordneten Agnieszka Dziemianowicz-Bąk, Daria Gosek-Popiołek, Małgorzata Prokop-Paczkowska, Maciej Konieczny, Katarzyna Ueberhan, der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes OPZZ, Piotr Ostrowski, Vertreter*innen von Partnerorganisationen aus Polen, Litauen, Lettland und Estland.

Wie es anfing

Das Regionalbüro wurde am 21. Mai 2003 durch Evelin Wittich, die damalige Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch und den Europaabgeordneten André Brie eröffnet. Außenminister Włodzimierz Cimoszewicz schickte ein schriftliches Grußwort. Die Senatorin Prof. Maria Szyszkowska und Andrzej Ziemski, Vorsitzender der Polnischen Sozialistischen Partei nahmen an der Eröffnung persönlich teil.

Chef-Buchhalterin Agnieszka Wesołowska war von 20 Jahren bei der Eröffnung dabei: «Ich erinnere mich noch gut an die Eröffnungsfeier unseres Büros. Polen stand damals kurz vor dem Beitritt zur Europäischen Union. Die Feier stand unter dem Motto ‹Europäische Vision und soziale Gerechtigkeit›».

Solidarität in Zeiten der Krise

Dieses Thema hat bis heute nicht an Aktualität verloren. «Heute stehen wir vor einer Wahl zum Europarlament. Und soziale Gerechtigkeit ist heute mehr denn je ein großes Problem», betonte Dr. Achim Kessler, der seit Oktober 2022 das Regionalbüro in Warschau leitet. «Deshalb steht unsere Feier heute unter dem Motto ‹Solidarität in Zeiten der Krise›».

Das Programm der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polen, Estland, Lettland und Litauen umfasst viele Themen: Die Erinnerung an die Gräuel, die Deutsche während des Krieges verübt haben. Die Rechte von Frauen, queeren Menschen und Geflüchteten, der Klimawandel, die Geschichte der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung und nicht zuletzt linke Gesellschaftstheorie.

An die Partnerorganisationen gewandt sagte Achim Kessler: «Wir freuen uns auf die Fortsetzung unserer erfolgreichen Zusammenarbeit. Und ich bitte Sie, uns Ihre Vorschläge und Anregungen für zukünftige Projekte mitzuteilen. Denn wir bemühen uns, unser Programm immer zu aktualisieren, das gilt besonders in Zeiten der Krise». Er betonte: «Die Folgen der Krise werden wir nur durch internationale Solidarität bewältigen. Ein Streik bei Amazon in Deutschland bleibt beispielsweise wirkungslos, wenn das Unternehmen seine Kunden dann aus Polen beliefert. Deshalb wünsche ich mir persönlich für die Zukunft eine bessere Zusammenarbeit zwischen linken Politikerinnen und Politikern, Gewerkschaften, sozialen und Menschenrechtsorganisationen aus allen fünf Ländern, die heute hier vertreten sind.»

Teamwork

Achim Kessler dankte seinen beiden Vorgänger*innen Dr. Holger Politt und Dr. Joanna Gwiazdecka für ihren maßgeblichen Beitrag zum Erfolg des Büros. Unter großem Beifall würdigte er die Leistung des gesamten Teams, Agnieszka Wesołowska, Magdalena Sawa, Joanna Najda, Dr. Piotr Janiszewski, Krzysztof Kwater, Krzysztof Baran und Krzysztof Pilawski, als unverzichtbar für die zukünftige Arbeit des Büros.

Ehemalige und langjährige Weggefährten

Mit einer Schweigeminute ehrten die Teilnehmer*innen der Veranstaltung verstorbene Personen, mit denen das Büro eng zusammengearbeitet hat. Unter ihnen waren Prof. Feliks Tych, Historiker der Arbeiterbewegung, die Mitglieder der Widerstandsbewegung während der Nazi-Besatzung, Krystyna Kulpińska-Cała und Prof. Krzysztof Dunin-Wąsowicz, die Vorsitzenden des Vereins «Kinder des Holocaust in Polen», Anna Drabik und Prof. Aleksandra Leliwa-Kopystyńsk, der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes OPZZ, Jan Guz, die Feministin, Vizepremierministerin und Ministerin für Sozialpolitik, Izabela Jaruga-Nowacka, die Vorsitzende der Demokratische Frauenunion, Renata Berent-Mieszczanowicz. Wenige Tage vor dem Jubiläum verstarb Susanne Kramer-Drużycka, ehemalige Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

«Wir haben mit vielen Menschen und Partnerorganisationen zusammengearbeitet. Ich erinnere mich an Veranstaltungen mit Robert Biedroń, Adrian Zandberg und Krzysztof Śmiszek, die damals junge Aktivisten waren und heute bekannte Politiker sind», sagte Agnieszka Wesołowska. Robert Biedroń, Gründer der Kampagne «Gegen Homophobie» ist heute Co-Vorsitzender der Partei «Nowa Lewica» und Europaabgeordneter. Adrian Zandberg ist Co-Vorsitzender der Partei «Razem» und ebenso wie Krzysztof Śmiszek Abgeordneter des Sejm.

Heinz Bierbaum

Hauptredner des Jubiläums war Prof. Heinz Bierbaum, Vorsitzender des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In seiner Rede betonte er die Notwendigkeit von starken Streikbewegungen, um den sinkenden Reallöhnen entgegenzuwirken. Der umfassenden sozialen Krise und der drohenden Klimakatastrophe sei nur durch einen grundlegenden Systemwechsel erfolgreich zu begegnen.

Maciej Konieczny

Der Sejm-Abgeordnete Maciej Konieczny (Razem) betonte, dass viele bedeutende Personen der Linken im Rahmen von Projekten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Kenntnisse im Bereich Politik und Wirtschaft erworben haben: «Das ist das bleibende Erbe der Aktivitäten der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polen».

Maciej Konieczny erzählte von seiner persönlichen Beziehung zur Stiftung: «Seit 2005 werde ich von der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Aktivist in linken Organisationen begleitet, bei ATTAC und dann im Jugendsozialistenverband. Durch Projekte, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt hat, habe ich viel über demokratischen Sozialismus und Alternativen zum Kapitalismus, über Feminismus und LGBTQIA-Rechte gelernt».

Piotr Ostrowski

«Es waren 20 erfolgreiche Jahre», resümierte der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes OPZZ, Dr. Piotr Ostrowski. «Unsere Zusammenarbeit wird immer besser. An seinem ersten Tag als Büroleiter in Warschau nahm Achim an der Eröffnung einer Ausstellung über die Aktivitäten der Gewerkschaften während der Nazi-Besatzung teil. Seitdem haben wir viele weitere gemeinsame Projekte realisiert».

Krystyna Kacpura

Krystyna Kacpura, Geschäftsführerin der Föderation für Frauen- und Familienplanung, FEDERA, betonte, dass Frauenrechte von Anfang an eine der Hauptprioritäten des Stiftungsbüros in Warschau waren: «Die Unterstützung der Stiftung hat uns geholfen, die schwierigste Zeit zu überstehen. Wir zählen auf eine weitere Zusammenarbeit, denn der Kampf für die Rechte der Frauen, einschließlich der reproduktiven Rechte, geht weiter».

Grzegorz Pietruczuk

Der Sitz des Warschauer Büros befindet sich seit über zehn Jahren im Warschauer Stadtteil Bielany. «Das ist eine Ehre für uns», versicherte der Bürgermeister von Bielany, Grzegorz Pietruczuk. Er erinnerte an gemeinsame Projekte mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, darunter Projekte zur Tradition der Wohnungsbaugenossenschaften. Grzegorz Pietruczuk schlug als Thema für die weitere Zusammenarbeit die Probleme im Zusammenhang mit der Integration von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine vor.

Jolanta Bielskiene

Dr. Jolanta Bielskene vom litauischen Institut für Kritischen Denken «Demos» sprach über eine Reihe linker Debatten und die erstmalige Veröffentlichung von Rosa Luxemburgs Texten auf Litauisch.

Kristine Gariana

Kristine Garina, die Vorstandsvorsitzende von MOZAIKA, einer einflussreichen Organisation, die Interessen von LGBTQIA-Menschen in Lettland vertritt, stellte als letztes gemeinsames Projekt das Buch zur Geschichte queerer Menschen in Lettland vor.

Manny De Guerre

Manny De Guerre kämpft seit vielen Jahren für die Rechte von LGBT-Menschen in Russland. Nach der russischen Aggression gegen die Ukraine floh sie nach Tallinn. Dort gründete sie die Organisation «Q-Space», die sich mit ihren Projekten an queere Menschen aus allen Sprachgruppen wendet. Sie agiert aber auch in der russischsprachigen Minderheit in Estland, die von der homophoben Propaganda der russischen Medien beeinflusst wird.

Wohnen ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht!

Den zweiten Teil der Jubiläumsveranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema Wohnungspolitik, an der die Abgeordnete des Bundestages, Caren Lay (DIE LINKE), die Abgeordnete des Sejm, Daria Gosek-Popiołek (Razem), und der Vorsitzende der Bewegung für Soziale Gerechtigkeit, Piotr Ikonowicz, teilnahmen. Zuzanna Dąbrowska, Journalistin der Tageszeitung «Rzeczpospolita» (Republik), moderierte die Diskussion. Sie erinnerte daran, dass sich das Rathaus Bielany in der Stefan-Żeromskiego-Straße befindet, benannt nach einem Schriftsteller, der vor hundert Jahren mit seiner Idee der «Glashäuser» moderne, günstige Wohnungen für alle Menschen gefordert hatte. Doch auch nach 100 Jahren sei das Thema noch immer ein drängendes soziales Problem, das an Schärfe immer weiter zunehme. Die Diskussionsteilnehmer stellten fest, dass Wohnraum nicht nur für Menschen mit niedrigem, sondern auch mit mittlerem Einkommen immer knapper werde. Die Preise für den Kauf und das Mieten von Wohnungen stiegen rasant, weil Wohnungen zum Gegenstand von Spekulationen gemacht wurden: Große internationale Investmentfonds kaufen massenhaft Wohnungen in Großstädten.

Caren Lay wies darauf hin, dass die Mieten in Deutschland um 40 Prozent gestiegen seien. Das sei dramatisch, weil die Hälfte der Menschen in Deutschland in Mietwohnungen lebt. Neuerdings würden auch die Mieten für Wohnungen in ländlichen Regionen steigen. Diese katastrophale Entwicklung sei nicht von selbst entstanden, sondern von den letzten Bundesregierungen erzeugt worden, indem sie Wohnungen zum Gegenstand der Spekulation gemacht hätten.

Daria Gosek-Popiołek wies darauf hin, dass die Mieten für Wohnungen in polnischen Innenstädten stiegen, weil sie teuer an Touristen vermietet würden, Dies beschleunige die Gentrifizierung von Stadtteilen, zum Beispiel Nowa Huta in Krakau. Die polnische Verfassung garantiere zwar theoretisch «ein Dach über dem Kopf», aber dieses Verfassungsgebot würde von der Regierung ignoriert, denn es gebe keine wohnungspolitischen Programme. Die Situation in Polen sei zwar noch nicht so schlimm wie in Deutschland, ein großes Problem sei jedoch der fehlende Rechtsschutz für Mieter*innen.

Piotr Ikonowicz sagte, dass eine Gesetzesänderung dazu geführt habe, dass in Polen sogar Schutzbedürftige aus ihren Wohnungen geworfen werden könnten. Nach Protesten hätte das Verfassungsgericht allerdings entschieden, dass dies gegen die Verfassung verstoße.

Auf die Frage, was dagegen zu tun sei, antworteten alle Teilnehmer*innen der Diskussion ähnlich: Die Privatisierung von Wohnungen durch Städte und Gemeinden müsse beendet, die Spekulationen der internationalen Investmentfonds eingeschränkt und eine Mietobergrenze gesetzlich festgelegt werden. Außerdem seien aus dem Staatshaushalt finanzierte Mietwohnungsbauprogramme erforderlich.

Daria Gosek-Popiołek forderte, dass Wohnungen, die für kurze Zeit zum Beispiel an Touristen vermietet würden, wieder auf den Wohnungsmarkt gebracht werden müssten. In die Gestaltung der Wohnungspolitik müssten die Selbstverwaltungen stärker einbezogen werden. Der Staat selbst müsse sich stark auf dem Wohnungsmarkt engagieren und es bedürfe einer Rückkehr zu früheren Verhältnissen mit stärkeren Wohnungsbaugenossenschaften.

Für Deutschland forderte Caren Lay, die Enteignung oder den Rückkauf von privatisierten Wohnungsgesellschaften und eine gesetzliche Begrenzung der Mietpreise. Auch in Deutschland müssten Wohnungsbaugenossenschaften gestärkt werden. Als Menschenrecht müsste das Recht auf Wohnen in die Verfassung aufgenommen werden. Außerdem müsse durch den Rückkauf von Grundstücken durch Städte dem Problem der wachsenden Grundstückspreise durch Grundstückspekulation entgegengetreten werden.

Caren Lay wies auf die Gemeinsamkeiten hin, die es in ganz Europa hinsichtlich der Situation von Mieter*innen gebe. Eine europaweite Kooperation sei dringend notwendig gegen starke Gegner wie internationale Milliardäre, große Konzerne. Viele Probleme seien nur in Zusammenarbeit mit der europäischen Mieter*innenbewegung auf Europaebene zu lösen. Denn wenn es beispielsweise in einem Land gelänge, die Spekulation mit Wohnraum zu verbieten, dann würden sich die Investoren einfach auf die Wohnungen in den anderen europäischen Ländern stürzen. Für die Wahlen zum Europaparlament sei eine offensive linke Wohnungspolitik ein wichtiges Thema.

Holger Politt: Der erste Besucher. 20 Jahre Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polen

22. Mai 2023

von Dr. Holger Politt (Warschau)


Das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhielt Ende Februar 2003 die vom Außenminister der Republik Polen erteilte Genehmigung, mit der Tätigkeit in Polen beginnen zu dürfen. Schnell wurden entsprechende Büroräume angemietet, geeignete Büromöbel besorgt, nach künftigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gesucht. Im Mai 2003 war die feierliche Eröff-nung geplant, erste Tagungen und Maßnahmen der politischen Bildung waren im Blick. Kurz, die ersten Wochen nach Eingang der Genehmigung waren vor allem mit dem Einrichten und dem Aufbau des neuen Büros ausgefüllt. Plötzlich läutete Anfang April die Türglocke, ein älterer Herr stand vor der geöffneten Tür. Er nannte kurz seinen Namen, fragte dann, ob er es mit dem Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu tun habe und bat, ohne noch lange auf eine Antwort zu warten, hineingelassen zu werden.

„Wer hat sie denn hierhergeschickt?“, so der sichtlich erregte Gast, der gleich mit der Tür ins Haus fiel. „Bestimmt war es Berlin. Ist denen dort überhaupt klar, in welches Land man sie geschickt hat? Mit Rosa Luxemburg!“. Nun schaffte ich es immerhin, etwas zu entgegnen, denn ja, man kenne auch dort das heutige Polen ein wenig, deshalb werde jetzt hier das Büro aufgebaut und eröffnet, um künftig enger mit polnischen Organisationen und Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Der Name des ungewöhnlichen Eindringlings, Stefan Leder, sagte mir allerdings nur wenig, irgendwo dämmerte es, doch konnte es nicht näher zugeordnet werden. Zum Glück fing Stefan Leder nun an, sich ausführlicher vorzustellen.

„Ich bin der Sohn von Władysław Feinstein, der sich in der polnischen Arbeiterbewegung das Pseudonym Zdzisław Leder zugelegt hatte, daher der Name. Mein Vater war Kampfgenosse Rosa Luxemburgs und mit ihr befreundet.“ Jetzt war das Interesse an dem eigenwilligen Gast geweckt, hier stand jemand gegenüber, dessen Vater Rosa Luxemburg persönlich gekannt hatte. Nun machten beide es sich bequemer – soweit die unfertigen Büroräume es zuließen – und nahmen das Gespräch auf. Der Funken war längst übergesprungen, jetzt richtete sich das ganze Interesse meinerseits immer mehr dem Vater des ungewöhnlichen Gastes zu. „Dazu kommen wir später einmal, ganz bestimmt, jetzt will ich sie aber gar nicht mehr lange aufhalten, denn sie haben noch viel zu tun. Hier ist meine Telefonnummer, rufen sie mich bitte an.“ So plötzlich wie er gekommen war, verschwand Stefan Leder auch wieder.

*

Stefan Leder (1919 bis 2003) war Arzt von Beruf, lebte damals in Warschau, der Geburtsstadt. Ein ungewöhnlicher Lebenslauf lag hinter ihm, als er das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufsuchte. Seine frühe Kindheit hatte er in Polen und Deutschland verbracht, bevor der Vater 1924 aus Deutschland ausgewiesen wurde und die Familie in die Sowjetunion ging. Italien und England waren Auslandstationen, an denen Władysław Feinstein-Leder sich im Auftrag der Sowjetregierung länger aufhielt. Ab 1933 lebten die Leders wieder in Moskau. 1937 wurde der Vater festgenommen, zu langer Lagerhaft verurteilt, starb auf dem Weg in den Bestimmungsort hoch im Norden. Stefan Leder studierte in der Sowjetunion Medizin, trat als junger Militärmediziner der Roten Armee bei, um ab 1943 in der in der Sowjetunion neugebildeten polnischen Armee zu kämpfen – seine Einheit kam bis Stettin.

Nach dem Krieg blieb er in der VR Polen, wurde Arzt, zunächst Internist, später in der klinischen Psychiatrie. Er engagierte sich in der Weltfriedensbewegung, trat für die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa ein, wurde zum aufrichtigen Streiter für die deutsch-polnische Versöhnung. Zu seinen engsten Freunden unter den Deutschen hatte Gerd Kaiser gezählt, ein namhafter DDR-Militärhistoriker, der 2002 eines der besten deutschen Bücher über Katyn veröffentlichte. Von ihm hatte Stefan Leder von der bevorstehenden Eröffnung des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau erfahren, sich dann schnurstracks aufgemacht, um sich selbst ein Bild zu machen.

Im Oktober 2003 führte die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre erste große Tagung in Warschau durch, eine Konferenz zu einem europapolitischen Thema aus Sicht linksgerichteter Kräfte – mit größerer internationaler Beteiligung. Konferenzsprachen waren Polnisch, Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch und Italienisch. Zur Überraschung aller Teilnehmer meldete sich Stefan Leder in den einzelnen Diskussionsrunden – jeweils passend – in allen diesen Sprachen zu Wort, eine jede meisterhaft beherrschend. Ganz am Schluss der Konferenz bat er noch einmal um Gehör, schaltete das Mikrofon an und hielt in Polnisch eine glänzende, kurze Rede zum Andenken an die große Europäerin Rosa Luxemburg. Als er das Mikrofon ausschalten wollte, versagte ihm das Herz.

Zum Weiterlesen empfohlen:
Unbeirrbar rot. Zeugen und Zeugnisse einer Familie. Eineinhalb Jahrhunderte Familiensaga.
Erzählt und ausgewählt von Stefan und Witold Leder,
Berelin 2002.
(2005 wurde das von Witold Leder überarbeitete Buch mit Unterstützung der RLS in Polnisch herausgegeben: Czerwona nić. Ze wspomnień i prac rodziny Lederów.)

Holger Politt: "Mein Leben gehört dem jüdischen Volk in Polen." Vor 80 Jahren brach am 19.4.1943 in Warschau der Aufstand im Ghetto aus

12. April 2023

von Dr. Holger Politt (Warschau)


Am 11. Mai 1943 setzt Szmul Zygielbojm in London die Zeilen für seinen Abschiedsrief auf. Adressiert sind sie an die führenden Vertreter der polnischen Exilregierung, die an der Themse Zuflucht gefunden hatte – an den Präsidenten Władysław Raczkiewicz und den Ministerpräsidenten Władysław Sikorski. Einen Tag später wird er sich das Leben nehmen. Zygielbojm, 1895 in dem zum Zarenreich gehörenden Kongresspolen geboren, war seit 1942 Mitglied im Nationalrat der Republik Polen, einem Beratungsorgan für den Präsidenten und Ministerpräsidenten. Er vertrat dort und mit dem ganzen Stolz des Widerstandskämpfers die große jüdische Minderheit seiner Heimat. Nach dem Kriegsausbruch war er im Herbst 1939 zunächst in Warschau geblieben, fortan an vorderster Stelle bemüht, die Strukturen des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes (Bund) auf den Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die unglaublichen Bedingungen der Okkupation auszurichten. Vor der drohenden Verhaftung war ihm Anfang 1940 die Flucht aus dem besetzten Polen gelungen, über Stationen in Frankreich und den USA war er schließlich nach London gekommen. In den letzten Stunden des mit brutalsten Mitteln niedergeschlagenen Aufstands im Warschauer Ghetto führt er nun aus:

„Die letzten Nachrichten aus Polen bestätigen zweifellos, dass die Deutschen jetzt bereits mit ganzer rücksichtsloser Brutalität den Rest der Juden in Polen ermorden. Hinter den Ghettomauern vollzieht sich der letzte Akt einer in der Geschichte nie dagewesenen Tragödie.

Die Verantwortung für das Verbrechen der Ermordung des gesamten jüdischen Volkes in Polen fällt vor allem den Tätern zu, doch in einem mittelbaren Sinne belastet sie zugleich die ganze Menschheit, die alliierten Völker und Länder, die sich bis zum heutigen Tag zu keiner einzigen zählbaren Tat durchringen konnten, um dieses Verbrechen zu beenden. Wer tatenlos bei diesem Mord an Millionen schutzloser und gequälter Kinder, Frauen und Männer zuschaut, macht sich mitschuldig.

Ich muss auch festhalten, dass die polnische Regierung, wiewohl sie in einem sehr großen Maße bemüht gewesen war, an das Weltgewissen zu rühren, es nicht vermocht hat, sich zu einem so außergewöhnlichen Schritt zu entschließen, der dem Ausmaß des sich in Polen vollziehenden Dramas entsprochen hätte.

Von annähernd 3,5 Millionen Juden in Polen und den ungefähr 700.000 aus anderen Ländern nach Polen deportierten Juden lebten im April dieses Jahres laut den offiziellen Berichten der Führung des im Untergrund kämpfenden „Bund“, die uns vom Vertreter der Regierung in Polen überbracht wurden, noch ungefähr 300.000. Und der Mord hält ununterbrochen an.

Ich kann nicht schweigen, ich kann nicht weiterleben, wenn die Reste des jüdischen Lebens in Polen, dessen Repräsentant ich bin, umkommen.

Meine Genossen sterben im Warschauer Ghetto mit der Waffe in der Hand – in dem letzten heldenhaften Aufbäumen.

Mir ist es nicht gegeben, so zu sterben wie sie, gemeinsam mit ihnen. Doch ich gehöre zu ihnen, zu ihrem Massengrab.

Durch meinen Tod möchte ich den scharfen Protest ausdrücken gegen die Tatenlosigkeit, mit der die Welt zuschaut und erlaubt, das jüdische Volk zu vernichten. Ich weiß, wie wenig das einzelne menschliche Leben zählt, vor allem jetzt. Doch wenn ich es zu Lebzeiten nicht geschafft habe, so kann nun vielleicht mein Freitod dazu beitragen, diejenigen aus der Gleichgültigkeit zu rütteln, die aktiv werden können und aktiv werden sollen, um jetzt, im allerletzten Augenblick, jene geringe Anzahl an polnischen Juden, die noch am Leben geblieben sind, vor der sicheren Vernichtung zu retten.

Mein Leben gehört dem jüdischen Volk in Polen, so gebe ich es hin.“

Zu jener „geringen Anzahl an polnischen Juden“ zählten Kinder und Kleinstkinder, die in den Schreckenstagen der deutschen Okkupation von ihren jüdischen Eltern in Sicherheit gebracht werden konnten, wenn im besetzten Land geeigneter Unterschlupf gefunden wurde auf der „anderen“ Seite. Dieser Rettungsweg setzte eine Kette von Menschen voraus, die sich der drohenden Todesstrafe widersetzten, die den in einer unglaublichen Zwangslage befindlichen Kindern halfen, einen möglichst sicheren Unterschlupf zu finden, bis schließlich die Kinder in die fürsorglichen Hände von Menschen gelangten, die ihnen ein zweites Elternhaus bieten wollten und bieten konnten. Viele Jahrzehnte später beschlossen einige der nun großgewordenen Kinder von damals, den dramatischen Lebensweg mit künstlerischen Mitteln nachzugestalten und in Form der den Besucher in den Bann ziehenden Ausstellung ein Zeichen von Mahnung und Erinnerung zu setzen. Erstmals wurde die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polen entstandene Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ im Frühjahr 2015 in Warschau in dem soeben erst eröffneten Museum zur Geschichte der polnischen Juden (Polin) gezeigt. Die ergreifenden Bildtafeln zogen damals über 20.000 Besucher an. Zu erwähnen sei hier, dass die Ausstellung in Polen auch an den früheren Stätten der Vernichtung wie Treblinka, Chełmno nad Nerem (Kulmhof) oder Oświęcim (Auschwitz) gezeigt wurde.

Im Land Brandenburg war die Ausstellung erstmals vom Januar bis März 2018 im Landtag in Potsdam zu sehen. Weitere Stationen waren im Frühjahr/Sommer 2018 das Schloss in Bad Freienwalde (in der Stadt wurde die Ausstellung nochmals im Sommer 2019 gezeigt) sowie im Januar/Februar 2020 das Rathaus in Senftenberg. Die Ausstellung wurde in allen drei Städten von Joanna Sobolewska-Pyz eröffnet, die, 1939 in Warschau geboren, als dreijähriges Kind kurz vor Ausbruch des Aufstands im Warschauer Ghetto im April 1943 gerettet werden konnte. Joanna Sobolewska-Pyz hatte die entscheidende Idee zu dieser Ausstellung gehabt, fand schnell Gleichgesinnte und die nötigen Mitstreiter für die entsprechende künstlerische Umsetzung.

In diesem Jahr werden weitere Stationen der Ausstellung im Land Brandenburg folgen: Am 2. Juni findet die Eröffnung der Ausstellung in der St.-Marienkirche in Kyritz statt. Ab Juli ist sie im Stadtmuseum in Schwedt/Oder zu sehen. Dort wird zum ersten Mal eine zweisprachige Gestaltung in deutscher und polnischer Sprache zu sehen sein, die speziell für den deutsch-polnischen Grenzraum an Oder und Neiße gedacht ist.  

Die Auszüge aus dem Brief von Szmul Zygielbojm wurden von Holger Politt aus dem Polnischen übersetzt.

Mitautor Holger Politt zum neuen Buch zum russischen Anfriffskrieg gegen die Ukraine

Ende 2022 ist mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung bei VSA das Buch „Ein Krieg, der keiner sein sollte“ von Krzysztof Pilawski und Holger Politt erschienen. Ein Buch geschrieben gegen den russischen Angriffskrieg, gegen den Versuch, mit militärischen Mitteln weltweit anerkannte Staatsgrenzen gewaltsam und einseitig zu ändern. Der Anlass, weshalb das Buch geschrieben wurde, ist mithin klar, was aber erwartet den Leser auf den Buchseiten?

Dr. Holger Politt: Vorgeschlagen wird zunächst ein Perspektivwechsel, denn aus der Sicht Berlins – ganz unabhängig einmal von den unterschiedlichen politischen Optionen – wird beim Blick nach Osten vieles mehr oder weniger in den unmerklichen Schatten Moskaus getaucht. Die unmittelbaren Beziehungen zu Moskau hatten aus guten Gründen in den letzten Jahrzehnten immer einen ausnehmend hohen Rang in den auswärtigen Beziehungen, zuletzt war Russland obendrein der mit Abstand wichtigste Rohstofflieferant für die deutsche Wirtschaft – einem der treibenden Motoren innerhalb der Europäischen Union. Das hatte andererseits seine Auswirkungen auf die Sicht in den nicht gerade kleinen geographischen Raum, der Berlin von Moskau trennt. Die warnenden Stimmen von dort, nach der Krim-Annexion 2014 auf den Bau einer weiteren Erdgastrasse am Ostseegrund zu verzichten, blieben in Berlin ungehört. Nord Stream 2, so hieß es entschieden wie beschwichtigend, sei ein Vorhaben ausschließlich privatwirtschaftlicher Natur, habe mit den angeführten oder beschworenen politischen Gefahren nichts zu tun. Erst der 24. Februar 2022 zwang Berlin, hier einzulenken und den Argumenten aus Hauptstädten wie Warschau, Tallinn oder Helsinki entsprechendes Gehör zu schenken. Die vom Bundeskanzler Olaf Scholz apostrophierte „Zeitenwende“ hat so gesehen sehr viel mit den zurückliegenden Fehlern in der deutschen Russlandpolitik zu tun. Doch nicht das ist für die Autoren entscheidend, sondern vielmehr der andere Blick, der sich aufdrängt, sobald Oder und Neiße westlich zurückgelassen werden.

Was ändert sich hinter Oder und Neiße?

Russlands militärisches Vorgehen gegen die Ukraine weckte schnell Gespenster aus der Vergangenheit, unabhängig davon, ob anderswo diese Gespenster in Bezug auf das heutige Russland als gerechtfertigt oder vorgeschoben angesehen werden. Die eigene historische Erfahrung wiegt hier schwer, schwerer jedenfalls als gutgemeinte wirtschaftspolitische Interessen anderswo. Und schnell wurde klar, dass die Ukraine in ihrem heutigen Verteidigungskampf gegen den russischen Angriffskrieg einen Kampf ausficht, den in der Vergangenheit man selbst ausfechten musste, wobei die nicht zu tilgende Erfahrung mitschwingt, in diesem Kampf fast immer auf verlorenem Posten gestanden zu haben. Vergleichsweise frisch sind solche Erfahrungen in Estland, Lettland Litauen und Polen, was im geschichtlichen Kalender des 19. oder 20. Jahrhunderts schnell nachgelesen werden kann. Daraus nun umgekehrt und ungeprüft den Vorwurf zu schmieden, diese Länder seien ohnehin durchdrungen von antirussischen Einstellungen in weiten Teilen der Bevölkerung, geht am eigentlichen Problem vorbei, ist eine vereinfachende Unterstellung und ignoriert die entstandene Lage. Tatsächlich ließ Russlands militärisches Vorgehen gegen das Nachbarland, das selbst in keiner Weise Russland angegriffen hatte oder überhaupt angreifen wollte, alle Alarmglocken läuten. Nie zuvor war die eigene Mitgliedschaft im westlichen Militärbündnis so unter Beweis gestellt worden wie in der Stunde des Überfalls. Die Ukraine konnte überfallen werden, weil kein Nato-Mitglied, das eigene Land bleibt davor geschützt, weil Mitglied in der Militärorganisation. Wenn dann woanders dieser Beitritt zur Nato als ein Teil der Nato-Osterweiterung selbst in der Reihe von Ursachen angeführt wird, die Putins Russland schließlich in den Krieg gegen die Ukraine getrieben hätten, bleibt weitgehendes Unverständnis zurück. Belehrt aus schmerzlicher historischer Erfahrung wird darauf gepocht, selbst über die Sicherheitsinteressen des Landes zu entscheiden.

Wo ist nach Ursachen für diesen Krieg zu suchen?

Zumindest sollten zwei wichtige Bereiche bei der Suche nicht ausgeblendet werden. Zum einen der von Putin immer wieder angeführte Kampf um die Wiedereingliederung heiliger russischer Erde, die zum heutigen Russland gehören müsse und auf die Moskau einen historischen Anspruch habe – ganz unabhängig also von den weltweit anerkannten Ergebnissen des Auseinanderfallens der Sowjetunion, das Putin seit vielen Jahren als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts versteht. Und zum anderen das eben angeführte Auseinanderbrechen der Sowjetunion selbst, dessen entscheidenden Ursachen nicht im aufmüpfigen Litauen oder gar in der Ukraine zu suchen sind, sondern umgekehrt in Russland, wie die Geschichte unmissverständlich zeigt. Zu fragen bleibt doch, warum sich in Moskau immer mehr eine Linie durchsetzen konnte, mit der die damals allgemein anerkannten oder akzeptierten Ergebnisse der friedlichen Auflösung der Sowjetunion – in erster Linie betrifft das die gegenseitig anerkannten und respektierten Landesgrenzen der ehemaligen Unionsrepubliken und den Verzicht auf Bevölkerungsaustausch – aufgekündigt werden. Und wenn dann drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion beklagt wird, die Grenzen hätten damals entsprechend historischer Zugehörigkeit geändert werden müssen, dann hat das doch weniger mit Nato-Osterweiterung, umso mehr aber mit russischer Ukrainepolitik seither zu tun. Niemand wird doch bestreiten, dass der am 24. Februar 2022 vom Zaun gebrochene Krieg gegen das Nachbarland ein Eingeständnis ist für das krachende Scheitern Moskauer Ukrainepolitik. Drei Jahrzehnte hatte Moskau Zeit, sich auf neue, auch schmerzhafte Begebenheiten einzustellen, am Ende aber sprachen die Waffen.

Und der Zerfallsprozess Jugoslawiens, finden sich dort Parallelen?

Weniger, denn womit sollte die Zeitspanne von 30 Jahren erklärt werden, die seit dem Auflösen der Sowjetunion ins Land gegangen ist? Wäre es damals sofort zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine um die Krim oder im Donezbecken gekommen, so hätte alle Welt zu Recht von Bürgerkrieg und all seinen schrecklichen wie spezifischen Folgen sprechen dürfen. Doch alle Welt atmete auf, weil der Trennungsvorgang friedlich verlief, ohne dass eine Seite einseitig territoriale Forderungen erhob. Und ein weiterer grundlegender Unterschied sei angefügt: Beim Auseinanderfallen Jugoslawiens sahen sich vor allem die Serben vielerorts benachteiligt, waren offensichtlich sie es, die entschieden auf einen Fortbestand Jugoslawiens pochten. Im Falle des Auseinanderfallens der Sowjetunion aber war Russland selbst die treibende und entscheidende Kraft, denn gegen Gorbatschows Versuch, die Sowjetunion zu retten, setzte sich das von Jelzins für souverän erklärte Russland durch. Da spielte die Ukraine höchstens noch eine mitlaufende Rolle, anders als etwa Kroatien – um hier einmal einen in vielerlei Hinsicht hinkenden Vergleich anzuführen – im damaligen Jugoslawien. Außerdem sei darauf verwiesen, dass die Auflösung der Sowjetunion – anders als das Auseinanderbrechen Jugoslawiens – weitgehend ohne äußere Einmischung erfolgte, also alleine und sozusagen ungestört inneren Entwicklungslinien folgte.

Was ist das Buch nicht? Was ist es?  

Es ist im engeren Sinne kein Buch über den in der Ukraine tobenden Krieg, wiewohl der russische Krieg gegen die Ukraine ein alles beeinflussendes Thema ist. Es ist kein Buch über die Ukraine, gleichwohl dem angegriffenen Land und seiner tapferen Verteidigung alle Sympathie der beiden Autoren gehören. Es ist hingegen ein Buch, das unmissverständlich Frieden für die Ukraine fordert, das aber zugleich vor gefährlichen Illusionen warnt, denn Putins Moskau hegt gegenüber der Ukraine unverhohlen Eroberungsabsichten. Wie schnell hatte man sich in Deutschland hier und da nach der Krim-Annexion im März 2014 zu beruhigen versucht: Weil Russland nunmehr historische Gerechtigkeit durchgesetzt habe, so fragwürdig die angewandten Mittel auch gewesen sein mögen, werde es sich gegenüber seinem Nachbarland künftig zu zügeln wissen. Das Gegenteil war der Fall – der Appetit auf weitere Eroberungen in der Ukraine war erst richtig geweckt.


Krzysztof Pilawski/Holger Politt:

Ein Krieg, der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn

VSA: Verlag Hamburg 2022
172 Seiten

Zur Verlagsseite ...

Holger Politt: Zum Abschied. Im Zeichen Rosa Luxemburgs in Polen

28. September 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Ab Oktober 2022 werde ich mich nach Entscheidung der Gremien der Rosa-Luxemburg-Stiftung beruflich mit den verbliebenen Lücken in der Rezeption des Werkes von Rosa Luxemburg beschäftigen, zugleich aus dem aktiven Geschäft politischer Bildungsarbeit ausscheiden. Der Schwerpunkt wird sich nun unweigerlich und immer mehr auf die schriftliche oder auch Übersetzertätigkeit verlegen. Meine langen Berufsjahre in der Auslandsarbeit der Stiftung, die im Mai 2002 begonnen haben, finden damit ihren Abschluss. Damals hatte ich die Möglichkeit bekommen, am Aufbau eines der ersten vier Auslandsbüros der Stiftung unmittelbar mitzuwirken, wofür ich den damaligen Entscheidungsträgern überaus dankbar bin. Das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau wurde im Mai 2003 eröffnet, für die Partei des Demokratischen Sozialismus waren Gesine Lötsch, eine der beiden Abgeordneten der Partei im Deutschen Bundestag, und Helmut Scholz, damals Leiter der Internationalen Arbeit im Karl-Liebknecht-Haus, zugegen. Von polnischer Seite war Maria Szyszkowska anwesend, damals Senatorin, also Mitglied im Oberhaus, für die SLD (Demokratische Linksallianz), die sich vor allem als eine Streiterin für Rechte von Minderheiten einen geschätzten Namen gemacht hatte.

Nach meinen ersten Jahren als Leiter des Büros in Warschau, die im Dezember 2009 zu Ende gegangen waren, bin ich im Herbst 2017 noch einmal auf den Posten zurückgekehrt, vor allem deshalb, weil bereits zu ahnen war, wie schwer es werden könnte, mit dem Namen Rosa Luxemburgs in Polen zu agieren inmitten der tobenden Wellen einer geschichtspolitischen Offensive seitens der nationalkonservativen Regierung. Die Regierenden in Warschau schienen in ihrem verwegenen Kampf gegen alle Überbleibsel des Kommunismus im öffentlichen Raum keine Grenzen mehr zu kennen, wohl auch deshalb nicht, weil es im Parlament seit den Wahlen 2015 keine Linkskräfte mehr gab.

Meine Ahnungen wurden schnell bestätigt, die Angriffe gegen Rosa Luxemburg und damit das Büro waren heftig. Im März 2018 wurde in Zamość demonstrativ die Gedenktafel für Rosa Luxemburg entfernt, angeordnet vom damaligen Wojewoden in Lublin, Przemysław Czarnek, der heute als Bildungsminister in Warschau immer wieder Proben seines aus der Zeit gefallenen Weltverständnisses gibt. Damals jedoch richtete sich die Wut gegen Rosa Luxemburg, jede Erinnerung an sie sollte – zumal in der Geburtsstadt – aus dem öffentlichen Raum verschwinden.

Im Parlament indes wurde in der Sache ein Abgeordneter aktiv, der die Nationalkonservativen von rechts her kritisierte und – selbst Historiker – felsenfest meinte, eine Einrichtung wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung dürfe wegen des Stiftungsnamens und wegen der offensichtlichen kommunistischen Propaganda nicht in Polen tätig sein. Die parlamentarischen Anfragen wurden gleich an fünf Ministerien gerichtet, wobei die Antworten der Minister oder Staatssekretäre immer darauf hinausliefen, dass dem rechtsdrehenden Abgeordneten in der Sache zugestimmt werde, doch lasse die bestehende Rechtslage ein Verbot der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polen nicht zu, weil es sich um eine ausländische Einrichtung handele. In einer der Antworten stand obendrein, dass es ja schließlich Sache der gewählten Volksvertreter sei, gegebenenfalls die Gesetzeslage zu ändern. Ganz am Ende des aufgewühlten Jahres 2018 erklärte Polens Ministerpräsident – im Parlament danach befragt –, dass in dem von ihm regierten Land eine Einrichtung mit dem Namen Rosa Luxemburgs gar nicht tätig sein könne. Ihm war in diesem Moment allerdings nicht bewusst, dass es sich bei der angesprochenen Einrichtung um eine in Polen tätige ausländische Einrichtung handelt.

Unterstützung bekam das Büro in diesen geschichtspolitisch aufgeladenen Zeiten von zwei Brandenburgern, nämlich von Dagmar Enkelmann und Detlef Nakath, die im April 2018 für den Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Warschau gekommen waren, um den Kolleginnen und Kollegen im Büro ihre feste Solidarität zu erklären.

Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2019, die für die Nationalkonservativen mit einem Ergebnis endeten, das ihnen das Regieren künftig schwieriger werden ließ, flaute die geschichtspolitische Offensive ab, weil die erhofften Effekte für das Wählerverhalten ausgeblieben waren. Andere Themen wurden nun nach vorne gezogen, so der ins Absurde gesteigerte Kampf gegen die LGBT-Rechte oder die drastische Einschränkung von Frauenrechten. In dieser Situation ergab sich plötzlich dennoch eine Möglichkeit, Rosa Luxemburg im Jahr 2021, in dem weltweit ihr 150. Geburtstag begangen wurde, auch in der Geburtsstadt Zamość öffentlich zu würdigen.

Auf Basis des 2020 im Hamburger VSA-Verlag erschienenen Buches „Rosa Luxemburg: Spurensuche“, das Dokumente und Zeugnisse der Familiengeschichte versammelt, gestalteten der Grafiker Wojciech Jankowski und der Publizist Krzysztof Pilawski eine Ausstellung, die Rosa Luxemburg und ihren vier Geschwistern gewidmet ist. Alle waren in Zamość zur Welt gekommen, ein zusätzlicher Reiz, um nun im Sommer und Herbst 2021 in der wunderschönen Synagoge der Stadt – die heute von der in Warschau ansässigen Stiftung für jüdisches Kulturerbe als kulturelles Zentrum genutzt wird – an Rosa Luxemburg zu erinnern. Da wegen der damals herrschenden Pandemieregeln vor allem Besucher aus Polen angezogen wurden, war der gewünschte Effekt umso erfreulicher. Rosa Luxemburg wurde zu ihrem 150. Geburtstag in Polen, in ihrer Geburtsstadt öffentlich gewürdigt.

Bei einem abschließenden Besuch in Zamość im September 2022 wurde noch einmal deutlich, wie wichtig die Kontakte zu denjenigen sind, die sich in Rosa Luxemburgs Geburtsstadt für eine angemessene und überzeugende Würdigung der weltberühmten Tochter dieser Stadt einsetzen. Die Ausstellung im letzten Jahr hat beispielhaft gezeigt, wie sehr kluge Ideen, die gepaart sind mit dem beharrlichen Verfolgen in der Sache, Türen öffnen können, die fest verschlossen schienen. Und es liegt ja auf der Hand, dass die Ausstellungseröffnung im Juli 2021 und der gesamte Ausstellungsverlauf zu den Höhepunkten meiner langjährigen Tätigkeit in Polen zählen.

Ps.: Die Ausstellung „In Rosas Schatten“ wurde im Januar 2022 in Leipzig im dortigen Liebknecht-Haus erstmals vor einem deutschen Publikum gezeigt. Der Leipziger Historiker Volker Külow hatte sich dafür mit Erfolg eingesetzt, die weitere Nutzung in Deutschland ist bezweckt. So wird sie im November 2022 in der Galerie der Volkshochschule Heilbronn ein weiteres Mal in Deutschland zu sehen sein, was auf die wunderbare Initiative von Anneliese Fleischmann-Stroh zurückgeht.

Holger Politt: Ernst Bloch - 1938

Blochs Unterkunft in Prag, ul. Šárecká 33 heutige Ansicht) [Foto: Jan Májiček]

22. Juni 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Ein wenig verwundert schrieb Ernst Bloch im März 1937 seinem Freund Walter Benjamin: „dass Sie nie in Prag waren, ist allerdings erstaunlich.“ Bloch war gemeinsam mit Ehefrau Karola als deutscher Emigrant Anfang 1936 an die Moldau gekommen, hier wurde im September 1937 ihr Sohn Jan Robert geboren. Bloch nutzte die Zeit, um ein 1.000 Seiten umfassendes Manuskript niederzuschreiben, das viele Jahre später, nämlich erst 1972 unter dem Titel „Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz“ der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Eine Denkgeschichte sondergleichen, mit Sätzen wie diesen gleich am Beginn: „Das Dauernde und sozusagen Feste ist hier zugleich das Allfließende; den Stein als Grundstoff setzt niemand.“

Die Blochs waren nach Zürich und Wien schließlich hierhergekommen, ihrer letzten Station auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort in Europa, bevor sie dann im Juli 1938 über das polnische Gdynia vor Hitlers gefährlichem Treiben noch rechtzeitig nach Amerika auswanderten. Bloch empfahl in Briefen an verschiedene Freunde, die einen Zufluchtsort suchten, immer wieder Prag, ermunterte sie den Weg nicht zu scheuen, auch wegen der völlig unkomplizierten Art und Weise, mit dem die Behörden Aufenthaltsbewilligungen erteilten. Bloch erhielt die seine wegen „Arbeit in der hiesigen Universitätsbibliothek“. Zugleich war ihm die in jeder Hinsicht gefährdete Lage des Gastlandes immer gegenwärtig: „Nicht darf vergessen werden, dass man hier auf einen Epikrater sitzt. Bohemia ist zum Unterschied von der Schweiz in wenigen Stunden restlos besetzt. […] Kurz: wenn die Tschechei nicht völlig eingekesselt wäre, wäre das Land das bequemste. So freilich weiß keiner, wie lange seine Selbständigkeit hält.“

Nicht verwunderlich also, dass Bloch – als nun Hitlers Druck gegen Prag immer bedrohlicher wurde – fest zu Land und Leuten hielt. Vor München riet er zur entschiedenen, also vor allem bewaffneten Gegenwehr. Dem großspurig daherkommenden diplomatischen Treiben der Hitlergegner im Westen traute er nicht über den Weg, er witterte frühzeitig den kommenden Verrat, sprach von dem „englischen Spießgesellen“, auf den „man sich nicht verlassen“ dürfe: „Am meisten zehrt das Ungewisse. Wann kommt der Schlag, der uns vernichten will, morgen, übermorgen, oder bleibt uns noch eine Galgenfrist. Das ist die Frage, die jeder Tscheche sich seit Jahren vorlegt.“

Folglich verlegte er seine Hoffnung, um Hitlers verbrecherische Machtspiel zu stoppen, bevor es zu spät sei, auf die militärische Verteidigungshandlung der Tschechen: „So etwas hat noch kein Volk bisher auszuhalten gehabt. Die Zeit der Überraschungen, sagte Hitler nach der Rheinlandbesetzung, ist vorüber. Aber der Vater der Lüge hat dieses Versprechen so wenig gehalten wie seine übrigen. Die Tage und Nächte kurz nach der Überraschung, die Österreich erlebt hat, werden für jeden, der damals in der Tschechoslowakei lebte, unvergesslich sein. Kaum einer erwartete, dass die Dynamik des Raubs an der tschechischen Grenze halt machen würde. […] Da kam die Wende aus dem kleinen Land selbst her. Eine Überraschung geschah, sogar eine blitzartige, doch diesmal ging sie nicht von Hitler aus. Benesch setzte die Teilmobilisierung der tschechischen Armee gegen die Mehrheit seines Ministeriums durch. Einige Minister zweifelten an der englischen Unterstützung, andere vielleicht noch mehr, Benesch entgegnete: Dann wehren wir uns ohne England.“ Bloch sprach vom „patriotischen Einfluss und Weitblick“, der die Absichten, sich wehrlos und ohne militärische Gegenwehr dem Angriff des überlegenen Gegners zu ergeben, durchkreuzte. „Der kleine Staat hat als erster dem furchtbaren Nachbar die Zähne gezeigt, die Kraft der vollzogenen Tatsachen war diesmal auf der tschechischen Seite. Es hätte ein Wendepunkt sein können; den starken Demokratien des Westens schien die kleine Tschechoslowakei endlich ein wenig Mut zu machen.“

Doch bald, so Bloch unmissverständlich, habe besonders England zur „alten zweideutigen Lammgeduld“ zurückgefunden. Die Nazis legten den Köder aus, signalisierten giftig, „einen Krieg mit der Tschechoslowakei, wenn er nicht vermieden werden kann, wenigstens zu lokalisieren“. Der Weg nach München war gepflastert. Das schändliche Abkommen vom September 1938 nannte Bloch einen „Betrug mit Frieden“: „Man wird auch diese Tage nie vergessen. Es sind die schlimmsten seit 1933, vielleicht ist ihr Druck noch größer. Damals fing das Elend erst an, und man hatte es kommen sehen. Der neue Schlag war den meisten unerwartet.“ Die Tschechoslowakei wurde aufgegeben, Hitler zum Fraß überlassen. Bloch über die fürchterliche Konsequenz: „Nun muss ganz Versailles Nazideutschland zum Besten dienen, nun rentiert es sich für Hitler, dass der Versailler Vertrag einen solch wunderbaren Gürtel schwacher Staaten zwischen Deutschland und die Sowjetunion gelegt hat, dass er sie ungeschützt vors deutsche Gebiss gebracht hat. Nun liegt ganz Osteuropa offen, in monströser Weise, nun erlangen die deutschen Minderheiten im Donauraum für die Nazis einen Wohlgeschmack und Ölglanz, von dem kein Vernünftiger bisher zu träumen wagte.“

Bloch gehörte zu denjenigen, die frühzeitig um die entsetzlichen Folgen wussten. Klug zog er ein den beiden Seiten – dem Aggressor wie dem Überfallenen – geltendes „Die Waffen nieder!“ die verlockende wie fälschliche Maske des Friedensengels ab. Und tatsächlich sollte niemand heute die Überlegung leichtfertig vom Tisch fegen, ob nicht die entschiedene Verteidigung der Tschechoslowakei der Welt und vor allem Europa einen weiteren Weltkrieg erspart hätte. Bloch war hierin überaus klar: „Selbstverständlich kann auch das solideste Volksheer eines Fünfzehnmillionenstaats der deutschen Übermacht nicht lange widerstehen, die Tschechoslowakei kann ohne anderweitige Bindung der deutschen Streitkräfte ihre Position kaum länger als drei Monate behaupten. Aber ein wichtiges Bollwerk ist ein solches Land doch“.

Die angeführten unbelegten Zitate aus Ernst Bloch: Briefe 1903 bis 1975 (Frankfurt am Main 1985) und Ernst Bloch: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz (ebenda 1970). Beide Bände sind im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Holger Politt: Klare Botschaft auch ohne mahnenden Sirenenklang - Drei Bemerkungen zum 19. April 2022

19. April 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


I

Seit einigen Jahren erinnern an jedem 19. April um 12 Uhr die Sirenen in Warschau an den Beginn des bewaffneten Aufstands im Ghetto, der in den Frühjahrstagen 1943 den gleichermaßen heroischen wie tragischen Schlussakkord in der Geschichte des Warschauer Judentums während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg gebildet hat. In diesem Jahr, an dem an den 79. Jahrestag des so ungleichen wie mutigsten Waffengangs gedacht wird, werden die Sirenen stummbleiben, denn die Organisatoren entschieden so wegen des gleich nebenan in der Ukraine tobenden russischen Angriffskriegs. Während nämlich dort der Sirenenlärm wieder Luftalarm verheißt und die Menschen dringend auffordert, einen sicheren Unterschlupf aufzusuchen, ist es in Warschau das bloße Zeichen – wenn auch erschütternder – Erinnerung.

Doch auch ohne das mahnende Zeichen werden die Menschen in Warschau an diesem Tag in der einen Frage entschieden Stellung halten: wirksame Hilfe und Unterstützung für die Ukraine schließt nun umfangreiche und schnelle Waffenlieferung ein. Das Nachbarland verteidigt sich, der Gegner will es mit seiner überlegenen militärischen Macht niederringen, um es mit Gewalt in eine ihm passende Lage zu zwingen. Nachdem Wladimir Putins erster Plan, die Hauptstadt Kiew im raschen Feldzug einzunehmen und eine Marionettenregierung einzusetzen, wegen des unerwartet heftigen und vor allem wirksamen Widerstands der ukrainischen Seite zum Scheitern verurteilt war, setzt die russische Armee nun zu einem zweiten großen Militärschlag im Osten der Ukraine an. Jetzt soll die von Moskau gewünschte Entscheidung – die Zerstückelung der Ukraine – durchgesetzt werden. Ungeachtet aller zu erwartenden Opfer, denn wie verlustreich der Putin-Feldzug gegen die Ukraine tatsächlich ist, haben die ersten Kriegswochen seit dem 24. Februar nachgewiesen, wird auf die Kapitulation der Kiewer Regierung gedrängt. Diese – so heißt es aus Moskau – sei weder legitimiert, um für die gesamte Bevölkerung der Ukraine zu sprechen, noch sei sie für Russland überhaupt hinzunehmen, sei sie doch naziverseucht und bis an die Zähne militarisiert. Zuletzt wurde der russischen Öffentlichkeit außerdem nachgereicht, dass auf dem Territorium der Ukraine eigentlich die gerechtfertigte Schlacht gegen die Weltherrschaftspläne der USA geführt werde. Anders gesagt: Die Ukraine dürfe sich gar nicht beschweren, militärisch überfallen worden zu sein, denn sie habe sich in den zurückliegenden Jahren immer mehr zu einer russlandfeindlichen Ausgangsbasis für die USA-Weltherrschaftspläne gewandelt.

II

Der Chronist des Warschauer Ghettos, Emanuel Ringelblum, hatte nach der brutalen Niederschlagung des Aufstands im Ghetto, er fand noch rechtzeitig Unterschlupf in den Kellerräumen einer Gärtnerei am Stadtrand Warschaus, über den jungen Aufstandsführer Mordechaj Anielewicz notiert: „Diesen jungen Menschen, 25 Jahr alt, mittelgroß, mit einem schmalen, blassen, spitzen Gesicht, mit langen Haaren und von sympathischem Äußeren, hatte ich zu Beginn des Krieges kennengelernt. Er hatte mich, sportlich aufgemacht, aufgesucht und darum gebeten, Bücher auszuleihen. Seitdem war er oftmals gekommen, um Bücher auszuleihen zur Geschichte der Juden, insbesondere aber im Bereich der Ökonomie, die ihn besonders interessiert hatte. Wer hätte ahnen können, dass aus diesem ruhigen, bescheidenen und sympathischen Jungen jener Mann herauswachsen werde, der drei Jahre später zum bedeutendsten Menschen im Ghetto werden wird, dessen Namen die einen mit der größten Verehrung, die anderen mit Angst aussprechen werden.“ Und Ringelblum setzt hinzu: „Genosse Mordechaj, der so rasch erwachsen geworden ist, der so rasch die verantwortungsvolle Stellung des Kommandanten der Kampforganisation eingenommen hat, hatte sehr bedauert, dass er und seine Genossen drei Jahre Krieg verloren hätten mit kultureller Bildungsarbeit.“ Sie hätten die mit Hitler heraufgekommenen neuen Zeiten nicht verstanden, sie hätte der Jugend nämlich stattdessen beibringen sollen, wie man im Kampf Schuss- und Handwaffen gebraucht. Ringelblum selbst fällt am Schluss dieses bittere Urteil, die Situation bis zum Aufstand vom April 1943 beschreibend: „Leider war unsere Jugend zu diszipliniert, was dazu geführt hat, dass den Deutschen die 300.000 Juden ungewöhnlich wenig gekostet haben: nicht ein einziger Deutscher wurde getötet.“

III

Ernst Bloch ließe sich mit „Prinzip Hoffnung“ jetzt ganz schnell auf die Seite derjenigen schieben, die – allerdings weit entfernt davon, selbst solche Mittel oder Fäden in den Händen zu halten – etwas vorschnell nach „kreativer Diplomatie“ oder „weitblickender Politik“ rufen, um Waffenhilfe an die kämpfende Ukraine überflüssig zu machen. Indes will es der unbestechliche Philosoph dem heutigen Betrachter – der ihn ungeprüft einem abstrakten Pazifismus zuordnen wollte – gar nicht so einfach machen, denn es finden sich Texte, in denen er unerschrocken Ross und Reiter benennt. Hitlers zynische wie brutale Vorgehen gegen die Tschechoslowakei 1938, um das militärisch unterlegene Nachbarland niederzuzwingen, wird entschieden abgelehnt. Mehr noch – er beschwört in markanten Worten die kämpfende, die sich den heimtückischen Plänen widersetzende Tschechoslowakei vor München: „Die Bewaffnung der Armee ist vorzüglich, jeder zweite Mann ist mit einem Maschinengewehr ausgerüstet und versteht es zu handhaben, die tschechischen Maschinengewehre selber (aus der berühmten Waffenfabrik Škoda) zählen zu den besten der Welt. Selbstverständlich kann auch das solideste Volksheer eines Fünfzehnmillionenstaats der deutschen Übermacht nicht lange widerstehen, die Tschechoslowakei kann ohne anderweitige Bindung der deutschen Streitkräfte ihre Position kaum länger als drei Monate behaupten. Aber ein wichtiges Bollwerk ist ein solches Land doch, ein Stück Verdun im Rahme der democratia militans, Hitlers Blitzkriegsplan stieße jedenfalls auf ein wachsames, zum Ernstfall entschlossenes Volk; gerade deshalb wurde der Ernstfall noch einmal vermieden. Der kleine Staat hat als erster dem furchtbaren Nachbarn die Zähne gezeigt, die Kraft der vollzogenen Tatsachen war diesmal auf der tschechischen Seite. Es hätte das ein Wendepunkt sein können; den starken Demokratien des Westens schien die kleine Tschechoslowakei endlich ein wenig Mut zu machen. Dieser Mut ging freilich bald wieder vorüber, besonders England hat, nach seinen Demarchen, zur alten zweideutigen Lammgeduld wieder zurückgefunden.“ Den in München Ende September 1938 ohne Beteiligung der Tschechoslowakei ausgehandelten „Vertrag“, der schnurstracks in den Zweiten Weltkrieg mündete, nannte Bloch unmissverständlich einen „Betrug mit Frieden“: „Man wird auch diese Tage nie vergessen. Es sind die schlimmsten seit 1933, vielleicht ist ihr Druck noch größer. Damals fing das Elend erst an, und man hatte es kommen sehen. Der neue Schlag war den meisten unerwartet.“

Holger Politt: Moskau im Oktober 2014 - Eine Rückblende

29. März 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Die ersten kalten Herbsttage empfingen den Gast aus Warschau, der nach Moskau gekommen war, um für die Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Vortrag zu halten über den politischen Gehalt in der langjährigen Liebesbeziehung zwischen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches. Tagungsort in Moskau war das RGASPI, das Russische Staatsarchiv zur sozialpolitischen Geschichte, wo der vielleicht größte Schatz für die moderne Rosa-Luxemburg-Forschung liegt – die über 1.000 Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches.

Neben dem Tagungsthema trieb den Gast noch eine andere Frage um, denn noch immer war Wladimir Putins militärischer Handstreich auf der Krim in aller Munde. Zwar hatten sich die meisten derjenigen, die damals im März 2014 aus allen Wolken zu fallen schienen, wieder beruhigt, doch Putins unnachgiebiges Vorgehen gegen die Ukraine hatte damals so ziemlich die ganze Welt aufgeschreckt. Selbst der ansonsten enge Putin-Verbündete Aleksandr Lukaschenko hatte sofort bemerkt, welch schwerwiegender politischer Fehler die Krim-Annexion sei, wobei er beflissen hinzusetzte, dass keine Kraft der Welt nun noch in der Lage sein werde, Putin wieder von dort zu vertreiben. Als Putin – um seinen Streich gegen das Völkerrecht zu bemänteln – im März 2014 vor den beiden Kammern des russischen Parlaments heraushob, dass immer dort, wo außerhalb der Grenzen der Russländischen Föderation russisch gesprochen werde, auch russische Staatsräson in besonderer Weise herausgefordert sei, hielt Lukaschenko dem geistesgegenwärtig entgegen: Die Menschen in Belarus sprächen zwar russisch, doch sie könnten von Hause aus auch Belorussisch! In jenen turbulenten Tagen wird der Machthaber in Minsk zufrieden gewesen sein, dass das von ihm regierte Land – anders als die benachbarte Ukraine – keinen ausgesprochenen Ostteil besitzt, der weit in umliegendes russisches Gebiet hineinragt, dessen legitime Zugehörigkeit in Moskau von höchster Stelle immer wieder bestritten wird.

In den Tagungspausen und am Rande war viel Beschwichtigung zu hören, kritische Töne zum Vorgehen Putins gab es nicht. Ja, das mit der Krim sei ein außergewöhnlicher Eingriff gewesen, so war zu hören, denn nötig geworden sei Moskaus einmaliges Vorgehen durch den Putsch in Kiew gegen die rechtmäßige Janukowitsch-Regierung dort. Hin und wieder war auch der Verweis auf Kosovo zu hören, das schließlich mit militärischen, also Gewaltmitteln völkerrechtswidrig von Serbien abgetrennt worden sei. Und schließlich wurde dem Gesprächspartner aus Warschau höflich beschieden, dass der Westen sich in diesen Streit nicht einzumischen habe, weil dort nämlich erstens wenig davon verstanden werde und zweitens Russen und Ukrainer selbst in der Lage seien, den Konflikt mit ihren eigenen Mitteln beizulegen. Auf entschiedene Ablehnung aber stoße, wenn von außen bewusst Öl ins Feuer gegossen werde.

Der ob des Vorgehens auf der Krim beunruhigte Gast ließ sich schließlich besänftigen, er beruhigte sich fast, denn ihm wurde felsenfest versichert, es gebe seitens Moskaus überhaupt keine weiteren Ansprüche gegen die Ukraine. Andererseits wurde in einem nun ernsteren Gespräch die Frage nach dem Umgang mit den russischen Minderheiten im Ausland gestellt, so wie Putin das im März 2014 gleichermaßen heftig wie kritisch angesprochen hatte.

Moskau, so war damals kurz nach dem Krim-Anschluss zu vernehmen, werde offene Diskriminierung und staatlich geduldete Unterdrückung gegenüber russischen Minderheiten künftig nirgends mehr tolerieren. Der Einwurf des Gastes nun, dass dieser Vorwurf im Allgemeinen wohl weniger auf die Ukraine bezogen werden könne, denn diesbezüglich sei die Situation dort geradezu vorbildlich, dagegen – wenn schon, denn schon – wohl doch auf die Situation in Estland oder Lettland gemünzt werden könnte, wurde überraschend unbeachtet gelassen. Ja, sagte der Warschauer nun etwas schulmeisterlich, dort in Riga oder Tallin sei manches im Umgang mit den russischen Minderheiten frag- und kritikwürdig, entspräche nicht den sonst in der Europäischen Union geltenden oder üblichen Standards, aber daran habe schließlich auch Moskau eine nicht ganz unbedeutende Aktie. Denn während die Regierungen in Vilnius, Riga oder Tallinn berechtigt davon ausgingen, dass die andere Seite die staatliche Unabhängigkeit seit 1918 anerkenne, tue Moskau nun wieder so, als seien diese Republiken erst mit dem Zerfall der Sowjetunion in ein richtiges Leben getreten. Damit aber werde die Zeit zwischen 1940 und 1990/91 ausgeblendet, die aus Sicht der baltischen Republiken nachvollziehbar als Annexion gewertet werden dürfe, was aber laut Völkerrecht jeden gewaltsamen oder staatlich vorgenommenen Bevölkerungsaustausch ausschließe. Der aber sei in diesen Jahrzehnten unzweifelhaft erfolgt, was dann eben in den erwähnten Hauptstädten ein erheblicher Stein des Anstoßes bleibe.

Ganz in der Nähe des Tagungsgebäudes parkte am letzten Tag der Veranstaltung eine lange Reihe ansehnlicher Autobusse, allesamt im gleichen herausgeputzten Erscheinungsbild. Sie gehörten zu der 2012 mit einem Putin-Dekret ins Leben gerufenen „Russischen militärhistorischen Gesellschaft“, die sich u. a. dem patriotischen Wehrunterricht an den Schulen zu widmen hat. Den Einfall zu dieser mit viel öffentlichem Geld ausgestatteten Einrichtung hatte Wladimir Medinski, damals Russlands Kulturminister, heute in den Kriegstagen ein enger Putin-Vertrauter und der Leiter der russischen Delegation bei den Verhandlungen mit der ukrainischen Seite. Medinski stieg im Herbst 2014 unaufhaltsam zu einem der entscheidenden Köpfe für die Geschichtspolitik im Kreml auf, in der schließlich einer von Moskaus Gnaden unabhängigen Ukraine der Platz bestritten wird.

Podcast der RLS Sachsen-Anhalt: EinBlick nach Osteuropa - Teil 1 zu Polen mit Dr. Holger Politt

Straßencafé in Warschau, März 2022 [Foto: Holger Politt]

22. März 2022


Gern weisen wir an dieser Stelle auf eine Folge im Podcast "EinBlick nach Osteuropa“ hin, den die RLS Sachsen-Anhalt mit dem Radio HBW und der Journalistin Caroline Vongries durchführt.

Die erste Folge widmet sich Polen. Gesprächspartner ist der Leiter des Warschauer Büros der RLS, Dr. Holger Politt.

Die Folge war live im Radio HBW zu hören und nun hier als Aufzeichnung:

https://st.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/EUZBX/einblick-nach-osteuropa

Die Idee zu einer Podcastreihe mit Blick nach Osteuropa ist bereits vor Putins Angriff auf die Ukraine entstanden, der uns erst einmal fassungslos gemacht und die europäische Friedensordnung zerstört hat. Einen ersten „EinBlick“ wollten wir in Polen gewinnen, Anknüpfungspunkt waren die vergessenen Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze, die zum Spielball von Machtpolitik zwischen Russland, Berlarus und der EU, insbesondere Polen geworden sind. Menschen, im Grenzgebiet umhergetrieben –  eine humanitäre Tragödie.  „EinBlick“ nach Osteuropa erscheint aber jetzt umso dringlicher und existenzieller und greift Fragen auf nach der aktuellen Situation von Geflüchteten aus der Ukraine in Polen, den Veränderungen in der polnischen Zivilgesellschaft und Politik. Wie erleben unsere Nachbar*innen in Polen, die geografisch näher sind, die Situation? Welche Ängste sind dort wach? Wie wird die Lage eingeschätzt?  Wie stark ist die Identifikation mit den östlichen Nachbarn? Wie sieht der historische Kontext aus? Was denkt man in Polen, wie der Krieg beendet werden könnte? Und wie steht man in Polen zu den hierzulande diskutierten Forderungen aus der Ukraine selbst: schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU, Flugverbotszone, sofortiger Stopp aller Energielieferungen? Das Gespräch bezieht auch die Perspektive der baltischen Republiken mit ein.

Holger Politt: Polen hilft. Putins Angriffskrieg öffnet ein neues Kapitel in den polnisch-ukrainischen Beziehungen

15. März 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


„Putin oder Ukraine!“, so titelte ein führendes Tageblatt Polens gleich nach Kriegsausbruch Ende Februar. Das gibt die herrschende Stimmung hier im Lande sehr gut wieder – ein Wenn und Aber gibt es nicht. Ausweichende Diskussionen wie in Deutschland etwa, in denen der feige Aggressor mit schiefen Winkelzügen doch noch irgendwie in Schutz genommen wird, so als sei er von der anderen Seite zu seiner feigen Tat gedrängt, geradezu gezwungen worden, gibt es in Polen einfach nicht. Das eint mit einem Mal sogar den großen politischen Bogen von nationalkonservativ bis links. Putin hat mit seinem brutalen Feldzug gegen die Ukraine geschafft, was bereits unmöglich schien. Die tief verfeindeten politischen Lager sprechen plötzlich wieder mit einer Stimme, erheben sich im Parlament gemeinsam von den Stühlen, um dem zugeschalteten ukrainischen Staatsoberhaupt ihre tiefe Referenz zu erweisen. Und Staatspräsident Andrzej Duda ist nun seit dem Amtsantritt 2015 überhaupt zum ersten Mal in einer Situation, in der er einen Präsidenten aller Polen zu verkörpern scheint.

Auch das wirft bereits ein wenig Licht auf die unwahrscheinliche Welle der Solidarität mit der sich verteidigenden Ukraine, die sich vor allem in der enormen Hilfsbereitschaft niederschlägt, die den aus der Ukraine flüchtenden Frauen, Kindern und älteren Menschen entgegengebracht wird. Doch es ist wohl wie anderswo auch: Die politische Welt wird auch in Polen von der breiten Bevölkerung geschoben und zum einmütigen Handeln gedrängt, denn wer sich dem jetzt – mit welch hergeholtem Argument auch immer – entgegenstellen wollte, er wäre in aller Öffentlichkeit der Blamierte.

Wie lange diese Stimmung anhält, kann noch niemand sagen, denn auf lange Sicht braucht es, um die enorme Hilfeleistung aufrechtzuerhalten, die im Lande nun geleistet werden muss, ein enges Zusammengehen oder besser: genaues Verzahnen zwischen dem uneigennützigen Engagement der Bevölkerung, den Leistungen auf der lokalen Ebene und dem staatlichen Handeln. Bislang – so schätzen es Expertenstimmen einhellig ein – zeichnen sich vor allem die ersten beiden Ebenen aus. Allerdings hat Polen bereits Erfahrungen vorzuweisen, die anderswo häufig übersehen werden. Zum einen wurden zigtausende Menschen nach den Tschetschenienkriegen aufgenommen, zum anderen gab es bereits vor dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 eine große Zahl von Menschen aus der Ukraine – Schätzungen gehen von über einer Million aus –, die in Polen wenigstens zweitweise ihr Glück versuchten. Insofern sind beide Seiten, die einheimische Bevölkerung hier, ukrainische Einwanderinnen und Einwanderer dort, längst an sich gewöhnt. Allerdings übersteigt die jetzige Dimension der Fluchtbewegung tatsächlich alles das, was je vorstellbar war.

Andrji Deschtschyza, der ukrainische Botschafter in Polen, hat nun in einer ersten spontanen Reaktion erklärt, dass die Menschen, die jetzt in Polen diese Hilfsbereitschaft und Unterstützung erfahren, diese bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen würden. Er sagte damit nicht mehr und nicht weniger, als dass nunmehr ein ganz neues Kapitel in den polnisch-ukrainischen oder ukrainisch-polnischen Beziehungen aufgeschlagen wird.

Eine der Folgen seines unbegreiflichen Tuns, die der Kriegstreiber Putin nicht auf der Rechnung gehabt haben dürfte. Hinterlistig hatte er noch im zurückliegenden Jahr das Grenzregime an der EU-Außengrenze testen lassen. Etwa 50.000 Menschen aus dem Nordirak und Teilen Syriens – die allermeisten waren Kurden – bekamen mit falschen Versprechen ein Touristenvisum nach Belarus, einem Land, das niemand von den plötzlichen Touristen zuvor je gekannt haben dürfte, einem Land, das bekannt ist für seinen äußerst rigiden Umgang mit Privatreisen von anderswoher. Den ins Land gelockten Touristen wurde nur eine Himmelsrichtung gewiesen, um von dort wieder herauszukommen: nach Westen. Dass die Handlungen der polnischen Regierung gegenüber den ohne eigene Schuld in Not geratenen Menschen aus dem Nahen Osten weltweit auf sehr viel Kritik gestoßen sind, soll hier gar nicht unter den Tisch gekehrt werden, doch im Zusammenhang mit dem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine wird noch einmal ein ganz anders Licht auf die Sache geworfen. Insgeheim dürften Putin und seine Leute nach diesen Erfahrungen vom Herbst 2021 mit allem gerechnet haben, nicht aber mit den weit aufgestoßenen Toren an der polnisch-ukrainischen Grenze. Selbst in Deutschland gab es ja übereifrige Stimmen, die nach dem 24. Februar 2022 die polnische Regierung schnell bedrängten, die Grenzen für die flüchtenden Menschen zu öffnen, zu einem Zeitpunkt allerdings, als diese bereits weit aufgemacht waren.

Holger Politt: Alte Rechnung für neuen Krieg. Ein Rückblick auf den Rigaer Frieden vom März 1921

Kinderzeichnungen für den Frieden, Riga am 9. Mai 2018 [Foto: Holger Politt]

1. März 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es im Osten keine Sieger. Beide Seiten hatten verloren, Deutsche und Österreicher auf der einen, Russen auf der anderen. Damit trat ein, womit niemand bei Ausbruch des Krieges 1914 rechnen konnte: Die drei Teilungsmächte Polens von 1815 mussten allesamt das Feld räumen, der Weg war frei für die staatliche Wiederherstellung Polens. Während im Westen gegenüber dem besiegten Deutschland die Grenzen nach dem Versailler Friedensvertrag fester gezogen werden konnten, blieb die Situation im Osten viel unübersichtlicher, hierher drang kaum noch der Einfluss aus Versailles. Dort, wo Polen, Ukrainer, Belorussen, Litauer und zwischen ihnen Juden seit Jahrhunderten in engerer Nachbarschaft siedelten, sprach weiter die Waffengewalt.

Bereits Ende 1918 kam es um Lemberg im vormals zu Österreich gehörendem Ostgalizien zu bewaffneten Konflikten und Scharmützeln zwischen polnischen und ukrainischen Truppen; ein erstes Anzeichen, dass der Friedensschluss des Westens im Osten keinen Grund fand. Allein der Appell an die Wahrung ethnischer Grenzlinien war noch zu hören. Indes war es die Stunde wagemutiger Männer, die sich zu großer historischer Tat berufen fühlten. Auf polnischer Seite stieg Józef Piłsudski zum unerreichten Nationalhelden auf. Ihn trug die Vision, im Osten tief hinein in die Weiten des im Krieg untergegangenen Zarenreichs historische Grenzen durchzusetzen. Russland zehrte sich auf in einem blutigen Bürgerkrieg, der Sieger war längst noch nicht auszumachen. Um den ausbrechenden Nationalgefühlen in der ukrainischen und belorussischen Bevölkerung entgegenzukommen, setzte er auf die Föderationsidee – einen späteren Bund dieser Länder mit Polen, um dem Einfluss Russlands einen starken Riegel vorzuschieben.

Zu ersten Auseinandersetzungen zwischen polnischen Streitkräften und der Roten Armee kam es im April 1919 in Vilnius, als die Rote Armee aus der Stadt vertrieben wurde, um die sich damals vor allem Polen und Litauen stritten. Die polnische Armee rückte anschließend weiter nach Osten vor, brachte der Roten Armee empfindliche Niederlagen bei und erreichte im September 1919 eine Linie 50 Kilometer östlich von Minsk. Im Süden hatte man die gesamte Westukraine bereits in der Hand. Seit Mai 1919 waren dort die Kampfhandlungen gegen die Verbände der sogenannten Ukrainischen Volksrepublik von Symon Petljura eingestellt worden. Aus unversöhnlichen Feinden waren Bündnispartner geworden, der gemeinsame Gegner – Sowjetrussland – schweißte zusammen. Petljura hatte angesichts des Kräfteverhältnis schnell begriffen, dass der Weg zu der von ihm angestrebten unabhängigen Ukraine für ihn nur noch über die Eroberung Kiews, nicht mehr Lembergs führt.

Piłsudski schien dem geostrategischen Traum einer Föderation Polens mit von Russland losgelöster Belarus und selbständiger Ukraine einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Die westlichen Siegermächte allerdings pochten im Herbst 1919 immer noch auf eine polnische Ostgrenze am Bug, den Bevölkerungsmehrheiten folgend. Piłsudski nutzte nun aus, dass Sowjetrussland keinen Bündnispartner mehr im Westen besaß – eine formidable Situation für die eigenen Pläne. Später werden Historiker zu der Einschätzung gelangen, dass er gegen ein Russland der Weißgardisten wohl keine Chance besessen hätte. 

Die sowjetische Seite machte im Winter 1919/20 ernsthafte Friedensangebote, war bereit, das unabhängige Polen anzuerkennen, machte territoriale Zugeständnisse, die weit über die Vorstellungen der Westmächte hinausgingen, verwies aber – bezogen auf Belarus und die Ukraine – nun ihrerseits auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Warschau stellte harte Bedingungen, auf die Moskau nicht eingehen konnte, die Kampfhandlungen setzten sich im Frühjahr 1920 fort. Piłsudski zog es nach Kiew, um Petljura bei der Schaffung einer selbständigen Ukraine in die Vorhand zu bringen. Das Manöver gelang auch militärisch, am 7. Mai 2020 rückten polnische Truppen in Kiew ein. Die polnische Führung rechnete mit einem der sowjetischen Seite diktierten Friedensschluss, doch Moskau warf nach dem sich bereits abzeichnenden Sieg im Bürgerkrieg nun alles gegen Polen an die Front. Im Norden auf belorussischem Gebiet übernahm Michail Tuchatschewski die strategische Führung, im Süden in den ukrainischen Weiten kämpfte Budjonnys berühmt-berüchtigte Reiterarmee. Das Ziel war klar: die polnischen Truppen weit nach Westen zurückschlagen und Warschau einnehmen. Es brauchte nur wenige Tage, dann waren die polnischen Truppen wieder aus Kiew vertrieben.

Anfang August 1920 stand umgekehrt die Rote Armee nun vor den Toren Warschaus; die Einnahme der polnischen Hauptstadt schien nur eine Frage der Zeit. Eingesetzt werden sollte eine polnische Sowjetregierung, an deren Spitze Julian Marchlewski stand. Insgeheim rechnete die Sowjetführung um Lenin mit einem Schulterschluss der Arbeiter- und Bauernmassen Polens, vor allem der ärmeren Schichten. Hinter Piłsudski standen französische Berater und Truppen, unter anderem der junge Offizier Charles de Gaulle; auch gelang es ihm und seiner Führung in dieser bedrohlichen Situation, eine kriegsentscheidende patriotische Stimmung zu erzeugen, denn frische Freiwilligenheere standen in ausreichender Zahl zur Verfügung. So wie die Polen vor wenigen Monaten in Kiew, so scheiterten die Rotarmisten jetzt vor Warschau. In den Tagen zwischen dem 14. und 16. August 1920 kam es zur entscheidenden Kriegswende – jetzt wurde die Rote Armee wieder nach Osten gedrängt. Ende September 1920 gelang den polnischen Truppen sogar der Durchbruch in Richtung Minsk, die Sowjettruppen waren geschlagen.

Im Herbst 1920 wurden die Kampfhandlungen eingestellt und Friedensverhandlungen aufgenommen. Für Lenin war der exakte Grenzverlauf zwischen Sowjetland und Polen nun weniger wichtig, entscheidender war: Polen sollte am Verhandlungstisch die Existenz von Sowjet-Ukraine und Sowjet-Belarus hinnehmen, sozusagen Piłsudskis strategische Föderationspläne umkehrend. Am 18. März 1921 wurde in Riga der Friedenvertrag zwischen beiden Seiten unterschrieben, mit dem die Fortsetzung des Ersten Weltkriegs im Osten offiziell beendet wurde. Zugleich war der Weg geebnet zur Gründung der Sowjetunion, die offiziell am 30. Dezember 1922 aus der Taufe gehoben wurde.

Die westlichen Siegermächte brauchten noch geraume Zeit, den vereinbarten Grenzverlauf offiziell zu akzeptieren, weil ethnische Kriterien völlig vom Tisch gefegt wurden. Für Belarus bedeutete der Vertrag die Teilung, hier der polnische, dort der sowjetische Teil. Und die Ukraine kam im westlichen Teil zu Polen. Der Gebietsverlust wurde wettgemacht durch den administrativen Anschluss größerer Gebiete im Osten, die im Zarenreich immer russisches Gebiet waren.

Über 100 Jahre später greift Russlands Staatspräsident Wladimir Putin nun mit dem unglaublichen Argument zur Kriegsgewalt, Lenin und die Bolschewiki hätten sich mit der Schaffung der Sowjet-Ukraine gegen elementare russische Interessen versündigt.

Der Beitrag ist zuerst erschienen im ND, 26. Februar 2022.

Holger Politt: Bemerkung zur Nationalitätenfrage bei Rosa Luxemburg aus aktuellem Anlass

23. Februar 2022

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Hartnäckig hält sich der Vorwurf, Rosa Luxemburg habe sich in der Nationalitätenfrage geirrt. Als schlagender Beweis für diese Behauptung wird stets die polnische Frage angeführt, die sie falsch beantwortet habe. Ohne an dieser Stelle darauf tiefer einzugehen, sei dennoch kurz angeführt, dass der polnische Historiker Feliks Tych frühzeitig die Sache richtiggestellt hatte: Rosa Luxemburg ist nicht gegen die polnische Unabhängigkeit gewesen, sie hat sie vielmehr ausgeschlossen, was unter den bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrschenden Bedingungen in jenem Teil Europas auch nachvollziehbar war. Anders gesagt: Der Traum von nationaler und staatlicher Unabhängigkeit Polens war bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich vor allem visionär, die Wege dorthin aber konnten nur bedingt aufgezeigt werden. Wer sich auf die sachliche Analyse realpolitischer Machtkonstellationen einließ, vertagte diese Frage meistens, so auch Rosa Luxemburg – sie nun in die Zeit einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Doch nie wäre Rosa Luxemburg auf die aberwitzige Idee gekommen, einem Staat, der über dreißig Jahre existiert und weltweit anerkannt ist, plötzlich – und aus was für verwinkelten Gründen auch immer – das Existenzrecht abzusprechen.

Der ganze Reichtum in der Behandlung der Nationalitätenfrage bei Rosa Luxemburg tritt indes zutage, sobald die heute sperrig wirkende polnische Frage einmal beiseitegelassen wird. Innerhalb des demokratisch ausgerichteten Zentralstaates mit umfassender politischer Freiheit kommen den konsequent von unten nach oben ausgerichteten Körperschaften der Selbstverwaltung in den einzelnen Verwaltungsgliederungen auf dem Staatsgebiet ein entscheidendes Gewicht zu, wenn es um die Mitbeteiligung der Bevölkerung am demokratischen Prozess sowie um die angemessene Berücksichtigung der Bevölkerungszusammensetzung geht. In der Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908/09) hat sie diesen Zusammenhang ausführlich dargestellt. Es ist kein Zufall gewesen, dass sie dabei ein besonderes Augenmerk auf die Frage der den nationalen Minderheiten zukommenden Rechte und auf das Problem des Separatismus lenkte. Sie trat entschieden für ein robustes und verbrieftes Minderheitenrecht ein, das noch heute höchsten Ansprüchen genügen würde. Zugleich wies sie Separatismus, der sich auf vermeintliche Nationalitätenprobleme zu berufen sucht, zurück – erst recht natürlich, wenn für die Durchsetzung der Ziele Waffengewalt genutzt oder aber billigend in Kauf genommen wird. Wer die einseitig vorgenommene Anerkennung abtrünniger Gebiete hinnimmt und zur Tagesordnung überzugehen sucht, findet keine Gründe, sich auf Rosa Luxemburg zu berufen.

Die Rechte nationaler Minderheiten waren für Rosa Luxemburg ein höchstes Gut. Sie selbst wurde von preußischen Behörden verfolgt, weil sie sich für einen umfassenden Schutz der polnischen Sprache in jenen Gebieten eingesetzt hatte, die zu einem erheblichen oder mehrheitlichen Teil von polnischer Bevölkerung bewohnt waren. Der Gebrauch der Muttersprache im öffentlichen Leben hat in den Körperschaften der Selbstverwaltung überall dort gesetzlich verankert zu sein, wo eine entsprechende Bevölkerungszusammensetzung es erforderlich macht. Rosa Luxemburg wählte als treffliche Beispiele nicht ohne Grund den Kaukasus und das historische Litauen, das nicht zu verwechseln ist mit dem heutigen Litauen und das damals in der Bevölkerungszusammensetzung einem wahren Flickenteppich glich. Wer heute durch solche Orte geht, in denen auf der Straße nicht nur eine dazugehörende Muttersprache zu hören ist, sollte den Blick richten auf die Straßenschilder. Sind sie einsprachig, können sie ein Indiz sein für nicht durchgehaltene Minderheitenrechte. Der Anspruch darauf, diese zu kritisierende Situation zu verbessern, bleibt aber in Rosa Luxemburgs Verständnis einer der wesentlichen Aufgaben der selbstverwalteten Gebietskörperschaften. Hierbei mit militärischen oder anderen Gewaltmitteln einzugreifen, stieß auf ihre entschiedene Ablehnung.

Die eindeutige Haltung Rosa Luxemburgs in der Frage einseitiger territorialer Separation und Loslösung, an der es nichts zu deuteln gibt, hat viel zu tun mit der Kriegsgefahr, die durch erzwungene Grenzänderung unweigerlich und erheblich gesteigert wird. Den bösen Trick aber, mit der bloßen Unterschrift des eigenen Staatschefs in den Verlauf der Staatsgrenzen eines benachbarten Landes und gegen dessen Willen einzugreifen, hätte sie als zu verurteilende Androhung von Krieg und Gewalt gegeißelt. Alle Gründe, die angeführt werden, um das Mittel mit dem Zweck zu heiligen, hätte Rosa Luxemburg angewidert vom Tisch gewischt. So tat sie es nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Karl Kautskys Argumenten, nachdem er tatsächlich versucht hatte, den deutschen Kriegsgang gegen Zarenrussland mit einer Mission zu bemänteln, die wegen der gescheiterten Revolution von 1905/06 noch immer ausstünde.

Holger Politt: Peinliches Muskelspielen. Bemerkungen zur Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus

Straßenprotest in Warschau, November 2021: „Nehme Flüchtlinge auf, gebe Rassisten ab“ [Foto: Holger Politt]

23. November  2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Plötzlich geriet die Grenze, die in Europas Osten Polen und Belarus trennt, in die Schlagzeilen der Weltmedien. Bis zum Sommer 2021 war es eine sogenannte grüne Grenze, auf beiden Seiten zwar penibel bewacht, aber dennoch wirkte sie durchlässig wie andere unbefestigte Grenzen auch. Der beanspruchte Schutz der Grenzlinie wurde auf beiden Seiten mit anderen Mitteln umgesetzt, verzichtet wurde auf alle weitergehende Symbolik, das Bild bestimmten die Grenzsteine. So blieb es auch im letzten Jahr, als große Teile der Bevölkerung in Belarus mehrere Wochen lang und heftig gegen Alexandr Lukaschenko demonstrierten, weil sie fest davon überzeugt waren, dass in seinem Auftrag massive Wahlfälschung genutzt wurde, um als Staatspräsident im Amt bleiben zu können. Lukaschenko hält sich trotz des zurückgehenden Rückhalts im Inneren seither auch deshalb, weil Moskau keine Alternative zu ihm weiß.

Nun im Sommer 2021 versuchte Lukaschenko, dem immensen innen- wie außenpolitischen Druck aufzuweichen, indem er eine überaus riskante Karte zu spielen begann. Menschen vor allem aus dem Irak erhielten ohne jede bürokratische Hürde Einreisevisa nach Belarus, in ein Land also, dessen Namen die meisten bis dahin noch nicht einmal gekannt haben dürften. Gekoppelt an die Touristen-Visa nach Minsk war die mitgelieferte Verheißung, von dort unkompliziert und umgehend in die Europäische Union weiterreisen zu können. Dafür hatten die Menschen, die sich auf dieses vage Spiel einließen, jeweils eine beträchtliche Summe an Geld vorzuschießen. Pro Kopf, so stellte sich später bei Befragungen von Betroffenen heraus, waren umgerechnet meistens Summen zwischen 2.500 und 4.000 Euro fällig. Lukaschenkos Behörden nahmen diesen miesen Geschäftsbetrieb billigend in Kauf, wie der Minsker Machthaber im November 2021 gegenüber der Rundfunkanstalt BBC sogar bereitwillig einräumte. Wir seien Slawen, so Lukaschenko, da helfen wir gerne. Seine Behörden und Ordnungsorgane sorgten anschließend dafür, dass die in die EU wollenden Menschen schnell an die Grenze zu Polen und weiteren EU-Nachbarländern verbracht wurden, er fügte jetzt im BBC freigiebig hinzu, dass er sie an keiner anderen Stelle des von ihm regierten Landes sehen wolle. Es sei ausschließlich die EU und darin bestimmte Länder, die sie erreichen wollten. Entsprechend sorgten die Ordnungskräfte lange Zeit dafür, dass niemand mehr von der Grenzlinie ins Land zurückkonnte, für das aber alle ein gültiges Einreisevisum besessen hatten.

Anfang Oktober 2021 ließ Jarosław Kaczyński in dem von den regierenden Nationalkonservativen kontrollierten Verfassungstribunal Polens per Richterspruch erklären, dass EU-Recht und EU-Regelungen immer zurückzutreten hätten, sobald sie polnischem Verfassungsrecht widersprächen. In einer ersten gewaltigen Protestwelle reagierten die Menschen in Polen auch deswegen sehr heftig, weil sie in dem überraschenden Schritt eine von den Nationalkonservativen beabsichtigte Weichenstellung in Richtung des künftigen Austritts Polens aus den Gemeinschaftsstrukturen befürchteten. Erst einige Zeit später wurde deutlicher, dass es den Regierenden in Warschau in dieser Situation eigentlich um etwas ganz anders ging. Seit Ende August 2021 wird die Grenze zu Belarus auf über 150 Kilometern Länge befestigt, zunächst mit einem provisorischen Stacheldrahtverhau, später soll eine wohl über fünf Meter hohe Mauer diesen ersetzen. Zusätzlich zur beginnenden Grenzbefestigung wurde außerdem die Einrichtung eines Sicherheitsstreifens entlang der Grenze von drei Kilometern Breite verfügt, in dem mittels eines Ausnahmezustands Grundrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit im starken Maße eingeschränkt werden. Sobald Menschen in diesem Streifen aufgegriffen werden, die unkontrolliert aus Belarus über die Grenze nach Polen gekommen sind, werden sie umgehend wieder hinter die Grenzlinie zurückgebracht, was geltenden und vereinbarten EU-Regelungen widerspricht, weil das individuelle Recht auf den Asylantrag ausgehebelt wird.

Die besonders herausgestellte Sorge um die nationale Identität und Souveränität, weil unter den Bedingungen der EU-Mitgliedschaft unter zusätzlichen Druck geratend, gehört seit 2015 zu den Grundzügen nationalkonservativer Regierungspolitik in Polen. Insofern wundert es nicht, dass die von Lukaschenko heraufbeschworene Situation wie Wasser auf die nationalkonservativen Mühlen wirkt. Die von Osten in die EU drängenden Menschen erscheinen wie eine Gefahr für die nationale Sicherheit, werden in erster Linie als Bedrohung des eigenen Hoheitsgebietes gesehen. Alle anderen Verpflichtungen, die sich aus der EU-Mitgliedschaft und weiteren internationalen Verträgen ergeben, werden nun zurückgestellt, es geht allein noch um die entschlossene Abwehr der Gefahr für die Landesgrenze, die plötzlich vor der Haustür steht. Einerseits hofft Kaczyński nu auf sich stabilisierende Umfragewerte, denn seit dem Sommer 2020 ist das Regierungslager zunehmend unter innenpolitischen Druck geraten. An der Grenze zu Belarus mit den nationalen Muskeln zu spielen, scheint wie eine willkommene Chance. Andererseits aber darf nun exerziert werden, was immer behauptet wurde: Dass nicht die EU-Mitgliedschaft zusätzliche Sicherheit für Polens Souveränität gewährt, sondern umgekehrt in erster Linie die nationalkonservative Regierungspolitik für den ausreichenden Schutz derselben angesichts der Herausforderungen der EU-Mitgliedschaft sorgen müsse. Nicht von ungefähr betonte Kaczyński jetzt in einem Presseinterview, dass Polens größtes Problem die inneren Feinde seien, also all jene, die leichtfertig und aus eigenem Interesse den außen drohenden Gefahren für Land und Leute in die Hand spielten.  

Die Anziehungskraft der EU ist ungebrochen, nach außen hin mag die Gemeinschaft mitunter sogar bereits wie ein beginnender Bundesstaat wirken, der sie nicht ist. Weit vorangekommen auf dem sich vertiefen sollenden Weg eines Staatenbundes ist die Europaunion seit den Tagen der Währungsunion und der sogenannten Osterweiterung wohl nicht. Wenn nun an der sogenannten EU-Außengrenze, die sich ja in jedem Fall aus den Landesgrenzen souveräner Mitgliedsländer zusammensetzt, Grenzbefestigungen und sogar neue Mauern aufgerichtet werden, zeugt es von einer krisenhaften Situation, in der nun in besonderer Weise diejenigen gefordert sind, die grundsätzlich für die Gemeinschaft sich einsetzen. Die Gegner der EU werden es sowieso auf ihre Weise zu nutzen wissen, die anderen aber dürfen den Kopf nicht mehr in den Sand stecken. Bei Nachfragen, die Hilfsorganisationen jetzt in Polen vorgenommen haben, kommt ein eindeutiges Bild zum Vorschein: Kaum einer derjenigen Menschen, die derzeit von Belarus aus in die EU gelangen wollen, gibt politische oder Gewaltgründe für den gewählten Weg an. Im Gegenteil: die meisten weisen jeden Bezug auf Politik zu Hause sogar strikt zurück. Es geht ihnen zumeist um eine neue Lebensperspektive für sich, die sie im zurückgelassenen Heimatland – aus verschiedenen Gründen – nicht mehr sehen können. Die EU allerdings setzt sich aus Ländern zusammen, die in der Einwanderungsfrage höchst unterschiedliche Positionen haben, was nur zu verständlich ist. Wird der gordische Knoten hier nicht durchschlagen, werden die Mauern an der Außenseite wohl künftig immer höher werden.


Der Beitrag ist am 23. November 2021 auch erschienen auf: www.sozialismus.de

Holger Politt: Wenn plötzlich Weltpolitik hinzukommt. Bemerkungen zur aktuellen Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus

Wo ist die Grenze für Menschlichkeit? Protest in Kraków im Oktober 2021 [Foto: Jakub Włodek / Agencja Wyborcza.pl]

8. November  2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Noch vor einigen Jahren gehörte es in der politischen Diskussion in Polen zum guten Ton, die Perspektive der viel beschworenen Osterweiterung der Europäischen Union offenzuhalten. Quer durch nahezu alle politischen Lager wurde gerne darauf verwiesen, dass eine Osterweiterung der EU erst abgeschlossen sein könne, wenn eines Tages auch die Ukraine und Belarus der Gemeinschaft angehörten. Untersetzt wurde und wird eine solche Position mit dem Verweis auf die Geschichte, dass es sich einst um einen zusammenhängenden politischen Raum gehandelt habe. Erst der Aufstieg Zarenrusslands zur europäischen Macht nach den polnischen Teilungen und später die Gründung der Sowjetunion hätten diesen historischen Raum getrennt und ihm ein anderes, strikter vom europäischen Westen getrenntes Gepräge gegeben. So weit, so gut – interessant daran ist aber auf jeden Fall, dass sich in dieser Frage führende Köpfe eben quer durch die politischen Lager, von nationalkonservativ bis links, einig wussten.

Jetzt ist es plötzlich anders, denn eine Mehrheit im Sejm (der unteren, wichtigeren Kammer im Parlament) hat sich für den Bau einer massiven Befestigung an der Grenze zu Belarus ausgesprochen. Auf etwa 150 Kilometern soll nun an der insgesamt über 400 Kilometer langen Grenze zum Nachbarland ein Mauerwerk errichtet werden, mit dem natürlich eine ganz andere Botschaft in die Welt gesetzt wird als mit jenen feinen Sonntagsreden von einem großen historischen Raum. Mehr sogar: Noch vor einem Jahr drängte die in ihrem Ausmaß unerwartete Protestwelle in Belarus gegen die Wahlfälschung der Lukaschenko-Regierung das Land deutlicher nach Westen, also hin zur benachbarten EU. Wer hätte damals vermuten können, dass nun wenige Zeit später über handfeste Abgrenzung, über unüberwindliches Mauerwerk zwischen Polen und Belarus gesprochen und entschieden wird!

Spielball der großen Politik

Die Furcht vor Menschen, die über Belarus ohne entsprechende Einreisedokumente in den Schengenraum der EU gelangen wollen – der polnische Grenzschutz spricht von bislang über 30.000 Versuchen dieserart seit August, die verhindert worden seien –, haben für diesen Sinneswandel in der herrschenden Politik gesorgt. Die Regierung in Minsk lässt – beispielsweise im Irak – großzügig Reisedokumente ausstellen, um die Menschen dann, wenn sie in Minsk eintreffen, postwendend an die westliche Grenze zu bringen. Anfangs wurde auf die leicht zu überwindende grüne Grenze zu den EU-Ländern Lettland, Litauen und Polen spekuliert. Bereits in den Sommerwochen setzten auf der EU-Seite indes schrittweise Gegenmaßnahmen mit Grenzbefestigungen ein, zunächst in Litauen und Lettland, später auch in Polen. Die aus Minsk an die Grenze gebrachten Menschen, die in die EU einreisen wollen, sollen jetzt an der Grenze abgehalten werden; zumindest soll Minsk ernsthaft bedeutet werden, dass man sich auf gar keinen Fall erpressen lassen werde. Insofern sind die Menschen, so sie an der Grenze festgesetzt werden und weder vor noch zurück können, plötzlich zum Spielball der großen Politik geworden.

Die polnische Regierung veranlasste die Absperrung mit Stacheldraht und verhängte im Grenzgebiet einen befristeten Ausnahmezustand, sodass seitdem die journalistische Berichterstattung aus dem Grenzgebiet immens erschwert, wenn nicht sogar vollständig verhindert wird. Ein weitgehendes Zutrittsverbot gilt auch für diejenigen, die in unmittelbarer, tatkräftiger Weise den an der Grenze festsitzenden Menschen zu helfen versuchen.

Die Regierung kann politisch für sich verbuchen, in dieser sensiblen Frage den Zusammenhalt der demokratischen Opposition aufgebrochen zu haben. Die gemäßigten Agrarier der PSL, die den konservativen Flügel im Oppositionsbogen bilden, haben sich bei den Abstimmungen im Parlament zur Grenzsituation auf die Seite der Regierung geschlagen, was für manche Beobachter doch ein wenig überraschend kam. Allerdings hat sich das nationalkonservative Regierungslager insgesamt andere Zustimmungswerte in der Bevölkerung versprochen, glaubte man doch, mit dem harten und entschlossenen Durchgreifen wieder zusätzliches Wasser auf die eigenen politischen Mühlen zu bekommen, überhaupt aus der Zwickmühle zwischen EU-Mitgliedschaft und nationaler Politik herauszukommen, in die man sich im Laufe der letzten Monate immer mehr hineinmanövriert hat. Losungen wie nationale Souveränität und nationale Identität, für die das Regierungslager seit 2015 gleichermaßen entschieden wie geschlossen steht, sollten in den Vordergrund geschoben werden, um andere Konfliktlinien in der Gesellschaft zu überdecken.

Es geht auch anders

Doch einer wichtigen Mehrheit in der Bevölkerung ist bewusst, dass die im Zusammenhang mit der jetzigen Grenzsituation entstehenden Fragen nicht ohne ein enges Zusammenwirken mit den anderen EU-Mitgliedern und überhaupt mit Brüssel zu lösen sein werden. Insofern wirft das überraschende Urteil des Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021 noch ein ganz anderes Licht auf die Sache. Wenn EU-Recht immer zurückzutreten habe, sobald es der Verfassungsordnung im Lande widerspreche, dann mutet das entschiedene Vorgehen der nationalkonservativen Regierung an der Grenze zu Belarus doch eher wie ein Spielen mit den Muskeln des Nationalstaats an, der seine Souveränität, die angeblich dort bedroht wird, nun mit allen Mitteln zu schützen sucht.

Bereits im Oktober kam es in den großen Städten zu Protestaktionen gegen das Vorgehen der Regierung an der Grenze, die vor allem von einem liberalen bis linksgerichteten Spektrum getragen wurden, allerdings ihrem Umfang nach noch eindeutig im Schatten der großen Massenproteste gegen die EU-Entscheidung des Verfassungstribunals und gegen das faktische Abtreibungsverbot stehen. Dennoch haben diese mutigen Aktionen einen tieferen Sinn, denn sie zeigen verlässlich an, wie sehr die polnische Gesellschaft auch in der nicht einfachen Frage von Migration und Einwanderung in den zurückliegenden Jahren gereift ist und dass sich die Gesellschaft nicht mehr so einfach übertölpeln lässt, wenn an höherer Stelle ungeniert von einer Gefahr gesprochen wird, weil flüchtende Menschen, die in die EU wollen, nichts als Krankheiten und Chaos mit sich brächten. Dieses widerständige Zeichen aus der polnischen Zivilgesellschaft lässt jedenfalls hoffen, dass es auch anders geht.

Holger Politt: Aufgewühltes Land. Zu den Protesten gegen die Haltung der polnischen Regierung in der Frage der EU-Mitgliedschaft

12. Oktober 2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Wieder ist Oktober, wieder zieht es die Menschen im ganzen Land auf die Straßen und Plätze, um gegen Regierungspolitik zu demonstrieren. Vor einem Jahr erschütterte der heftige und spontane Frauenprotest in den dunkler werdenden Herbsttagen das Regierungslager in seinen Fundamenten. Dass es nicht zum Sturz der von ihm geführten Regierung kam, verdankte Jarosław Kaczyński damals im entscheidenden Maße den einflussreichen Kreisen der katholischen Kirche, die ihn noch einmal abzusichern verstanden, hatte er ihnen doch ein unfassbares Geschenk bereitet. Als nämlich das von Kaczyński beeinflusste Verfassungstribunal überraschend befand, dass der in der geltenden Verfassung festgeschriebene unbedingte Schutz des menschlichen Lebens bedeute, jeglichen Schwangerschaftsabbruch im Geltungsbereich bis auf ganz wenige und genau definierte Ausnahmen zu verbieten, war die oft genug von Kirchenseite verteufelte Trutzburg der liberalen Verfassung von 1997 geschliffen. Jetzt stand schwarz auf weiß, dass immer die katholische Lehrmeinung gemeint sei, soweit vom Schutz menschlichen Lebens dort die Rede ist.

Dieses Jahr überraschte das Verfassungstribunal die Öffentlichkeit mit einer anderen Entscheidung, doch auch diesmal ging es wieder um eine grundsätzliche Frage, die das Leben von Millionen Menschen im Land in einer nahezu unmittelbaren Weise betrifft. Die obersten Verfassungshüter befanden nämlich, dass einige in der EU geltenden Rechtsvorschriften der polnischen Verfassung widersprächen, weswegen sie in Polen nicht angewendet werden dürften. Die Regierungsseite bewertete entsprechend das Urteil, es sei nämlich Ausdruck für den Schutz der nationalen Souveränität, die in Polen so etwas wie das ganz besonders zu schützende Gut sei. Zugleich wurde versichert, überhaupt nicht an einen Austritt aus der EU zu denken, einen solchen auch nicht vorzubereiten, allerdings müsse die EU sich eben in einigen wichtigen Fragen künftig ändern.

Auf der Seite der demokratischen Opposition, also bei denjenigen Parlamentsparteien, die sich klar zur Verteidigung der Verfassung gegen die regierungsseitigen Übergriffe bekennen, wurde eine andere Logik aufgemacht: Es sei ausgeschlossen, dass ein einzelnes Mitgliedsland die in der EU geltenden Spielregeln verändern könne. Ausgeschlossen sei nach gegenwärtiger innenpolitischer Lage auch eine Änderung der Verfassung Polens. Also bliebe im Sinne des Urteils im Verfassungstribunal jetzt nur noch die letzte Konsequenz, nämlich der Austritt Polens aus der EU. Um das nun zu verhindern, wurde der öffentliche Protest erklärt, der nun nötig sei, um die gegen die EU-Mitgliedschaft gerichteten Absichten des Regierungslagers zu durchkreuzen.

Wenn nach regelmäßigen Umfragen weit über 80 Prozent der Befragten eindeutig für die EU-Mitgliedschaft sind, dann wundert es nicht, wenn jetzt die Menschen wieder in Massen auf die Straße ziehen. Eine erste Protestwelle gab es am 10. Oktober, allein in der Hauptstadt Warschau kamen am Abend weit über 100.000 Menschen zusammen, um der Kaczyński-Regierung die rote Karte zu zeigen wegen ihrer abenteuerlichen EU-Politik. „Wir bleiben in der EU“ – so überall das unverkennbare Motto. Schnurstracks drehte Kaczyńskis Regierungsfernsehen den Spieß um, denn nun waren Donald Tusk, der prominent zu dem Protest aufgerufen hatte, und die vielen Menschen diejenigen, die Polens EU-Mitgliedschaft gefährdeten und überhaupt aufs Spiel setzten. Und als Anschlag auf Polens Souveränität wurden die Proteste dort obendrein bewertet.

Wie hoch nun die Wellen der Emotion schlagen, zeigt eine kleine Begebenheit beispielhaft. Eine der Zahl nach kleine Gruppe vom rechten Rand hatte am Sonntag versucht, mit starker elektronischer Beschallung, die von einer regierungsnahen Organisation geliehen war, die Kundgebung auf dem Warschauer Schlossplatz akustisch zu stören. Selbst sah man sich als die wachsame patriotische Speerspitze, die anderen hingegen als Deutschlands fünft Kolonne! Nicht umsonst hatten sich die Randalierer, so dachten sie es sich, mit Symbolen des Warschauer Aufstands von 1944 geschmückt. In ihrem akustischen Feldzug nun gegen die abertausenden EU-Befürworter auf dem Platz machten sie selbst vor der polnischen Nationalhymne nicht mehr halt, versuchten diese zu übertönen mit grässlich lauter Underground-Musik. Erst der Auftritt einer kleinen, hochbetagten Frau mitten auf dem großen Platz bereitete dem Spuk ein Ende. Wanda Traczyk-Stawska trat ans Mikrofon, stellte sich als Aufständische von 1944 vor und erklärte, dass sie und ihre Kameradinnen und Kameraden einst mit dem eigenen Blut für Polens und Europas Freiheit gekämpft hätten: „Das ist unser Europa, niemand wird uns von dort vertreiben!“ Und tosender Beifall brandete auf, als die mutige Frau dem Anführer der Ruhestörer zurief: „Schweig, Junge, schweig!“

Holger Politt: Und Mauern brechen immer wieder - zu einem überraschenden Bild

Gregor Gysi und Lech Wałęsa trafen anlässlich einer Preisverleihung am 28.8.2021 in Kalkar zusammen. [Foto mit freundlicher Erlaubnis von Lech Wałęsa]

3. September 2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Beider Zusammentreffen jetzt war zufällig, der Anlass ohnehin nebensächlicher. Mit einem in der Öffentlichkeit wenig bekannten Medienpreis wurden Gregor Gysi und Lech Wałęsa jeweils für das politische Lebenswerk ausgezeichnet; so bot sich nun die willkommene Gelegenheit, der gegenseitigen Wertschätzung einen sichtbaren Ausdruck zu geben. Das gemeinsame Foto spricht den Beobachter noch einmal gesondert an, denn zu sehen sind zwei Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die jeweils unverwechselbar stehen für jene historischen Wege, die in dem gewaltigen Vorgang zusammenlaufen, der bis heute weithin mit der Bezeichnung «Wende» gemeint wird.

In den späten 80er Jahren hatte plötzlich das Wort vom «Ende der Geschichte» die Runde gemacht, das von Francis Fukuyama provozierend wie erfolgreich ins Gespräch gebracht worden war. Dessen Ansatz münzte mehr oder weniger gekonnt den schnellen Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Staatssozialismus in Europa und den sich abzeichnenden, für nahezu unaufhaltbar gehaltenen Siegeszug liberaler Demokratie als ein Angekommensein von Geschichte um, die zumindest in diesem Weltenteil ihr immanentes Ziel erreicht zu haben schien. Die heftigen Bewegungen und Erschütterungen gesellschaftlicher Bewegung, die das 19. und das 20. Jahrhundert bis dahin immer wieder geprägt hatten, sollten allmählich verebben, die weit und unregelmäßig ausschlagende Amplitude gesichert pulsieren, der geschichtliche Flusslauf überhaupt verlässlich und kontrollierbar werden. Das Tor ins ungetrübte liberal-demokratische Glück schien allseits aufgestoßen.

Gregor Gysis politische Wege sind hier zu bekannt, brauchen nicht gesondert aufgezeigt werden. In jenen stürmischen Wendetagen in Berlin wurde er an die Spitze einer politischen Bewegung gespült, auf die im nun beginnenden großen Freiheitskonzert die wenigsten noch setzten. Es galt die geschlagenen, die verbliebenen Sozialisten aus der untergehenden DDR politisch in die neu sich durchsetzenden Verhältnisse bürgerlicher Demokratie zu führen. Dass Gysi heute, drei Jahrzehnte später, der wohl prominenteste Oppositionspolitiker Deutschlands ist, hätte niemand ihm damals weissagen können. Er schien den meisten nur noch einer Richtung vorzustehen, die dabei war, sich wenigstens einigermaßen glimpflich aus der Geschichte davonzustehlen.

Lech Wałęsa nun kam von ganz anderer Seite in die Geschichte gestürmt. An der Spitze der «Solidarność»-Bewegung hatte Europas letzter Arbeiterführer kräftig mitgetan, um das mittlerweile hinfällig gewordene politische System, wie es die Sowjetunion nach 1945 in ihrem Einflussbereich durchsetzen konnte, entschlossen wieder herauszuschieben. Ihm eröffnete sich eine glänzende politische Zukunft, niemanden wunderte es folglich, als er im Spät­herbst 1990 ungefährdet Polens erster direkt gewählter Staatspräsident wurde. Das Amt verstand er übrigens auch als eine Speerspitze, um die unliebsamen linksgerichteten Kräfte, die ihm untrennbar mit dem alten System verbunden schienen, in Schach zu halten. Umso größer war das böse Erwachen allerdings fünf Jahre später, als ausgerechnet Aleksander Kwaśniewski – dessen Rolle im Übergang der Systeme damals doch ein wenig an diejenige Gregor Gysis im Osten Deutschlands erinnerte – den haushohen Favoriten und Amtsinhaber mit der einfachen Losung «Wir wählen die Zukunft» schlagen konnte.

Heute stehen die beiden Ex-Präsidenten Wałęsa und Kwaśniewski im selben politischen Feld, beide sind entschiedene Gegner des politischen Systems, das Jarosław Kaczyński im Sinne einer «nichtliberalen Demokratie» seit 2015 durchzusetzen sucht. Der Schriftzug KONSTYTUCJA (Verfassung), den Wałęsa seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit immer gut sichtbar trägt, ist eines der bekanntesten Symbole für den Protest auf Seiten der demokratischen Opposition. Es entstand in den aufwühlenden Julitagen 2017, als zigtausende Menschen überall im Land auf die Straßen gegangen waren, um die Verfassung von 1997 – also diejenige aus der Kwaśniewski-Zeit – zu verteidigen. Und so sehen sich nun politische Kräfte, die einst von ganz unterschiedlicher Seite in die sich neu herausbildende bürgerliche Demokratie hineingeschleudert wurden, gezwungen, sich öffentlich einzusetzen, um zu warnen vor der lauernden Gefahr, dass – mit welch vorgeschobener Begründung oder Argumentation auch immer – Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt oder systematisch ausgehebelt werden.

Als die «Solidarność»-Bewegung 1980/81 im Kern diese drei Grundfreiheiten eingefordert hatte, erwies sich das herrschende politische System als zu schwerfällig, um darauf noch – sich umgestaltend – reagieren zu können. Die gutgemeinten Reformversuche waren vergeblich, der Untergang kam entsprechend rasch. Und die demokratischen Sozialisten nach 1989/90 machten wenigstens den ungestörten Blick wieder frei auf den tiefen und an sich untrennbaren Zusammenhang zwischen sozialer Befreiung und politischer Freiheit, wie er an der Wiege der modernen Arbeiterbewegung begründet worden war.

Holger Politt: "Die Welt zu alarmieren". Bericht aus Warschau zur Einweihung eines Gedenkortes für das Untergrundarchiv des Ghettos

21. April 2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Warschau ist nun um einen wichtigen Gedenkort reicher. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 78. Jahrestag des Aufstandsbeginns im Ghetto wurde am 19. April dieses Jahres einer an sich unscheinbaren Stelle gedacht, die für die Geschichtsschreibung eines der schlimmsten Massenverbrechen der deutschen Okkupanten im besetzten Polen allerdings eine besondere Bewandtnis hat. Jetzt markiert eine den Besucher anziehende und neugierig machende Installation jene Stelle, an der die gesammelten Aufzeichnungen aus dem Ghetto gleich einer Flaschenpost versenkt wurden, bevor das jüdische Warschau in seinem letzten heroischen Kampf unterging.

Zu der von Emanuel Ringelblum im Untergrund geleiteten Archivgruppe des Ghettos, die zur Tarnung „Oneg Schabbat“ genannt wurde, gehörten auch Izrael Lichtensztajn, vor dem Krieg Direktor in einer jüdischen Schule, sowie Dawid Graber und Nachum Grzywacz, zwei der einstigen Schüler, die damals – im Sommer 1942 – erst ganze 19 bzw. 17 Lenze zählten. Die drei hatten die Aufgabe übernommen, die bisherige Sammlung sicher vor dem feindlichen Zugriff zu verstecken, denn die Lage im Ghetto war mit den am 23. Juli 1942 beginnenden Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka gleichermaßen unübersichtlich wie gefährlich geworden – auch für die Archivgruppe.

Als geeigneter Ort für das Versteck wurde das Schulgebäude in der Nowolipki-Straße ausgemacht, das die drei bestens kannten, hier wurde der wertvolle Schatz schließlich in den Kellerräumen vergraben. Metallkästen und Milchkannen dienten zur Aufbewahrung, schützten vor Witterung, Nässe und Gewürm. Dawid Graber verfasste am 3. August 1942 eine letzte schriftliche Notiz, die er dem Archivmaterial beilegte: „Eine der benachbarten Straßen ist blockiert. Die Stimmung ist schrecklich. Wir rechnen mit dem Schlimmsten. Wir beeilen uns. Wir werden wohl gleich den letzten Teil vergraben. Genosse Lichtensztajn ist nervös, Grzywacz fürchtet sich etwas. Ich bin teilnahmslos. Im Unterbewusstsein fühle ich, dass ich mich von all dem Unglück befreie. Auf Wiedersehen. Hoffentlich schaffen wir es, alles zu vergraben […]. Bis zuletzt sind wir mit der Arbeit beschäftigt.“ An andere Stelle hatte er zusammengefasst: „Das, was wir nicht in die Welt schreien konnten, vergraben wir nun in die Erde.“

Nachum Grzywacz notierte am 3. August 1942: „Ich sitze und warte. Wir haben den Kontakt zu all unseren Kameraden verloren. Jeder versucht es nun selbst, denn im jüdischen Ghetto herrscht das Chaos. Der Baum ist gefällt, die Jahre wirklicher Arbeit sind abgeschnitten. Ich, Gen. Lichtensztajn und Graber haben uns vorgenommen, aufzuschreiben, was jetzt geschieht. Gestern saßen wir bis spät in die Nacht, wir wussten nicht, ob wir den 3. August 1942 noch erleben werden. 10 Minuten nach halb zwei Uhr höre ich auf, zu schreiben. Wir wollen am Leben bleiben, nicht persönlicher Gründe wegen, sondern um die Welt zu alarmieren.“

Izrael Lichtensztajn aber notierte am 31. Juli 1942: „Mit Lust und Elan werfe ich mich in die Arbeit, um die Archivmaterialien zu sammeln. Ich wurde zum Wächter der Sammlungen berufen. […] Das Material ist gut aufbewahrt. Möge es erhalten bleiben, denn dann wird es zum Schönsten und Besten dessen, was wir in den jetzigen, grausamen Zeiten geschaffen haben.“

Dawid Graber und Nachum Grzywacz überstanden die bis zum Sommerende 1942 wütende Deportationswelle nicht. Izrael Lichtensztajn überlebte zusammen mit der Malerin Gela Seksztajn, seiner Ehefrau, und Tochter Margit in einem Versteck im Schulgebäude die neun Schreckenswochen, die 300.000 Menschen das Leben gekostet haben. Ende Februar 1943 vergrub er einen weiteren Teil des Ghetto-Archivs. Er und seine Familie kamen im Frühjahr 1943 während des Aufstands im Ghetto ums Leben. Zeichnungen und Bilder von Gela Seksztajn sind im Ringelblum-Archiv gerettet worden.

Im September 1946 wurden die ersten Behälter aus dem Trümmerfeld ans Tageslicht zurückgeholt. Bei Bauarbeiten stieß man im Dezember 1950 auf weitere Milchkannen. Dem Umfang nach konnten etwa zwei Drittel des Archiv-Bestandes gerettet werden, der Rest gilt als verschollen. Das Ringelblum-Archiv, das mehrere Zehntausend Dokumente umfasst, wird seither im Jüdischen Historischen Institut aufbewahrt. 1999 wurde das Archiv in die UNESCO-Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Seit 1997 gibt das Jüdische Historische Institut den Archivbestand in einer umfassenden wissenschaftlichen Ausgabe in gedruckter und jetzt auch digitaler Form heraus. Im Vorwort zum ersten Band bemerkte Feliks Tych, der damalige Institutsdirektor, über die weitergehende Absicht der Archivgruppe: „Auf Grundlage der gesammelten Dokumentationen sollte eine große Synthese zur Geschichte der polnischen Juden während der Zeit des Zweiten Weltkriegs entstehen.“


Emanuel Ringelblum, den Tagebuchschreiber des Warschauer Ghettos, stellte Holger Politt im Rahmen einer kleinen Textreihe zum 75. Jahrestag der Befreiung bereits an dieser Stelle vor.
Zum Text ...

Holger Politt: Schwarzer Tag für die Frauenrechte in Polen

«Die Freiheit kann ich nicht aufgeben!», Plakat beim Frauenstreik in Kraków am 27.1.2021 (Foto: Adrianna Bochenek / Agencja Gazeta)

29. Januar 2021

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Der schwere Schlag gegen die Frauenrechte wurde mitten im Winter und im Schatten der anhaltenden Corona-Pandemie vollführt. Jarosław Kaczyńki, der das Land seit dem Herbst 2015 mit Unterstützung einflussreicher Kreise der katholischen Kirche faktisch führt, hat nun doch seinen Willen durchgesetzt, so als hätte er in den letzten Oktobertagen des vergangenen Jahres nicht einer möglichen Niederlage in die Augen geblickt. Noch einmal will er allen, aber insbesondere seinem eigenen Lager beweisen, wer der Herr im Hause ist. Sein Wanken im Herbst, als er sich nicht mehr zu schade war, in unbeherrschter Weise als der letzte Retter für Polens Kirche und damit für Polen auf die Bühne zu treten, soll vergessen werden.

Am 22. Oktober 2020 hatte das vom nationalkonservativen Regierungslager kontrollierte Verfassungstribunal einen Kompromiss aus dem Jahr 1993 für verfassungswidrig erklärt, mit dem immerhin Schwangerschaftsabbrüche in Polen unter bestimmten Bedingungen erlaubt waren. Die in der Folge ausbrechenden heftigen Massenproteste vor allem junger Frauen verhinderten aber, dass das Urteil im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht und damit rechtskräftig wurde. Die gesetzlich vorgeschriebene Frist verstrich, ohne dass im Regierungslager noch Anstalten gemacht wurden, in der Öffentlichkeit etwas zu erklären. Gleich dem Damoklesschwert hing das ergangene Urteil allerdings über den Köpfen der Frauen.

Jetzt in den dunklen Wintertagen und in einer Pandemie-Situation, in der große Teile des öffentlichen Lebens noch immer stark eingeschränkt und heruntergefahren sind, rechnete kaum noch jemand mit dem perfiden Anschlag, alles wartete bereits auf das bevorstehende Frühjahr. Diese Chance nutzte Kaczyński, um die Öffentlichkeit ein weiteres Mal zu überrumpeln. Ein zynischer Schritt, darin sind sich die meisten kritischen Beobachter einig, weil jede Öffnung des gesellschaftlichen Lebens, die mit dem zurückkehrenden Licht und kommender Wärme nicht aufzuhalten sein wird, eher den Kaczyński-Gegnern in die Hände spielen und das Regierungslager unter größeren öffentlichen Druck bringen wird. Die aus Regierungssicht beste aller schlechten Möglichkeiten galt es zu nutzen, so fiel der Vorhang noch im Januar, das Urteil wurde von Amts wegen veröffentlicht.  

In den Novembertagen hatte die Regierungsseite die Proteste überraschend schnell ersticken können, denn massiver Polizeieinsatz und strenge Pandemieauflagen spielten geschickt zusammen. Auch jetzt hofft das Kaczyński-Lager, dass diese repressiven Mittel reichen werden, um den Protest gleich von Anfang an im Keim zu ersticken, bevor – Pandemie hin oder her – ein größerer öffentlicher Raum von den protestierenden Menschen gewonnen werden kann. Im Grunde wird Polens Gesellschaft künftig aber nicht umhinkommen, den irischen Weg einzuschlagen, also über solch grundsätzliche Fragen wie die der gleichgeschlechtlichen Ehe und vor allem die des legalen Schwangerschaftsabbruchs in einem Referendum abzustimmen, so wie 2015 und 2019 in Irland. Doch werfen kenntnisreiche Beobachter bei diesem Vergleich gerne ein, dass die Situation in beiden Ländern nicht zu vergleichen sei, weil die moralische Verwurzelung der katholischen Kirche im heutigen Polen doch noch tiefer greife als in Irland. Anders gesagt, würde erst ein anderer Wahlausgang bei künftigen Parlamentswahlen auch in der Frage solcher Referenden eine tiefere Bresche schlagen.

Insofern überrascht es nicht, dass Polens katholische Kirche seit geraumer Zeit scharfe Kampagnen gegen die sogenannte LGBT-Ideologie und die sogenannte Gender-Ideologie führt, die als gefährliche Spielarten des Marxismus bzw. Neomarxismus herausgestellt werden, die das Fundament des polnischen Volks angriffen. Jüngst wurde zum Beispiel von hoher Kirchenkanzel Friedrich Engels an den Pranger gestellt, dessen Philosophie schlimmste Menschheitsbedrohung sei, sehr viel gefährlicher als das grassierende Corona-Virus. Gemeint ist insbesondere die Schrift «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats» von 1884, in der die ganze Menschheit auf das Niveau degenerierter Einzelwesen heruntergebrochen werde, die das gottgegebene Geschenk des Lebens nicht mehr weitergeben könnten oder es aus egoistischem Interesse vernichteten.

Hier sei am Schluss auf Kamila Ferenc verwiesen, eine Rechtsanwältin der renommierten Föderation für Frauenangelegenheiten und Familienplanung, die auf die in der jetzt veröffentlichten Begründung des Urteils vom 22. Oktober 2020 erfolgte Personifizierung der befruchteten Eizelle hinweist, was auf die Gleichsetzung mit dem geborenen Menschen hinauslaufe und zu weitreichenden Konsequenzen im Leben der modernen Gesellschaft führen müsse. Eine leise Ahnung davon treibt wohl auch einige Nationalkonservative um, die nun eiligst versuchen, wenigstens ein kleines gesetzliches Schlupfloch für Schwangerschaftsabbruch offenzulassen, um dem fundamentalistischen Treiben wenigstens die tollsten Blüten zu brechen.

Holger Politt: Vor dem Kniefall in Warschau. Versuch einer kurzen Chronik

7. Dezember 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Dem Andenken Friedrich Wolfs, dem ersten Botschafter, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem besiegten Deutschland nach Warschau kam.


Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle spricht während eines mehrtägigen Staatsbesuchs im September 1967 im Sejm, dem polnischen Parlament. Er hebt ausdrücklich den hohen Wert der klar abgesteckten Grenzen Polens hervor, für die sein Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer verlässlich eingetreten sei. Damit bezeichnet Frankreichs höchster Vertreter auch die polnische Westgrenze an Oder und Neiße als unverrückbar, deren Anerkennung sich Bonn bis zu diesem Zeitpunkt strikt verweigert, einem Schritt also, den die DDR mit dem Vertrag von Zgorzelec bereits 1950 getan hat – im Namen des deutschen Volkes.

Im März 1969 besucht Władysław Gomułka, Erster Sekretär des Zentralkomitees der PVAP, Moskau. Nach der Rückkehr nach Warschau schildert er auf einem Plenum der Partei die Situation in der deutschen Frage: Die Sowjetunion werde künftig stärker auf eine Normalisierung der Beziehungen in Europa drängen, wodurch die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen weiteren sozialistischen Ländern und der Bundesrepublik Deutschland näher rücke. Polen müsse darauf vorbereitet sein, dürfe sich nicht isolieren, sobald die Karte der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze herausfordernder gespielt werde. Insofern sollte Polen durchaus prüfen und gegebenenfalls darauf eingehen, wenn Bonn die Oder-Neiße-Grenze bis zum Moment einer eventuellen Vereinigung beider deutscher Staaten anzuerkennen bereit wäre.

Im Mai 1969 konzentriert sich Gomułka bei einem öffentlichen Auftritt in Warschau auf die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn. Polen werde kein Abkommen mit der Bundesrepublik schließen, wenn in der Frage der Oder-Neiße-Grenze abgewichen werde von den Regelungen, die 1950 die DDR im Vertrag von Zgorzelec unterzeichnet habe. Ausdrücklich hebt Gomułka aber die Änderungen in der Ostpolitik Bonns hervor, wie sie in der letzten Zeit insbesondere im Auftreten von Bundesaußenminister Willy Brandt festzustellen seien. Außerdem betont er, dass aus Warschauer Sicht keine Hindernisse erkennbar seien, die Bonn von einer Anerkennung der Grenze abhalten könnten. Brandt selbst reagiert überaus positiv auf Gomułkas Auftreten, erneuert das Angebot Bonns, mit Warschau einen Verzicht auf Gewaltanwendung auszuhandeln. In Warschau wird aufmerksam registriert, dass Brandt der Aussöhnung mit Polen eine ähnliche herausgehobene Dimension zuschreibt wie der mit Frankreich.

Allgemeiner Tenor in Warschau im Oktober 1969: Brandts Wahlsieg schaffe eine neue Situation in Europa, auch für die polnisch-deutschen Beziehungen. In einem Fernsehinterview, das Hansjacob Stehle, ARD-Korrespondent in Wien, mit dem polnischen Außenminister Stefan Jędrychowski führt, betont Polens hochrangiger Regierungsvertreter, dass die beiderseitigen Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland für die europäische Sicherheit eine herausragende Bedeutung hätten, weshalb Warschau das Angebot vom Mai 1969 erneuere, in Verhandlungen mit Bonn über die Anerkennung der polnischen Westgrenze einzutreten. Polens Außenminister verweist als gutes Beispiel auf die Grenzverträge mit den Niederlanden und Belgien, die die Bundesrepublik Deutschland auch ohne einen Friedensvertrag abgeschlossen habe.

Mieczysław F. Rakowski, Chefredakteur der in Warschau erscheinenden Wochenzeitung „Polityka“, reist im Dezember 1969 nach Bonn und in weitere Städte der Bundesrepublik, um nach Rücksprache mit Gomułka Gespräche mit führenden Politikern aus Regierung und Opposition zu führen. Egon Bahr, Staatssekretär im Kanzleramt, gebraucht ihm gegenüber bezüglich der Anerkennung der polnischen Westgrenze durch Bonn die Formulierung „wir wollen die Frage aus der Welt schaffen“, also lösen. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf Bundeskanzler Brandt. In Moskau kommt es im gleichen Monat zu einem von der DDR initiierten Spitzentreffen der Warschauer Vertragsstaaten, auf dem Walter Ulbricht den Standpunkt der DDR noch einmal bekräftigt: Die beste Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und damit der polnischen Westgrenze sei die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Bonn. Gomułka hingegen verteidigt entschieden das Bestreben Warschaus hin zu einem bilateralen Vertrag mit Bonn.

Im Januar 1970 erhält Polens Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz einen Brief von Bundeskanzler Brandt, den der Industrielle Berthold Beitz in Warschau übergibt. Brandt zeigt sich offen für bilaterale Verhandlungen, die nun bald beginnen könnten. Der Bundeskanzler versichert, dass er von den unbeschreiblichen Verbrechen wisse, welche das Deutsche Reich Polen und seinem Volk zugefügt habe, zeigt sich andererseits fest überzeugt, dass eine Aussöhnung zwischen den beiden Völkern historische Bedeutung haben werde. In seiner Antwort bekräftigt Cyrankiewicz die Bereitschaft Warschaus zu Verhandlungen, würdigt ausdrücklich die Rolle der DDR bei der Anerkennung der polnischen Westgrenze und verweist auf die Tatsache, dass nur noch ein einziges Land in Europa Gebietsansprüche gegenüber einem anderen Land erhebe, nämlich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen.

Zwischen Bundeskanzler Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph kommt es im März und im Mai 1970 in Erfurt und Kassel zu bilateralen Treffen, auf denen neben Fragen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten auch Fragen der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle spielen. In Kassel fragt Stoph Brandt, ob der bereit sei, alle in Europa bestehenden Grenzen ohne Vorbehalte anzuerkennen.

Leonid Breshnew, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, informiert im April 1970 die polnische Seite über den Stand der Verhandlungen zwischen Moskau und Bonn, auch darüber, dass die Gespräche kurz vor dem Abschluss stünden und in dem zu unterzeichnenden Abkommen Bonn die bestehenden Grenzen in Europa anerkenne, darunter auch die Oder-Neiße-Grenze. In Polen werden die Parteistrukturen der PVAP ausführlich über den Stand der eigenen Verhandlungen mit Bonn informiert, wobei Gomułka in Führungskreisen darauf verweist, im Mai 1969 die richtige Initiative getroffen zu haben.

Im August 1970 unterzeichnen der sowjetische Ministerpräsident Alexei Kossygin und Bundeskanzler Willy Brandt in Moskau ein Abkommen, in dem u. a. erklärt wird, dass der Frieden in Europa nur erhalten werden könne, wenn die bestehenden Grenzen nicht verletzt würden. In Polen wird verhalten auf den Vertrag reagiert, auch wenn er offiziell entsprechend begrüßt wird. Bei einem Spitzentreffen der Warschauer Vertragsstaaten in Moskau kurze Zeit nach Vertragsunterzeichnung erklärt Gomułka, dass zwar einige Fragen noch offenblieben, dass er aber mit Breshnew völlig übereinstimme, wenn die besondere Rolle von Bundeskanzler Brandt in dem jetzigen Verständigungsprozess herausgehoben werde.

Im September 1970 kommt der westdeutsche Kommunist Max Reimann als Vertreter Walter Ulbrichts nach Warschau, um mit Gomułka über strittige Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn zu sprechen. Reimann verweist darauf, dass die polnische Westgrenze seit zwei Jahrzehnten gesichert sei durch den Vertrag von Zgorzelec sowie im entscheidenden Maße durch die Anwesenheit hunderttausender Sowjetsoldaten auf dem Territorium der DDR. Gomułkas legendäre Antwort: Die Sowjettruppen werden nicht bis in alle Ewigkeit dort stationiert bleiben können.

Am 7. Dezember 1970 unterzeichnen Brandt und Cyrankiewicz in Warschau den Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, der die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn bedeutet. Cyrankiewicz hatte übrigens bereits 1950 den Vertrag von Zgorzelec mit der DDR unterzeichnet. Gomułka spricht anschließend von einem Vertrag, wie ihn die tausendjährige Geschichte Polens bislang nicht gekannt habe, denn der deutsche Drang nach Osten sei nun endgültig gestoppt. In die Geschichtsbücher der Welt geht künftig Brandts Kniefall am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos ein, das im April 1948 aus Anlass des 5. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto eingeweiht worden war und den bei der Vernichtung des jüdischen Warschaus ermordeten Menschen gewidmet ist.


Kurzer Nachtrag

Władysław Gomułka war wenige Zeit nach der außenpolitischen Sternstunde bereits ein gestürzter Mann. Hunderttausende Werft- und Hafenarbeiter hatten noch im Dezember 1970 in den großen Küstenstädten Polens in heftiger Weise gegen die innenpolitische Situation protestiert, die Staatsmacht reagierte mit Militär und Panzern, ließ die Proteste niederschießen, um Ruhe und Ordnung herzustellen. Gomułka ging nach seinem Sturz noch lange von einer von oben gesteuerten Provokation aus, um ihn ins politische Abseits drängen zu können.
Zwanzig Jahre später wurde der große Wert des Vertrages von 1970, der dem Vertrag von 1950 folgte, noch einmal eindrucksvoll unterstrichen. Vor dem sich abzeichnenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland versuchte Bundeskanzler Helmut Kohl, die Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die erweiterte Bundesrepublik wieder an einen kommenden Friedensvertrag zu binden. Er scheiterte schnell und gründlich, musste akzeptieren, was die DDR-Regierung bereits 1950 tat – die Oder-Neiße-Grenze als unverrückbare deutsch-polnische Grenze.
Willy Brandts Kniefall im Gedenken an das durch deutsches Verbrechen untergegangene jüdische Warschau verwies unweigerlich zurück auf den September 1939, auf den Überfall auf Polen, auf das Niederreißen der bestehenden Grenze, auf den Krieg

Holger Politt: Den Bogen überspannt. Ein zweites Irland soll in Polen mit aller Macht verhindert werden

27. Oktober 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Zweimal hat Jarosław Kaczyński sich in die Chronik dieses Jahres als Ritter ohne Furcht eingezeichnet, der unerschrocken einzugreifen wagt, wenn alle anderen ringsum vor dem gefährlichen Corona-Virus zu kuschen scheinen. Beide Male nämlich zückte er als scharfe Waffe die politische Karte – einmal, um im zeitigen Frühjahr die anstehenden Präsidentschaftswahlen zu retten, zum anderen nun in den dunkelwerdenden Herbsttagen, um eine Frage zu erledigen, an der er bislang sich immer die Zähne ausgebissen hatte. Das seinem politischen Willen folgende Verfassungstribunal, über dessen rechtmäßige Zusammensetzung in Polen heftig gestritten wird, hat nun in den letzten Oktobertagen mit einem Federstrich fast alle bislang noch legal möglichen Fälle von Schwangerschaftsabbruch für nicht verfassungsgemäß erklärt. Frauenrechtlerinnen sprechen von einem nahezu völligen Abtreibungsverbot, das dem Land nun drohe.

Zuletzt gab es innerhalb eines Jahres etwa 1.000 solcher legalisierten Eingriffe in Polen, doch liegt die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen polnischer Frauen um ein vielfaches höher, wird in Schätzungen bei Frauenorganisationen mit bis zu einhunderttausend Fällen oder noch höherer Zahl im Jahr angegeben. Die Pläne einflussreicher Kreise der katholischen Kirche und der von Kaczyński angeführten, seit Herbst 2015 alleinregierenden Nationalkonservativen richteten sich frühzeitig auf ein striktes Verbot der aus ihrer Sicht illegalen Schwangerschaftsabbrüche, die zum Großteil im benachbarten Ausland vorgenommen werden, indem die betreffenden Frauen mit entsprechender Strafandrohung konfrontiert werden. Ein gewaltiger und das ganze Land ergreifender Frauenprotest verhinderte im Oktober 2016 dieses schwarze Szenario.

Doch nie ließen Kaczyńskis engste Vertraute einen Zweifel daran, dass sie dem Willen rückwärtsgewandter Kirchenkreise entsprechen werden. Sie suchten die Gelegenheit und wurden fündig, denn die wieder stark anschwellende Viruswelle schien ihnen den günstigen Moment zu bieten. Ein zynisches Kalkül, so Andrzej Matyja, der Vorsitzende der Ärztekammer Polens, die jungen Menschen kurz vor dem Inkrafttreten drastischer Einschränkungen des öffentlichen Lebens bewusst zu provozieren und sie schließlich vor die Wahl zu stellen – die Wut und den Ärger herunterspülen oder sich wegen der enorm zugenommenen Ansteckungsgefahr beim öffentlichen Protest dem Risiko für die eigene Gesundheit aussetzen. Die erzürnten Menschen wählten den öffentlichen Protest, wissend um die als Gefahr wahrgenommenen Gegner – den unsichtbaren und den sichtbaren. Polens führendes liberales Blatt, die „Gazeta Wyborcza“, machte einen Tag nach der Entscheidung im Verfassungstribunal mit dem unmissverständlichen Titel auf: „Krieg gegen die Frauen“.

Der Angriff auf die Frauenrechte hatte sich bereits seit einiger Zeit angekündigt. Im Zusammenhang mit den haltlosen Übergriffen des Regierungslagers gegen lesbische, schwule und transsexuelle Menschen, indem ihnen unterstellt wird, eine „Ideologisierung des öffentlichen Raums“ gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung zu betreiben, wenn sie sich öffentlich für ihre Minderheitenrechte einsetzten, wurde schnell klar, welche weitergehende Ziele damit verfolgt werden. Die Öffentlichkeit sollte daran gewöhnt werden, dass hinter der sogenannten LGBT-Ideologie und der sogenannten Gender-Ideologie nichts stecke als ein böser, gefährlicher Feind Polens – der Marxismus. Weil der nun im neuen Gewande sich einschleiche, wird er von den Nationalkonservativen als Neomarxismus apostrophiert, dessen gefährlichsten Spielarten jetzt die oben aufgezählten Ideologien seien. Die Sachwalter dieser Spielarten hätten sich nun Polen zum Hauptziel erkoren, um auch hier endlich durchzusetzen, was im „Westen“ an Zerstörungswerk bereits weithin zu besichtigen sei. Zuletzt, so Kaczyński deutlich, sei Irland gefallen: „Irland ist ein gutes Beispiel. Noch vor kurzem war das ein solch katholisches Land, dass selbst Polen im Vergleich dazu wie ein Land wirkte, in dem die Gottlosigkeit fröhliche Urstände feierte, doch heute ist es eine katholische Wüste mit tobender LGBT-Ideologie. Es gilt also einen Damm zu errichten, mit allen erdenklichen Mitteln, damit er standhält.“ Dorn im Auge des Parteiführers sind das Verfassungsreferendum vom Mai 2015 über die gleichgeschlechtliche Ehe sowie das klare Votum für eine Lockerung des Rechtes auf Schwangerschaftsabbruch bei einer Volksabstimmung im März 2019. Der feste Bund zwischen Polens Nationalkonservativen und der katholischen Kirche hat in dieser irischen Entwicklung seinen oft übersehenden wichtigen Grund, denn die Zahl derjenigen, die im heutigen Polen sowohl hier als auch dort die letzte wehrhafte Burg des aufrechten Christentums in der Europäischen Union sehen wollen, ist nicht gering und schon gar nicht einflusslos.  

Und so passt auch Kaczyńskis jüngste Drohgebärde in Richtung Brüssels in die Reihe: „Und heute verlangen die Institutionen der Europäische Union, irgendwelche Beamte, Politiker, die nie ein Pole jemals gewählt hat, von uns, dass wir unsere ganze Kultur überprüfen, alles zurückweisen, was für uns besonders wichtig ist, einfach deshalb, weil es ihnen so gefällt. Es gibt keine andere Begründung. Es gibt keine Spur einer vertraglichen Begründung, es wiederspricht unserer Erklärung von kultureller Souveränität, die vor dem Beitritt zur EU vom Sejm angenommen wurde. Für ein solches Vorgehen gibt es keine Zustimmung. Wir werden unsere Identität, unsere Freiheit, Souveränität verteidigen, koste es was es wolle. Wir lassen uns nicht mit Geld erpressen. […] Und so werden wir gegenüber jedem vorgehen, der uns zu etwas zwingen will. Ich wiederhole mich noch einmal, denn ich hatte es bereits gesagt, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Denn diejenigen, die uns die Souveränität wegnehmen, uns etwas nach Gutdünken aufdrücken wollen, sind dabei, zu scheitern.“

Der heftige Widerstand, der nun den Nationalkonservativen sowie der katholischen Kirche entgegenschlägt, ist Ausdruck einer Situation, die längst ein anderes Polen zeichnet als jenes, das Kaczyński vorschwebt. Noch zu den EU-Wahlen im Mai des letzten Jahres ließ er die Botschaft plakatieren, dass das von ihm geführte Polen das „Herz Europas“ sei. Zwar holte er zu Hause mit diesem Bluff tatsächlich die meisten Stimmen, doch die Enttäuschung über die Lage im Brüsseler Parlament nach den Wahlen machte im Warschauer Regierungslager schnell die Runde. Seitdem wird mit allen Mitteln mobil gemacht gegen die „Regenbogenpest“, gegen die „LGBT-Ideologie“, gegen die „Gender-Ideologie“, gegen den Brüsseler „Neomarxismus“. Kaczyńskis Vorgabe, das Verfassungstribunal jetzt über das bestehende, ohnehin rigide Abtreibungsrecht in Polen entscheiden zu lassen, könnte das berühmte Fass zum Überlaufen bringen. Niemand vermag jetzt einzuschätzen, welche kanalisierten und nichtkanalisierten Wege sich der heftige und mutige Frauenprotest und insbesondere unter den schwierigen Corona-Bedingungen suchen wird. Das gesellschaftliche Beben aber ist zu greifen, ist zu spüren – Kaczyńskis nationalkonservativer Machtblock gerät ins Wanken, die katholische Kirche setzt ihren großen Kredit, den sie in der polnischen Gesellschaft unzweifelhaft sehr viel stärker als anderswo hat, ein weiteres Mal aufs Spiel. Nicht wenige Beobachter wagen in der dunklen Stunde sogar einen optimistischen Ausblick: Die aktuellen Vorgänge auf den Straßen und Plätzen des Landes werden den Weg ebnen, um die in der geltenden Verfassung von 1997 geforderte Trennung von Staat und Kirche im Alltagsleben auch durchzusetzen.

Holger Politt: Zwischen Baum und Borke. Über „Solidarność“ nach der legendären Gründungszeit

Forderung nach Abrechnung mit den Akteuren des Runden Tisches von 1989 [Foto: Holger Politt]

21. September 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)

Der Text ist erstmals erschienen in der Tageszeitung „nd DER TAG" am 17. September 2020, Seite 2, unter dem Titel „Die Chamäleon-Gewerkschaft“.


Der Platz von „Solidarność“ in der heutigen politischen Landschaft Polens ist leicht auszumachen. Treu steht die legendäre Gewerkschaft dem Regierungslager zur Seite, das Bündnis hält seit 2015. Entscheidend sind die getroffenen Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik, also vor allem die Einführung des gesetzlichen Kindergeldes, die zusätzlichen Rentenzahlungen und die deutliche Senkung des gesetzlichen Renteneinstiegsalters. Der stramme nationalkonservative Kurs, um die nationale Souveränität und Identität herauszustellen und zu stärken, wird begrüßt, denn patriotisch klingende Argumente dafür sind rasch zur Hand – zum Beispiel in Sachen der polnischen Steinkohle.

Schon lange vor dem Siegeszug der von Jarosław Kaczyński geführten Nationalkonservativen im Jahre 2015 hatte sich „Solidarność“ von historischem Gepäck befreit, das nicht mehr gebraucht wurde. Weil sogenannter Gewerkschaftspluralismus gesetzlich vorgeschrieben ist, differenzierte sich Polens Gewerkschaftsstruktur auch politisch entsprechend. Neben „Solidarność“ gibt es mit der Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverständigung (OPZZ) und dem Gewerkschafts-Forum (FZZ) zwei weitere starke und einflussreiche Dachverbände, die aktuell allerdings keine vergleichbaren festen Bindungen zu politischen Strukturen aufzuweisen haben. Für „Solidarność“ ist dieser überaus enge Schulterschluss mit herrschender Politik möglich, weil man sich mehrfach gehäutet hat.

Bereits in den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1989/90 kam es zum scharfen Bruch mit dem im Kern liberal ausgerichteten Lager der einstigen „Solidarność“-Berater. Die am Runden Tisch im Frühjahr 1989 noch einmal herausgestellte Einheit war schnell erledigt, das Tischtuch zwischen dem legendären Arbeiterführer Lech Wałęsa und dem ersten „Solidarność“-Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki bereits Mitte 1990 zerschnitten. Wałęsa wurde Ende 1990 erster direktgewählter Staatspräsident Polens, doch als er 1995 aus dem Amt schied, war vom einstigen Gewerkschaftsführer kaum noch etwas zu spüren – er war jetzt Legende.

Noch einmal regierte „Solidarność“ von 1997 bis 2001, der Gewerkschaftsvorsitzende Marian Krzaklewski führte die rechtsgerichtete Wahlaktion „Solidarność“ zum Sieg, die in Koalition mit den einstigen „Solidarność“-Liberalen die Regierung stellte. Krzaklewski verzichtete allerdings auf den Posten des Ministerpräsidenten, denn er rechnete damit, ab 2000 Polens nächster Staatspräsident zu werden. Er scheiterte krachend und so auch 2001, denn die Regierungsparteien konnten bei den Parlamentswahlen die nötigen Prozenthürden nicht mehr überspringen. Damit endete die 13-jährige Geschichte, in der „Solidarność“ auf direktem Wege bestimmenden Einfluss auf das politische Leben auszuüben suchte; seitdem ist die Gewerkschaft nur noch Gewerkschaft.

Allerdings blieb „Solidarność“ bei den Politikern verschiedener Couleur ein auffallendes Objekt der Begierde. Wer seinen Weg in die Politik in die Gründungszeit von „Solidarność“ zurückführen konnte, pochte bei passender Gelegenheit gerne auf diese Tradition und darauf, diese wirksam zu vertreten. So war es auch beim Spitzenpersonal der Nationalkonservativen und der Wirtschaftsliberalen, die nach 2005 die politische Szene zu dominieren und aufzuteilen begannen. Für geraume Zeit hielt sich die Gewerkschaft einigermaßen geschickt in der Waage, bemühte sich um Neutralität zu beiden Seiten, um in dem zu erwartenden Auf du Ab von Regierung und Opposition die besseren Karten nicht vorschnell aus der Hand zu geben. Erst die Verheißungen Kaczyńskis auf sozialpolitischem Gebiet machten es möglich, die Neutralität aufzugeben und sich klar zum nationalkonservativen Kurs zu bekennen.

Das hat seinen Preis, den „Solidarność“ bislang bereitwillig zahlt. Um sich von den Liberalen abzugrenzen, behauptete Kaczyński schnell, sie hätten damals 1989 die „Solidarność“-Revolution schmählich verraten, weil sie sich mit den „Kommunisten“ an einen Tisch gesetzt hätten und diese laufen ließen. Statt wirklich abzurechnen sei lediglich um die künftigen Posten geschachert worden, herausgekommen seien Transformation und Schocktherapie, die vor allem zu Lasten derjenigen gegangen seien, die „Solidarność“ von Anfang an getragen hätten. Seit 2015 – beteuert Kaczyński gerne – werde versucht, die Folgen des Verrats an den polnischen Interessen von 1989 rückgängig zu machen. Damit einher gehen die ständigen Versuche, die Geschichte umzuschreiben. Seinen schönsten Ausdruck findet dieser Drang in dem Bemühen, die „Solidarność“-Legende Wałęsa vom Sockel zu holen und stattdessen Zwillingsbruder Lech Kaczyński dort aufzustellen. Der 2010 in Smolensk tödlich verunglückte Staatspräsident sei die eigentliche zentrale Figur im Gründungsprozess der Gewerkschaft gewesen, so Kaczyński, nur habe der sich nicht so prahlerisch verhalten wie andere.

Ganz reibungslos funktioniert das Bündnis zwischen Gewerkschaft und Regierungsmacht allerdings doch nicht, denn zuletzt zogen dunkle Wolken auf im Streit um die Zukunft der polnischen Steinkohle. Seit Jahren tönt die Regierungsseite, dass die Steinkohlenproduktion gesichert sei, dass der von der Europäischen Union geforderte Ausstieg aus der Kohleproduktion aufgehalten werde. Nun legte die Regierung eine neue Strategie zur Energieproduktion vor, in der bereits bis 2030 ein gravierender Rückgang der Fördermengen eingeplant wird. Besonders lautstark ist der Protest gegen diese Pläne auf „Solidarność“-Seite.

Holger Politt: „Eine neue Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen.“ Aufzeichnungen von Mieczysław F. Rakowski zur Entstehung der Gewerkschaft „Solidarność“ im August 1980

Erinnerung an die „Solidarność“-Entstehung auf dem einstigen Werkgelände der Lenin-Werft in Gdańsk [Foto: Holger Politt]

7. August 2020

zusammengestellt und übersetzt von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Vor 40 Jahren füllten die Nachrichten über die gleichermaßen überraschenden wie machtvollen Streikaktionen polnischer Arbeiter*innen die Titelseiten der Weltpresse. Die ihre Betriebe besetzenden Arbeiter*innen schrieben schließlich Weltgeschichte mit dem Federstrich, den Lech Wałęsa in ihrem Namen mittels eines übergroßen Kugelschreibers feierlich wie kämpferisch unter das Protokoll setzte. Die gegen das herrschende System erstrotzte Möglichkeit zur Gründung der parteiunabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ war der faktische Beginn jener zehnjährigen Wegstrecke, mit der letztlich der im Roten Oktober 1917 eingeschlagene Weg, aus der kapitalistischen Gesellschaft herauszukommen, in der östlichen Hälfte Europas zurückgenommen wurde. Davon allerdings ahnte im Sommer 1980 in Polen und wohl auch anderswo noch niemand etwas.

Zu den Persönlichkeiten, die sich auf der Seite des herrschenden Staatsapparates 1980/81 in der Auseinandersetzung um die Folgen des Auguststreiks einen Namen machten, zählte Mieczysław F. Rakowski. Am Beginn der Ereignisse war er Chefredakteur der namhaften Wochenzeitschrift „Polityka“, die bis dahin und meistens sogar überzeugend so etwas wie die Rolle einer zum System gehörenden konstruktiven Opposition eingenommen hatte, häufig genug dafür angefeindet wurde, vor allem aber in hohen Amtsstuben in Moskau und Berlin immer ein Dorn im Auge gewesen war. Im Laufe der dramatischen Entwicklungen zog es Rakowski schließlich unaufhaltsam in das Räderwerk der laufenden Politik. Schließlich wurde er im Februar 1981 in der Regierung von Wojciech Jaruzelski zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten berufen, wurde schnell zu einem der wichtigsten Vertrauten Jaruzelskis, der er auch nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 blieb.

Ab 1995 veröffentlichte Rakowski in zehn Bänden sein „Politisches Tagebuch“ aus den Jahren 1958 bis 1990. Die scheinbar beiläufig gemachten Notizen erwiesen sich schnell als eine faszinierende Quelle zur Geschichte der Volksrepublik Polen.

Der Band 7 enthält den Zeitraum von 1979 bis 1981, daraus sind die nachstehenden Auszüge aus der Zeit vom Juli bis Anfang September 1980 entnommen.


25. Juli

Nach 23 Tagen anhaltenden Streik unterbrach „Trybuna Ludu“ das Schweigen und veröffentlichte einen Beitrag unter dem Titel „Die Menschen verlangen Ordnung – die Ordnung hängt von den Menschen ab“. Neben dem üblichen Gestammel (das Erreichte, wir gehen vorwärts usw.) ist der Beitrag ausgesprochen nachsichtig mit den Streikenden. Der wohl charakteristische Satz: „Es geht nicht darum, jemanden zu verurteilen oder zu belehren.“ Eigentlich ist eine solche Haltung gegenüber den Streikenden ein Fortschritt. 1956 und 1970 wurde auf die Arbeiter geschossen, 1976 wurde eine bestimmte Gruppe verhaftet, weil sie „geheilt“ werden sollte, jetzt „verurteilen wir niemanden“. Selbstverständlich ist das alles zu beklagen, doch scheint das Wort vom Fortschritt angebracht zu sein.


11. August

Gierek ist auf der Krim, sonnt sich. Einfach unglaublich. Hier vertieft sich Tag für Tag die politische Krise, doch der verkrümelt sich unter der wärmenden südlichen Sonne.


13. August 

Soeben trifft eine Nachricht ein vom Verlauf des Streiks in Lublin. Das war ein Generalstreik. Erfasst waren 200 Betriebe sowie der gesamte Stadtverkehr. Die Stadt wirkte wie im Belagerungszustand.


14. August

Jetzt geht es an der Küste los. Mit dem Streik in der Lenin-Werft in Gdańsk. Eine ganz neue Situation. Nun streiken nämlich diejenigen, die 1970 Gomułka gestürzt und Gierek an die Macht gebracht haben.


15. August

Der Streik in Gdańsk beginnt sich zu einem Generalstreik zu wandeln, die Forderungen tragen zunehmend einen politischen Charakter.


17. August

Gestern gab die dortige Zeitung „Głos Wybrzeża“ [Die Stimme der Küste] eine Sonderausgabe heraus, in der ein Beitrag zur aktuellen Situation in den Betrieben in Gdańsk und Gdynia erschien. So etwas in der Art einer erweiterten Information darüber, was sich in der Werft in Gdańsk am Donnerstag (14. August) und am Freitag zugetragen hat. Die Benutzung des Wortes Streik wurde vermieden. Die Zeitung schreibt von Arbeitsausfällen, bedient sich also der alten, bereits abgestandenen Formulierung. Den meisten Platz in der Information nimmt der Bericht über die Gespräche zwischen der Werksleitung und den Streikenden ein. Laut Verfasser sei die Situation in vielen Betrieben bereits weniger angespannt und es zeichne sich eine Basis für die Verständigung zwischen Betriebsleitungen und Belegschaftsvertretern ab.


18. August

An der Küste hält der Generalstreik an. Die wichtigsten Forderungen tragen einen politischen Charakter. Die Streikenden wollen vor allem die Zusicherung, freie Gewerkschaften gründen zu können, die Zensur aufzuheben usw. Der Streik erfasst auch Szczecin und Elbląg.


26. August

Das überbetriebliche Streikkomitee in Gdańsk, das von Lech Walęsa geleitet wird, hat in seinen Reihen alle diejenigen, die in den zurückliegenden zehn Jahren von den Sicherheitsdiensten drangsaliert wurden. Auch Walęsa wurde mehrere Male für 48 Stunden festgehalten. Sowohl er als auch seine Kollegen (u. a. Anna Walentynowicz) waren aktiv an den Dezemberereignissen [1970] beteiligt. Und sicherlich hatten sie, als Gierek in die Runde gerufen hatte, „helft ihr mir?“, geantwortet, „ja, wir helfen!“.


27. August

Die Tageszeitungen berichten immer entschiedener über die Ereignisse an der Küste. Am kämpferischsten reagiert „Sztandar Młodych“ [Banner der Jugend]. Die gestrige Nummer wurde in großen Lettern mit dem Titel „Was wollen die Arbeiter“ aufgemacht.


1. September

Ungewöhnliche Dinge ereignen sich nun. Heute zeigte das Fernsehen in der abendlichen Hauptnachrichtensendung einen Bericht von der Unterzeichnung der Vereinbarungen in Szczecin und Gdańsk. Der noch vor kurzem vom Sicherheitsdienst verfolgte Walęsa, ein Abbild des Papstes und ein Abzeichen der Mutter Gottes am Revers, unterzeichnete die Verständigung mit einem riesengroßen Kugelschreiber. Unterzeichnet wurde in einem Betriebssaal, in dem auf der einen Seite die Lenin-Büste stand, auf der anderen Seite aber das Christenkreuz angebracht war. Walęsa ist ein tiefgläubiger Mensch, ohne Zweifel steht er unter dem starken Einfluss der Kirche. Übrigens wurden während des Streiks in der Werft zwei christliche Messen gelesen und am Werkszaun hing ein Porträt von Papst Johannes Paul II. Auf dem Werftgelände nahm der Priester während der Messe die Beichte ab. Diese Ernte ergibt sich nach 35 Jahren ideologischer Arbeit der PVAP!

Im Land herrscht eine euphorische Stimmung. An der Küste Siegesstimmung. Im ZK-Gebäude werden sie nun darüber zu grübeln haben, was da eigentlich vorgefallen ist. Ich bin mir sicher, dass Polen in eine völlig neue Phase seiner Entwicklung eingetreten ist und heute niemand mehr sagen kann, was auf uns zukommen wird. Die Bildung einer Gewerkschaft, die ihre völlige Unabhängigkeit von der Partei erklärt, ist ein unglaublicher Vorgang in einem System, das im Osten Europas nach sowjetischem Muster ausgerichtet ist. Schwer vorherzusagen, was mit dieser Gewerkschaft in den kommenden Monaten werden wird. Eines aber ist sicher – eine neue Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen ist entstanden.


4. September

Mittags bei [Stanisław] Kania. Ich legte ihm meine Beurteilung der Situation in der Partei vor und schlug ihm vor, den Posten des Ersten Sekretärs des ZK zu übernehmen. Er meint, dass jede weitere Stunde, in der Gierek an der Macht bleibe, ein Unglück für Polen sei. Gierek habe völlig die Kontrolle über die Situation verloren und habe aufgehört zu regieren. Anschließend sprach er über Neigungen, die bewaffneten Kräfte einzusetzen, um den gegenwärtigen Konflikt zu lösen. Er sagte allerdings nicht, wer für eine solche Lösung eintritt. Er meinte, um die Streikkomitees gewaltsam einzunehmen, so wie [Ludwik] Dróżdż (Erster Sekretär des Wojewodschaftskomitees in Wrocław) es vorschlage, genügten selbst die vier in Legnica stationierten sowjetischen Divisionen nicht. Er sagte, Jaruzelskis und die Generäle seien fest entschlossen, keine gewaltsamen Mittel einzusetzen. Er teilte mit, dass Jaruzelski den ihm angebotenen Posten des Ersten Sekretärs abgelehnt habe. Er solle gesagt haben, dass wir hier nicht in Afrika seien. Ein General könne nicht Staatschef werden.

Holger Politt: Andrzej Duda bleibt im Amt. Zu den Präsidentschaftswahlen in Polen

Der Präsident für polnische Angelegenheiten [Foto: Holger Politt]

15. Juli 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Die von vielen erhoffte Überraschung ist ausgeblieben: Rafał Trzaskowski – der liberale Herausforderer – unterlag am 12. Juli 2020 bei der Stichwahl um das Präsidentenamt knapp dem nationalkonservativen Amtsinhaber Andrzej Duda. Unter dem Strich bleiben 10,4 Millionen Stimmen für Duda, 10 Millionen Stimmen für Trzaskowski – 51 bzw. 49 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag mit 68,18 Prozent erfreulich hoch, nur 1995 elektrisierte die Stichwahl zwischen Amtsinhaber Lech Wałęsa und Herausforderer Aleksander Kwaśniewski noch ein wenig mehr. Allerdings hatten Kandidaten für das Präsidentenamt noch nie zehn Millionen Stimmen und mehr auf sich gezogen, was sich auch damit erklärt, dass trotz abnehmender Gesamtbevölkerungszahl die Zahl der Wahlberechtigten in Polen wegen des demographischen Wandels spürbar angewachsen ist. Das hat insofern seine Bewandtnis, weil der Anteil von Menschen in höheren Altersstufen entsprechend zugenommen hat und diese Altersgruppe mitentscheidend für den Wahlausgang war.

Die zugespitzte Polarisierung im Wahlkampf zeugte von einer scharfen Teilung der Wählerschaft, wie sie es bei Präsidentschaftswahlen noch nie gegeben hatte. Im Ergebnis zerfiel Polen politisch am Wahltag in zwei fast gleichgroße Stimmenteile, zwei sich im Grunde ziemlich fremd oder ratlos gegenüberstehende Lager, zwischen denen im Augenblick kaum noch tragfähige Brücken geschlagen werden können. Die Schuldzuweisung trifft hinterher immer die andere Seite, denn dort hätte man die rücksichtslose Polarisierung gesucht. Doch hat vor allem das hinter Duda stehende nationalkonservative Regierungslager mittels der verfügbaren massiven Propagandamittel diese Wahl mit Fragen von nationaler Souveränität, christlicher Identität und zu verhindernden ausländischen Einflüssen in nie gekannter Weise emotional aufgeladen. Manchmal hatte es den Anschein, als stünde Polen vor einem wahren Weltanschauungskampf. Das nationalkonservative Lager wollte den Sieg um jeden Preis, man setzte auf die eigene Geschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit. Duda wurde als Präsident für die polnischen Angelegenheiten in Szene gesetzt, die Botschaft traf ihre Adressaten.

Für Duda stimmten zwei Drittel von Menschen im Rentneralter sowie stolze 81 Prozent der Landwirte, die noch ungefähr 15 Prozent aller Beschäftigten im Lande ausmachen. Auch eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten in Industrie und Bergbau stimmte für den Amtsinhaber. Als strahlender Sieger ging Duda im ländlichen Raum vom Platz, auch hier, wo immerhin 40 Prozent der Gesamtbevölkerung wohnt, kam er auf zwei Drittel der Stimmen. Regional wurden von ihm vor allem die Gebiete in der Landesmitte, im Osten und Südosten geholt. Das sind jene Landesteile, die vor dem Ersten Weltkrieg zum Russischen Reich und zu Österreich gehörten, in denen die Landwirtschaft besonders kleinteilig ist und in denen die katholische Kirche seit Jahrhunderten fest verwurzelt ist.

Trzaskowski, der im Herbst 2018 gewählte Warschauer Stadtpräsident, setzte auf ein modernes, weltgewandtes Polen, das sich zu öffnen versteht, ohne sich in Ängsten zu verlieren, die nationale Identität nun aufgeben zu müssen. Entsprechend nahmen Fragen der weiteren Integration mit der Europäischen Union eine vordere Stellung ein. Beim politischen Gegner setzte er sich damit aber dem Verdacht aus, den Geist des Polentums zu verraten, von der tausendjährigen Geschichte Polens nichts zu verstehen und obendrein die angeblich viel zu großen deutschen Einflüsse im Lande aus niederen Beweggründen stärken zu wollen. Für Trzaskowski stimmte die Großstadt, in der ihm der Löwenanteil zufiel. Bei Studierenden und Abiturienten kam Trzaskowski nun seinerseits auf 70 Prozent, überhaupt fand er den deutlichen Zuspruch bei den jüngeren Wählerschichten, denn bei den Menschen bis zum Alter von 29 Jahren holte er zwei Drittel der Stimmen. Und regional war er im Westen, Norden und Südwesten erfolgreicher. Die Tatsache, dass unter den Anhängern Trzaskowskis überdurchschnittlich viele Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss zu finden waren, konterte das Regierungslager mit dem giftigen Argument, er sei eben der Vertreter der «alten Eliten», die den kleinen Leuten nie was gegönnt hätten.

Auch wenn es Trzaskowski aus Sicht der Opposition und trotz der beeindruckenden Stimmenzahl nicht gelungen ist, die Kastanien aus dem Feuer zu holen, also mit einem Sieg eine empfindliche Bresche in das nationalkonservative Regierungslager zu schlagen, halten Kommentatoren einen anderen Aspekt für außerordentlich wichtig. Der Warschauer Stadtpräsident zählt ab jetzt zu den bekanntesten politischen Persönlichkeiten Polens. Kwaśniewski, der eingangs erwähnte Ex-Präsident, sprach bereits davon, dass die demokratische Opposition nun ihre neue Führungsgestalt bekommen habe. Er wagte damit den Ausblick auf die nächsten Parlamentswahlen, zu denen Polens Wahlvolk turnusmäßig im Herbst 2023 gerufen werden wird. Und ein wenig schielte er dabei sogar hinüber nach Frankreich, nämlich zu Emmanuel Macron.

In der weiten Welt wurde man auf den Wahlkampf in Polen aufmerksamer, als der Amtsinhaber aus Gründen der bezweckten Zuspitzung plötzlich von einem gefährlichen Neobolschewismus zu sprechen begann, der nun ebenso besiegt werden müsse, wie Polen einst den Bolschewismus besiegt habe. Angespielt wird auf den 100. Jahrestag der entscheidenden Schlacht am 15. August 1920 im polnisch-sowjetrussischen Krieg, die vor den Toren Warschaus mit einem Sieg der polnischen Waffen endete. Nun drohe neue Gefahr, sagte Duda im Wahlkampfgetümmel, und behauptete kühn, die von den polnischen Nationalkonservativen herbeigeredete LGBT-Ideologie sei wie Neobolschewismus. Später zurückrudernd erklärte er, dass es ihm nur um die polenfeindliche LGBT-Ideologie als solche ginge, Lesben und Schwule als Menschen hätte er gar nicht angreifen wollen, denn natürlich sei er für die Verschiedenheit in der Gesellschaft, vorausgesetzt, die traditionelle Familie bleibe unangetastet. Die gewünschte Botschaft kam im Duda-Wahlvolk an: Herausforderer Trzaskowski sei ein kreuzgefährlicher Mann, der die Sexualisierung unschuldiger Schulkinder durchsetzen wolle, der die christlichen Fundamente der traditionellen Familie unterspüle, indem er sich für gleichgeschlechtliche Ehe und dazugehöriges Adaptionsrecht einsetze, der damit überhaupt das aufs Spiel setze, was den Menschen in Polen lieb und teuer sei. Am Wahlabend, nachdem er sich triumphierend zum Wahlsieger erklärt hatte, versuchte Duda sich plötzlich in einer anderen, weniger forsch klingenden Tonlage, denn für gemachte Fehler während des heißen Wahlkampfes und für den einen oder anderen unglücklich herausgerutschten Ausdruck wolle er um Nachsicht bitten. Doch zu den haltlosen Dingen, die er im Zusammenhang mit den Rechten sexueller Minderheiten in Polen von sich gegeben hatte, kein einziges Wort. Dieses aber fordert vom frischgewählten Präsidenten nun die namhafte Kampagne gegen die Homophobie ein, die Duda zu einem offenen Gespräch auffordert, um rasch klären zu können, was Polens Staatsoberhaupt eigentlich gemeint habe.

Das Gespenst der "LGBT-Ideologie" in Polen. Bemerkungen zu einer Schmutzkampagne

«Wir sind Menschen, keine Ideologie» [Foto: Roman Bosiacki/Agencja Gazeta]

17. Juni 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Wer jetzt in Polen den Parolen der Regierenden folgt, könnte den Eindruck bekommen, als stünde das Land nach dem Überstehen der schlimmsten Corona-Wochen vor einer weiteren schrecklichen Herausforderung – vor dem Gespenst der LGBT-Ideologie. Während aber das gefährliche Virus von außen nach Polen kam, weshalb dann schnell die Schließung der Landesgrenzen sowie des internationalen Passagier-Luftverkehrs ein probates Mittel schien, verhält es sich bei dem neuen Gespenst anders. Es ist nämlich eine ureigene Erfindung der in Polen regierenden Nationalkonservativen. In dem so überaus wichtigen Wahljahr 2019 hatten findige Wahlkampfstrategen frühzeitig ausgemacht, dass das Thema des Umgangs mit sexuellen Minderheiten in der Öffentlichkeit als kräftiger Spaltpilz tauge. Außerdem war man sich der wohlwollenden Duldung, gar tatkräftigen Unterstützung durch einflussreiche Kreise in der katholischen Kirche sicher.

Im Frühjahr 2019 hatte sich ein breiter, oppositioneller Wahlblock unter der Bezeichnung «Europäische Koalition» zusammengefunden, der die Wahlen zum Europäischen Parlament für sich entscheiden wollte, um ein klares Zeichen für die im Herbst folgenden Parlamentswahlen zu setzen. Das im Kern von den Liberalen zusammengehaltene Bündnis reichte von moderat-konservativen Agrariern bis hinüber ins modern-großstädtische, linksliberale Spektrum. Tatsächlich hatte das Manöver der regierenden Nationalkonservativen einigen Erfolg, denn die konservativ-ländlichen Teile in der «Europäischen Koalition» gaben beim Thema sexueller Minderheiten allzu schnell nach, meinten öffentlich, diese Fragen sowie Sexualerziehung in den Schulen könnten ihrer Wählerschicht nicht zugemutet werden. Immer wieder hatten die Nationalkonservativen in der Kampagne gegen Rafał Trzaskowski geschossen, den im Herbst 2018 frischgewählten Warschauer Stadtpräsidenten, der als eines seiner Wahlversprechen eine LGBT-Charta für die Hauptstadt durchsetzen ließ.

Das breite Oppositionsbündnis zerbrach, nachdem die EP-Wahlen verloren wurden, sortierte sich neu entlang übersichtlicherer politischer Ausrichtungen, was zum Beispiel auf dem linken Flügel des politischen Spektrums der Bildung eines breiteren Bündnisses entgegenkam, das dann tatsächlich den Einzug in das Parlament in überzeugender Weise erreichte. Die Parlamentswahlen im Herbst letzten Jahres vertagten gewissermaßen die Entscheidung in das kommende Frühjahr, denn ganz so eindeutig war es mit einem Male nicht mehr, festzustellen, wer gewonnen, wer verloren hatte. Jarosław Kaczyński gab am Wahlabend zu, mit mehr Stimmen gerechnet zu haben, auch wenn die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm verteidigt werden konnte. Die in wenigen Monaten anstehende Präsidentschaftswahl würde die Entscheidung bringen.

Natürlich rechnete er fest mit einem Sieg des Amtsinhabers, denn Andrzej Duda sah tatsächlich lange Zeit in den Umfragen wie der klare Favorit aus. Der plötzliche und unverhoffte Ausbruch der Corona-Krise, die um das wahlkämpfende Polen keinen Bogen machte, führte zunächst dazu, dass der eigentlich vorgesehene Wahltermin am 10. Mai 2020 nicht gehalten werden konnte und dass die zeitliche Verlegung von der stärksten Oppositionskraft ausgenutzt wurde, um einen Kandidatenwechsel vorzunehmen, denn ins Rennen gegen Duda wurde der bereits erwähnte Warschauer Stadtpräsidenten Trzaskowski geschickt.

Drei Wochen vor dem auf den 28. Juni 2020 festgelegten Wahltermin gab Kaczyński in einem an die Parteimitglieder von «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) gerichteten Rundschreiben die Richtung vor: Die Wiederwahl Dudas liege im Interesse Polens, es herrsche heute ein alarmierender Zustand, der im Falle eines Sieges des amtierenden Präsidenten aber sofort beendet werde. Trzaskowskis Kandidatur sei Betrug an der Gesellschaft, denn er stelle sich als braver Katholik hin, der zudem behaupte, in der Kontinuität der «Solidarność»-Bewegung zu stehen. Hingegen sei der neue Herausforderer Dudas ein radikaler Linker und obendrein ein hartnäckiger Verfechter der LGBT-Ideologie. Das alte Gespenst aus dem vergangenen Jahr war wiederbelebt.

Das allerdings hatte vor Jahresfrist kräftig sein Unwesen getrieben. Prominente Vertreter der katholischen Kirche verstiegen sich in Absurditäten – von einer Regenbogenpest war plötzlich die Rede, die das Land bedrohe, nachdem die rote Pest besiegt sei. Und nationalkonservative Mehrheiten in verschiedenen lokalen wie regionalen Körperschaften erklärten sich in zur Schau gestellter patriotischer Haltung zu «LGBT-freien Zonen», was für reichlich Zündstoff in der öffentlichen Debatte sorgte. Denn gefragt, ob sie nun Lesben und Schwule des Landes verweisen wollten, versicherten die Nationalkonservativen eilfertig, es ginge ihnen lediglich um die Regenbogen-Ideologie, gar nicht um die Menschen, die eine andere sexuelle Präferenzen als die Mehrheit in der Gesellschaft hätten. Privat könnten sie es halten wie der berühmte Dachdecker, nur im öffentlichen Raum müssten die Interessen der Mehrheitsgesellschaft geschützt werden. Schnell wurde nachgeschoben, dass die beklagte Ideologie aus dem Ausland käme, von dort finanziert werde, sich im Lande jetzt ausbreite vor allem mit Hilfe des sogenannten Gleichheitsmarsches, der Parada Równości, mit der immer dieselben wenigen Menschen die Städte Polens heimsuchten, um eben in Ideologie zu machen. Zur schlimmen Eskalation kam es schließlich im Juli letzten Jahres in Białystok, in der großen Provinzstadt im Osten des Landes, als die dortige Parada Równości zum Angriffsziel eines aufgehetzten Mobs wurde, der den bunten Zug vor allem junger Menschen beschimpfte und auch vor roher Gewalt nicht mehr zurückschreckte. Der Schock im Lande wirkte nach, so dass Kaczyński die Offensive gegen die LGBT-Ideologie ganz plötzlich abbrechen ließ, ohne indes in der Sache nachzugegeben. Noch einmal hielt er fest, dass es lediglich um die LGBT-Ideologie als solcher gehe, die für die Fundamente, auf denen das Land ruhe, gefährlich sei, nicht um Lesben oder Schwule.

Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf hat Duda nun eine neue Familien-Charta vorgestellt und symbolisch unterzeichnet, die ihm Richtschnur sein solle in den kommenden Amtsjahren. Ein wichtiger Punkt in dieser Verpflichtungserklärung ist das Versprechen, LGBT-Ideologie in öffentlichen Einrichtungen, also auch in Schulen zu verbieten. Bei einem Wahlkampfauftritt klärte er die Zuhörer auf: «Man versucht uns einzureden, dass das schließlich Menschen seien, aber es ist einfach nur Ideologie. Falls jemand daran zweifelt, ob es Ideologie sei oder nicht, so möge er in die Geschichte schauen und sich ansehen, wie die LGBT-Bewegung in der Welt aufgebaut wurde, möge er sehen, wie der Aufbau dieser Ideologie vonstatten ging und welche Ansichten jene verkündet hatten, die sie aufgebaut haben. Der beste Beweis aber, dass es sich um Ideologie handelt, ist, dass ein Teil jener Personen, die homosexuelle Präferenzen zeigen, sich nicht mit dieser Bewegung und mit dieser Ideologie identifizieren.»

Insbesondere wandte er sich an die besorgten Eltern unter seinen Zuhörern, denn seine Familien-Charta richtet sich im starken Maße gegen alle Bestrebung, Sexualerziehung in den Schulen zuzulassen: «Während der Zeit des Kommunismus wurde den Kindern in den Schulen die kommunistische Ideologie verabreicht. Das war Bolschewismus. Heute wird uns und unseren Kindern wieder einmal Ideologie verabreicht, nur eine andere. Eine völlig neue, wobei das zugleich eine Art Neobolschewismus ist, denn wenn in der Schule Ideologie eingeschmuggelt wird, damit die Sichtweise der Kinder geändert und ihr Blick auf die Welt ausgerichtet wird, zum Beispiel mit Sexualisierung im Kindesalter, was der tiefen Logik des ruhigen, ausgeglichenen Erwachsenwerdens eines Menschen widerspricht, dann ist es ja nichts weiter als Ideologie.»

Nach den ersten heftigen Reaktionen aus dem Ausland und insbesondere in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union ruderte Duda kräftig zurück: Nein, er sei gar nicht gegen die Ausgrenzung anderer Menschen, er trete für Verschiedenheit und Gerechtigkeit ein. Er sei missverstanden, die Sätze aus dem Kontext gerissen worden. Er verwies bei einem Wahlkampfauftritt in Lublin auf eine aus Protest hochgehaltene Regenbogenfahne am Rande und meinte, die sei allerdings eine Fahne, vor die er sich nicht stellen würde, denn das täte er nur beim polnischen Nationaltuch und bei der EU-Flagge. Anders gesagt: die Jagd auf das LGBT-Gespenst ist nicht abgeblasen.

Ein kurzer Nachtrag: Während in den nationalkonservativen Medien weiter munter zum Angriff geblasen wird, Trzaskowski etwa als «kultureller Aggressor» bezeichnet werden darf, gibt es einen ganz wichtigen Protest: Der Verband der Warschauer Aufständischen und die Stiftung zur Erinnerung an die Helden des Warschauer Aufstands vom August 1944 erklärten, dass «die Worte, die in ganz Polen und auch draußen in der Welt vernommen wurden, von den anständigen Menschen entschieden zurückgewiesen werden müssen. […] Die Erniedrigung sexueller Minderheiten darf in einem Land nicht hingenommen werden, in dem Homosexuelle von den Faschisten wegen ihrer Verschiedenheit umgebracht wurden.»

Holger Politt: Die vertagte Entscheidung. Nach dem Kandidatenwechsel im bürgerlichen Lager ist der Ausgang der polnischen Präsidentschaftswahl wieder offen

10. Juni 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Am 28. Juni 2020 wird Polens Wahlvolk zur Entscheidung gerufen, bevor Anfang September die laufende Amtszeit des jetzigen Staatspräsidenten beendet ist. Amtsinhaber Andrzej Duda ist in der ersten Runde der Favorit, doch wird er – so besagen es die Umfragen – unter der erforderlichen absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen bleiben, also 14 Tage später in die Stichwahl müssen. Das nationalkonservative Regierungslager ist lange Zeit davon ausgegangen, dass Duda den das Amt bestätigenden Sieg bereits nach der ersten Runde in der Tasche haben könnte, vor allem Umfragewerte während der Corona-Quarantäne in den ersten Frühlingswochen nährten solche Hoffnungen. Auch deshalb hatte Jarosław Kaczyński, der sich nach wie vor als der unumstrittene politische Anführer des Regierungslagers beweisen will, lange Zeit darauf gepocht, den ursprünglichen Wahltermin am 10. Mai mit allen Mitteln zu halten. Der allerdings fiel ins Wasser, denn die staatliche Wahlkommission musste schließlich erklären, dass an diesem Tag keine einzige Wahlstimme abgegeben werden konnte.

Die Neuansetzung des Termins ermöglichte der stärksten Oppositionskraft den Kandidatenwechsel, der abzusehen war, denn die Corona-Krise hatte der laufenden Wahlkampagne schnell den Schneid abgekauft – auch deshalb gingen die Umfragewerte für Duda nun wieder nach oben. Małgorzata Kidawa-Błońska war ins Straucheln gekommen, nachdem sie öffentlich erklärt hatte, dass unter den gegebenen Corona-Bedingungen am 10. Mai demokratische Wahlen gar nicht durchgeführt werden könnten, und kurzerhand zum Wahlboykott aufrief, diesen selbst aber nicht konsequent befolgte. Die Propagandamühlen des Regierungslagers waren also schnell dabei, das Märchen vom Fuchs und den Trauben unter die Leute zu bringen. An die Stelle der gescheiterten Kandidatin beorderte die Fraktion der Bürgerlichen Koalition schließlich den amtierenden Warschauer Stadtpräsidenten Rafał Trzaskowski, der erst im Herbst 2018 in das wichtige und prestigeträchtige Selbstverwaltungsamt gewählt worden war.

Während Duda sich bereits seit Anfang Februar im ermüdenden Wahlkampfmodus befindet, legt der gleichaltrige Trzaskowski (beide Jahrgang 1972) die verbleibende Wegstrecke bis zur Stimmabgabe nun vergleichsweise wie im Sprint zurück. Auch eine andere Situation kam ihm entgegen. Um in Polen bei den Präsidentschaftswahlen antreten zu können, braucht es zuvor die geprüfte Vorlage von 100.000 Unterschriften, die zu diesem Zweck landesweit in vorbereitete Listen eingetragen werden können. Normalerweise wird dafür ausreichend Zeit eingeräumt, jetzt im Schnellverfahren aber waren es nur ganz wenige Tage. Die aber nutzte Trzaskowski in gekonnter Weise, um aktiven Wahlkampf zu machen in Zeiten, in denen das Versammlungsrecht weiterhin beträchtlich eingeschränkt ist. Bilder der Menschenschlangen, in denen geduldig gewartet wurde, um die Unterschrift abgeben zu können, gingen durch die Medien. Die persönliche Abgabe von über 1,6 Millionen Unterschriften in der Wahlkommission wurde für den Herausforderer sogar zu einem ersten, kleinen Triumph.

Trzaskowski hat nun erklärt, der jetzige Wahlgang sei in seiner politischen Bedeutung vergleichbar mit den Parlamentswahlen vom 4. Juni 1989. Damals wurde mit dem Stimmzettel das Machtmonopol der herrschenden Staatssozialisten gebrochen, so dass der Weg frei war für den grundlegenden Systemwandel ab Sommer 1989. Und umgekehrt folgt das nationalkonservative Regierungslager traditionell und strikt der Überzeugung, dass die Vorgänge von 1989 in Polen eher einem Verrat geglichen hätten, weil es zu keiner Abrechnung mit den „Kommunisten“ gekommen sei, weil der friedliche Systemwandel sie ungeschoren davonkommen ließ, weil so das aufmüpfige Volk um seine Früchte gebracht worden sei. Für Zuspitzung ist also gesorgt, daran wird es in den kommenden Wochen bis zur großen Sommerpause in Polen nicht fehlen.

Noch ist überhaupt nichts entschieden. Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2019 erreichten die auf die Einhaltung der geltenden Verfassung pochenden Oppositionskräfte zusammengerechnet zwar einen überraschenden Stimmenvorteil gegenüber dem nationalkonservativen Lager, doch die komplizierte Wahlarithmetik brachte dem Regierungslager erneut die angestrebte absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Sejm ein. Seither hat sich an dem Kräfteverhältnis im Land wenig geändert, eine tatsächliche Wechselstimmung ist kaum auszumachen. Allerdings wissen Kaczyński und seine Leute längst, dass sie diesmal bei einer vollen Mobilisierung die Wahlen verlieren könnten. Das oppositionelle Verfassungslager ist zudem sehr breit aufgestellt, quer durch die gesamte Gesellschaft – es reicht von den konservativen Positionen bei den moderaten Agrariern, die insbesondere in den ländlichen Bereichen kräftig punkten müssen, wo die Nationalkonservativen seit 2015 klar in der Vorderhand sind, bis hin zu den Positionen einer breiter verstandenen Linken, die mit Robert Biedroń einen Kandidaten ins Rennen schicken, der zwar viele Vorschusslorbeeren einheimsen konnte, allerdings in den vertrackten Corona-Zeiten im Wahlkampf wohl nie richtig Tritt gefasst hat. Trzaskowski gilt als eloquenter Großstadt-Liberaler, der sogar eher linksliberal gefärbt ist, der aber vor der schwierigen Aufgabe steht, in einer Stichwahl gegen Duda auch die konservative, die ländliche Wählerschaft im Oppositionsspektrum bei Laune zu halten. Die Anhänger Robert Biedrońs hingegen werden keine Schwierigkeit haben, dann für Trzaskowski zur Wahl zu gehen.

Holger Politt: Im Zeichen politischer Instrumentalisierung. Bemerkungen zum aktuellen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Polen

Straßenplakat in Warschau im September 2019 [Foto: Holger Politt]

April 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.

Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit

Anders als vielfach erwartet ist das Interesse am Zweiten Weltkrieg in Polen seit dem Beitritt zur Europäischen Union im Mai 2004 nicht abgeschwächt, sondern das Gegenteil ist der Fall – kein anderes Thema dominiert die geschichtspolitische Debatte so wie die Zeit von 1939 bis 1945. Hinzu kommt, dass das nationalkonservative Regierungslager seit 2015 bei den Anstrengungen um die Stärkung der nationalen Identität wider die vorgeblichen Gefahren einer ungebremst weitergehenden EU-Integration die Geschichtspolitik als ein willkommenes Mittel gebraucht, um das Wahlvolk bei der Stange zu halten.

Im Grunde behaupten führende Ideologen des Regierungslagers unentwegt, das Land habe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich in einer hoffnungslosen Situation befunden, weil es von den westlichen Siegermächten fallen gelassen worden sei, so als hätte es nach 1939 an der Seite Hitlerdeutschlands gekämpft. Wenn Ministerpräsident Mateusz Morawiecki 2018 davon sprach, dass in der Zeit zwischen 1944/45 und 1989 ein Polen gar nicht existiert habe, oder wenn das staatliche Geschichtsinstitut IPN (Institut für nationales Gedenken) offiziell die Ansicht verbreiten darf, in Polen sei der Zweite Weltkrieg erst 1989 zu Ende gegangen, so verweist das auf die Schlagseite, mit der das heutige Regierungslager in Polen geschichtspolitisch steuert.

Und ein Widerspruch fällt auf: Während im durchaus komplizierten Gründungsprozess jener Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich später zur heutigen Europäischen Union gemausert hat, zunächst sehr darauf geachtet worden war, den Zusammenschluss als eine Lösung für Probleme zu begreifen, die zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs geführt haben, versteht das 2004 beigetretene EU-Mitglied Polen die Mitgliedschaft heute als eine Art Wiedergutmachung für die «kommunistische Zeit», die in unmittelbarer Folge des Zweiten Weltkriegs als eine gemilderte Form von Fremdherrschaft unverschuldet über das Land gekommen sei, so dass sich daraus jetzt eine höhere Verantwortung für die Bewahrung der nationalen Identität und die Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität ergebe. Das zielt aktuell unmittelbar auf befürchtete Beeinflussungen aus Brüssel, die aus innenpolitischen Gründen als eine Zumutung für das Land und als eine Gefährdung für nationale Identität und Souveränität dargestellt werden. Erst kürzlich brachte es Jarosław Kaczyński, Polens uneingestandener Staatsführer, so auf den Punkt: «Polen steht, soweit es um Werte geht, auf einem völlig anderen Platz als viele andere europäische Länder». Der Justizminister Zbigniew Ziobro brach es noch ungenierter herunter: Deutschland – dessen starker Einfluss in der EU dem heutigen offiziellen Warschau oft genug ein Dorn im Auge ist – sei wegen der Nürnberger Gesetze und der Terrorgesetze im besetzten Polen während des Zweiten Weltkriegs nun das allerletzte Land auf der Welt, das Polen in Hinsicht seiner Rechtskultur überhaupt Vorschriften machen dürfe.

Auch in den EU-Mitgliedsländern Litauen, Lettland und Estland wird die Zeit zwischen 1939 und dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus als Argument benutzt, um bestimmte in der EU-Gemeinschaft ansonsten übliche Standards außer Kraft zu setzen. Signifikantes Beispiel sind die einsprachigen Straßenschilder in den genannten Ländern, auch dort nämlich, wo nationale Minderheiten in einzelnen Gebieten einen Bevölkerungsanteil von deutlich über 20 Prozent stellen. Doch erstens geht es dabei tatsächlich um eine ungelöste Frage in den jeweils bilateralen Beziehungen zu Russland, denn die drei Republiken pochen darauf, dass die staatliche Existenz seit 1918 anerkannt wird, was Russland trotz der bestehenden diplomatischen Beziehungen verweigert, also die staatliche Existenz der Republiken erst seit 1991 anerkennt. Diesbezüglich greift jeder Vergleich mit der Situation Polens zu kurz, wird sofort schief, es sei denn, die jetzige Regierung in Warschau wollte die Frage der territorialen Gestalt des Landes in die Waagschale werfen, also das von den Siegermächten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchgesetzte «Verschieben» Polens um etwa 300 Kilometer nach Westen infrage stellen. Das aber wird aus leicht einsehbaren Gründen nicht getan, stattdessen arbeiten die Nationalkonservativen fleißig an einer hohen Reparationsforderung gegenüber Deutschland für die angerichteten Zerstörungen und die verübten Verbrechen, die noch nicht beglichen sei. Wenn dabei von deutscher Seite auf Entscheidungen der VR Polen verwiesen wird, mit der die Frage der Reparationen abgeschlossen sei, folgt das oben bereits angeführte Argument, dass es Polen damals nicht gegeben habe, es also auch kein anerkanntes Rechtssubjekt gewesen sein könne.

Zweitens aber fällt auf, dass die baltischen Republiken lediglich bestimmte Ausnahmebedingungen für sich in Anspruch nehmen wollen, also niemandem sonst die eigene Sicht aufdrücken oder als verbindlich durchsetzen wollen. Die EU-Mitgliedschaft wird in allen drei Ländern als ein entscheidender Faktor der nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität und somit der nationalen Souveränität überhaupt angesehen, ist also viel zu entscheidend, als dass sie mit der komplizierten Spezifik der eigenen besonderen Situation belastet oder gar gegeneinander ausgespielt  werden sollte. Anders verhält es sich nun mit Polen, denn die Regierenden in Warschau fühlen sich immer mehr gedrängt, das eigene Verständnis von nationaler Identität und nationaler Souveränität auch der übrigen Gemeinschaft zu verordnen, denn seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 sind Polens Nationalkonservative fest davon überzeugt, dass nur eine Gemeinschaft souveränen Nationalstaaten überleben werde und der bisherige, auf eine sich vertiefende Integration der Mitgliedsgesellschaften angelegte Weg gescheitert sei.

Zwar überschneiden sich hier die Interessen in Warschau und in Budapest in einem großen Maße, so dass sich die Regierungen in Polen und Ungarn einig sind, nun einen Weg der «illiberalen Demokratie» zu suchen und einzuschlagen, doch nützt der Beistand Viktor Orbáns bei dem großen geschichtspolitischen Werk der polnischen Nationalkonservativen wenig, stand Ungarn im Zweiten Weltkrieg doch auf der anderen Seite der Barrikade. Insofern bleibt die eigene Bevölkerung der hauptsächliche Adressat der aufwendigen geschichtspolitischen Kampagne bezüglich des Zweiten Weltkriegs und der Zeit der Okkupation von 1939 bis 1945. Insbesondere jüngere Wählerschichten sollen sich dieserart gestärkt hinter die politischen Positionen der Nationalkonservativen stellen. Und die nachprüfbaren Ergebnisse zeigen, dass der Erfolg dabei nicht ausbleibt. In der Wählergruppe der unter 30-jährigen hat das Regierungslager zuletzt den größten Zuspruch aller Parteien in Polen. Eine wichtige Quelle für diesen Erfolg liegt im geschichtspolitischen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der deutschen Okkupation und mit dem polnischen Widerstand gegen die Besatzer.

«Wir betteln nicht um Freiheit, wir kämpfen für sie»

Zu den wichtigsten administrativen Maßnahmen, die nach dem Regierungsantritt der Nationalkonservativen im Herbst 2015 auf dem Feld der Geschichtspolitik durchgesetzt wurden, gehörte die völlige Umgestaltung der Dauerausstellung im Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk, das 2017 offiziell eröffnet wurde. Das ursprüngliche Konzept hatte sich auf Vorstellungen gestützt, die noch aus der Zeit der Vorgängerregierung stammten. Jarosław Kaczyński hatte dieses 2017 mit den drastischen Worten verworfen, dass das bisherige Museumskonzept ein persönliches Geschenk Donald Tusks an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sei. Damit drückte Kaczyński aus, dass das Museum in seiner bisherigen Ausrichtung erstens zu sehr den Vorstellungen deutscher Erinnerungspolitik folge, zweitens das Martyrium und der Heldenmut der Polen in der Darstellung an den Rand gedrängt sei. Um die gewünschte Neuausrichtung durchzusetzen, wurde das Museum des Zweiten Weltkriegs mit dem nur der Papierform nach bestehenden Museum der Westerplatte zusammengelegt, ein neuer, ganz den Vorstellungen der Regierenden entsprechender Museumsdirektor berufen und schließlich die unliebsame, wiewohl fertige und international vielfach gelobte ursprüngliche Ausstellung wieder aus der Welt geschaffen. Im Mittelpunkt stehen nunmehr einfach zu verstehende Botschaften, die aus Sicht der regierenden Nationalkonservativen an Klarheit nichts mehr zu wünschen übriglassen: «Wir retten die Juden», «Wir wurden verraten», «Der Papst gibt die Hoffnung auf den Sieg», «Die Kommunisten verlieren», «Wir siegen», «Wir betteln nicht um Freiheit, wir kämpfen für sie». Schaut der Betrachter näher in die Ausstellung, so fallen schnell Ähnlichkeiten mit den inhaltlichen Konzepten in den Okkupationsmuseen in Tallinn, Riga und Vilnius auf. Ausgangspunkt sind die zwei Feinde – Hitlerdeutschland und die Sowjetunion, der hartnäckige Kampf und Widerstand für die eigene nationale Freiheit führt schließlich, wenn auch spät zum Sieg – also zur Unabhängigkeit und Souveränität.  

Wie in den baltischen Republiken die Waldpartisanen, die nach 1945 in der Hoffnung auf einen bald zwischen den bisherigen Alliierten ausbrechenden dritten Weltkrieg militärisch oder zumindest bewaffnet gegen die sowjetischen Behörden weiterkämpften, und die heute in größten nationalen Ehren gehalten werden, so nun auch in Polen, denn mit den sogenannten ausgestoßenen Soldaten sind die wahren Kämpfer für Polens Freiheit und nationale Souveränität ausgemacht worden. Gemeint sind jene meistens versprengten Kampfverbände, die im Herbst 1944 die Kapitulation der aufständischen Armia Krajowa gegenüber den deutschen Besatzern nicht anerkannt, die Waffen nicht niedergelegt hatten, also nicht in die deutsche Kriegsgefangenschaft gegangen waren, sondern weitergekämpft hatten – immer weniger allerdings gegen die sich nun nach Westen zurückziehenden deutschen Besatzer, so dass die in blutigen Kämpfen nach Berlin ziehende Rote Armee bald zur alleinigen Zielscheibe wurde. Und hinter der Frontlinie wurde ein langjähriger, blutiger Kampf bürgerkriegsähnlichen Zuschnitts gegen die neuen polnischen Behörden angezettelt, die gestützt auf den Vormarsch der Roten Armee neue staatliche Verhältnisse durchzusetzten hatten.

Die «ausgestoßenen Soldaten» stehen nun in der Hierarchie des ehrenden Gedenkens ganz herausgehoben an oberster Stelle, sie – so will es die nationalkonservative Legende – hätten tapfer und selbstlos für das gekämpft, was in Polen unter Freiheit und Souveränität verstanden wird und was sich nun unter der nationalkonservativen Regierung nun endlich durchzusetze. Jarosław Kaczyński spricht regelmäßig von Polen als einer Insel der Freiheit, was ja absurderweise besagt, dass ringsum gar keine Freiheit bestehe oder das die Freiheit dort doch einen ganz anderen Zuschnitt trage als auf der gemeinten Insel. Und heruntergestoßen vom Sockel wurden die Soldaten der polnischen Volksarmee, die an der Seite der Roten Armee das Land von den deutschen Besatzern befreit hatten und bis Berlin gekommen waren. Die Nationalkonservativen lassen nichts unversucht, um die öffentliche Erinnerung an die einst mit der Roten Armee kämpfenden polnischen Armee zu beseitigen. In Warschau wurde deshalb auf Anordnung des von der Regierung eingesetzten Wojewoden eine nach der Volksarmee benannte Allee kurzerhand umbenannt in die Lech-Kaczyński-Allee, was aber durch erfolgreichen Einspruch der Stadt Warschau, in der die demokratische Opposition regiert, in diesem Jahr wieder zurückgenommen werden konnte. Der im April 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Staatspräident Lech Kaczyński war der Zwillingsbruder des heute wohl mächtigsten Mannes in Polen, der sich – und dies ist überaus verständlich – nun in besonderer Weise der Pflege des öffentlichen Andenkens desselbigen verpflichtet fühlt. 

Die Legende des Warschauer Aufstands

Eine Umfrage darüber, was als wichtigstes Ereignis im Zweiten Weltkrieg angesehen wird, hätte in Polen einen klaren Sieger – den Warschauer Aufstand, der vor 75 Jahren am 1. August 1944 begonnen hatte. Weil die Rote Armee im Sommer 1944 bereits in die Reichweite des rechten Weichselufers herangekommen war, beschlossen die in London sitzende Exilregierung Polens und die Führung der Armia Krajowa, des militärischen Arms der Londoner Exilregierung im besetzten Polen, noch vor dem Eintreffen der sowjetischen Verbände die polnische Hauptstadt mit eigenen Mitteln von den deutschen Besatzern zu befreien, weil erstens mit dem Effekt der Überraschung gerechnet und zweitens davon ausgegangen wurde, dass die deutschen Besatzer sich wegen der anrückenden Roten Armee über kurz oder lang ohnehin aus Warschau nach Westen zurückziehen würden. Die aus eigener Kraft befreite Hauptstadt sollte die Position Polens bei den Verhandlungen um die europäische Nachkriegsordnung entscheidend verbessern, denn natürlich war die Exilregierung bestens darüber informiert, dass die künftige Ostgrenze Polens nach den sowjetischen Vorstellungen verlaufen solle, also gegenüber dem Verlauf vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs deutlich um mehrere Hundert Kilometer nach Westen verschoben werde. Die Westmächte – die USA und Großbritannien – hatten gegenüber der Sowjetunion immerhin durchsetzen können, dass über die Zusammensetzung einer polnischen Nachkriegsregierung nach der Befreiung Warschaus von der deutschen Besatzung ernsthaft mit allen beteiligten Seiten verhandelt werden müsse. Doch an dem in Moskau diktierten Verlauf der künftigen polnisch-sowjetischen Grenze wollten und konnten sie nichts mehr ändern. Insofern war der Aufstand in Warschau, der sich militärisch ausschließlich gegen die deutschen Besatzer richtete, politisch eine höchst umstrittene Angelegenheit, da sie die bereits gefällte bzw. abzusehende Beschlusslage bei den gemeinsam gegen Hitlerdeutschland kämpfenden Großmächten infrage zu stellen suchte. Außerdem knüpfte das Londoner Exillager faktisch seine gesamte politische Existenz in riskanter Weise an den Erfolg des Aufstands in Warschau. Auch deshalb hofften diejenigen in London und Warschau, die den Ausbruch des Aufstands politisch verantworteten, auf die militärische Unterstützung der Westalliierten – zum Beispiel durch Luftangriffe auf die Positionen der Deutschen –, weil der treueste Verbündete im Osten des okkupierten Europas nicht im Stich gelassen werde.

Historiker weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass das Schicksal des Aufstands wegen des ungleichen militärischen Kräfteverhältnisses von Anfang an besiegelt war. Die deutschen Besatzer ergriffen nicht wie erwartet die Flucht aus Warschau, sondern sie führten rasch weitere Truppenteile in die Stadt, um den Aufstand mit allen vorhandenen Mitteln niederzuschlagen. Von der Brutalität des deutschen Vorgehens zeugen die erschütternden Zahlen: In den Kampfwochen von August bis Oktober 1944 starben in Warschau über 180.000 Zivilisten, die unmittelbar gar nicht an den Kampfhandlungen beteiligt waren. Über 20.000 Aufständische fielen in den Kämpfen, darunter vor allem junge Menschen, die oft genug noch Kinder waren. Die deutschen Besatzer machten während und nach der Niederschlagung des Aufstands aus dem Stadtzentrum Warschaus einen einzigen Trümmerhaufen. Die Überlebenden Bewohner wurden aus der Stadt in Lager deportiert. Wenigstens konnte die Armia Krajowa bei den Kapitulationsverhandlungen erreichen, dass die sich ergebenden Aufständischen wie eine reguläre Armeeeinheit behandelt wurde, also anschließend in deutsche Kriegsgefangenschaft kamen und nicht exekutiert wurden.

Lange Zeit hielt im Gedenken an den Warschauer Aufstand die Formel, dass der Opfermut der Aufständischen und überhaupt das tapfere Warschau im aussichtslosen Kampf gegen einen militärisch haushoch überlegenden brutalen Gegner eine ganz besondere Seite der jüngeren polnischen Geschichte geschrieben haben. Demgegenüber standen allerdings die katastrophale politische Fehleinschätzung im Londoner Exillager und der mit keinem einzigen Argument zu entschuldigende Leichtsinn der militärischen Aufstandsführer in Warschau, die von Anfang an um die hoffnungslose militärtechnische Unterlegenheit der Aufständischen wussten. Und schließlich weisen Militärhistoriker regelmäßig darauf hin, dass der Aufstand trotz seines gewaltigen Blutzolls am Kriegsverlauf im Sinne der Befreiung des okkupierten Europas nichts geändert habe. Im Ergebnis aber verlor das Londoner Exillager seinen militärischen Arm im besetzten Polen, womit auch für Stalin der Weg endgültig frei war, um im befreiten Polen die eigenen politischen Ziele durchzusetzen.

Im nationalkonservativ geführten Diskurs wird jedoch eine andere, eine geschlossene Erzählung verfolgt. Der gescheiterte Aufstand wird nachträglich zu einem Sieg stilisiert, der allerdings erst jetzt sich abzeichne. Ohne die moralische Haltung der Aufständischen und des aufständischen Warschaus hätte es keinen erfolgreichen Kampf gegen die «kommunistische» Zeit gegeben, wäre es nicht zum Aufstand von «Solidarność» gekommen, wäre Polen und wären andere Länder des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs nicht Mitglieder der NATO und der EU geworden. Es sei damals ein Aufstand gegen die sich abzeichnenden Konsequenzen der Realpolitik gewesen, ein Aufstand dafür, die Freiheit zu eigenen Bedingungen zu erkämpfen, um nicht auf Knien vor anderen und aussichtslos dafür betteln zu müssen. Wenn Jarosław Kaczyński die jetzige Regierungszeit der Nationalkonservativen als eine Zeit begreift und sie nachdrücklich so bezeichnet, in der Polen endlich von den Knien auferstehe, dann ist der Rückgriff auf den Warschauer Aufstand offensichtlich. Es sollte insofern nicht verwundern, wenn junge Menschen im Warschauer Stadtbild mit T-Shirts zu beobachten sind, auf denen verkündet wird, dass es besser sei, aufrecht zu sterben als unter fremder Fuchtel zu leben. Die Saat, die mit dem nationalkonservativen Konzept der nationalen Identität und der nationalen Souveränität gestreut wurde, scheint im besonderen Maße bei jungen Menschen aufzugehen.

Auch deshalb sei daran erinnert, dass noch im Jahre 1995 in Polen ein enorm wichtiger Wahlkampf mit der Losung «Wir wählen die Zukunft» entschieden wurde, weil vor allem bei jüngeren Wählern der avisierte baldige EU-Beitritt als eine Art Leuchtturm fungierte, der einen festen Kurs vorgab. Aleksander Kwaśniewski, der die frischgebackenen Sozialdemokraten aus der untergegangenen Staatspartei PVAP erfolgreich in die neuen Zeiten geführt hatte, konnte mit dem Zukunftsversprechen in der Stichwahl überraschend den Amtsinhaber und die «Solidarność»-Legende Lech Wałęsa schlagen. In Kwaśniewskis Konzept wurde Geschichte als ein Gegenstand verstanden, der in den Händen der Historikerzunft gut aufgehoben ist, doch für die Entwicklung des Landes störend werden kann, sobald Politiker ihn für die eigenen Ziele auszunutzen suchen und gleich einem Steinbruch nach Belieben ausbeuten wollen. Zwanzig Jahre später scheint in Polen derjenige als Politiker blamiert, der freiwillig auf das scharfe Schwert von Geschichtspolitik verzichtet.

«Pädagogok der Schande»

Regelmäßig stößt sich Jarosław Kaczyński an der «Pädagogik der Schande», wie er es nennt. Die müsse in Polen beseitigt werden, sei sie doch eine verwerfliche und schädliche Folge des weitgreifenden Siegeszugs der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik. Denn alle Welt spreche, wenn es um den Massenmord an den Juden Europas im Zweiten Weltkrieg geht, immer von den Nazis als Tätern, von den Nationalsozialisten, doch wenn es um diejenigen gehe, die in den okkupierten Ländern ebenfalls an den Verbrechen beteiligt gewesen waren, sind es auf einmal die Litauer, Letten, Ukrainer oder eben auch die Polen. Diese Schieflage, so kündigte Jarosław Kaczyński gleich nach dem Regierungsantritt der Nationalkonservativen im Spätherbst 2015 an, müsse nun beseitigt werden, indem polnische Geschichts- und Erinnerungspolitik künftig in die Offensive gehe. Als «Pädagogik der Schande» versteht er mithin alle Versuche, mit denen die Rolle der deutschen Schuld im besetzten Polen gemildert, indem die Frage von Schuld einzelner Polen übertrieben gesteigert werde. Kategorisch müsse sich dagegen verwahrt werden, wenn im Zusammenhang mit der Zeit der deutschen Besatzung der polnischen Seite Schuld an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugeschoben werde. Einer der Gründe für die Tatsache, dass Polen jetzt um seinen guten Ruf ringen müsse, sei nach Auffassung Kaczyńskis übrigens die bislang fehlende Geschichtspolitik (sic!), womit er natürlich eine konsequent polnische Geschichtspolitik meint, denn diejenige der Vorgängerregierung habe – wie bereits gesehen – leichtfertig den Deutschen in die Hände gespielt.

Nicht zu bestreiten sei, das geben Polens Nationalkonservative zu, dass es schreckliche Verbrechen von Polen an jüdischen Nachbarn gegeben habe. Doch das dürfe nicht dazu führen, solche Einzelfälle hochzuspielen, zu verabsolutieren und die polnische Seite insgesamt an den Pranger zu stellen. Als lehrreiches Beispiel führt Kaczyński die Diskussion um Jedwabne an, denn spätestens seit dem Erscheinen von «Nachbarn. Der Mord an den Juden in Jedwabne» im Jahre 2000 läuten im nationalkonservativen Lager die Alarmglocken. Der Historiker Jan Tomasz Gross habe, so Kaczyński, behauptet, in Jedwabne hätte sich die gesamte polnische Einwohnerschaft Anfang Juli 1941 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen versammelt, um die gesamte jüdische Einwohnerschaft zu ermorden. Die Wahrheit sei aber, dass sich vereinzelte, verkommene Polen zusammengerottet hätten, um mehrere Hundert jüdische Nachbarn umzubringen, außerdem unter den Bedingungen der deutschen Besatzung. Dieses Verbrechen dürfe also nicht einseitig der polnischen Seite in die Schuhe geschoben werden. Bereits während der damals nach Erscheinen des Buches in Polen heftig ausgetragenen Debatte um Jedwabne hatte der starke Mann der Nationalkonservativen unmissverständlich gewarnt: «Sie versuchen, uns in Verruf zu bringen, uns zu Helfershelfern Hitlers zu machen.»

Polens hartnäckige Streiter für den untadeligen Ruf des Landes haben auch einen aktuellen Fall, der ihnen – ähnlich wie das Jedwabne-Buch von Gross – keine Ruhe gibt. Im letzten Jahr  wurde im Warschauer Museum zur Geschichte der polnischen Juden (Polin) das bemerkenswerte Buch mit dem Titel «Dalej jest noc» [Die Nacht geht weiter] präsentiert, das sich auf Untersuchungen zum Verhältnis zwischen christlichen Polen und verfolgten Juden im okkupierten Polen konzentriert. Das deutsche Schreckensregime bleibt vergleichsweise zurückgesetzt im Hintergrund, in den Vordergrund der Untersuchung rücken hingegen die Beziehungen zwischen den beiden großen Bevölkerungsgruppen Polens. Dokumentiert werden die Zustände und Vorgänge in acht ausgewählten Amtskreisen im besetzten Polen, in denen im Frühjahr 1942 vor Beginn der Vernichtungsaktion «Reinhardt» insgesamt 140.000 jüdische Menschen wohnten, die in den einzelnen Amtskreisen fünf bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Herausgeber Barbara Engelking und Jan Grabowski setzen in der Einleitung das Buch ausdrücklich in die Tradition der mit Jan T. Gross begonnen Diskussion, in der nun aber die Frage nach der Haltung christlicher Polen zu den verfolgten Juden nach der Beendigung der Aktion «Reinhardt» stärker in das Rampenlicht wissenschaftlicher Untersuchung gerückt werden solle. In den Jahren 1942 bis 1945, so die Herausgeber, habe die Einstellung der polnischen Umgebung im enormen Maße darüber entschieden, ob Juden, die der unmittelbaren Vernichtungsaktion zunächst entkommen konnten, auch den Krieg überlebt haben.

Auf scharfe Reaktionen aus dem Regierungslager brauchte nicht lange gewartet werden. Ein hochrangiger IPN-Vertreter schlug gleich vor, zu untersuchen, ob das Buch überhaupt wissenschaftlichen Kriterien genüge. Die beiden Herausgeber gehören seit vielen Jahren einer weltweit angesehenen Forschungsgemeinschaft an, die in Polen als Zentrum für die Erforschung des Holocaust mit regelmäßigen Publikationen auf neueste Forschungsergebnisse aufmerksam macht. Seit 2005 sind bislang dreizehn umfängliche Bände zum Judenmord in Europa und insbesondere im besetzten Polen herausgekommen. Die Buchpräsentation im Polin-Museum im Frühjahr 2018 hat das Kultusministerium, das zugleich für das nationale Erbe zuständig ist, kurzerhand zum Anlass genommen, dieser Forschungsgemeinschaft künftig keine staatlichen Gelder mehr zur Verfügung zu stellen. Wenn die Wissenschaftler der Forschungsgemeinschaft nun außerhalb Polens nach neuen Möglichkeiten suchen, um die fortfallenden Gelder zu ersetzen, werden sie in den nationalkonservativen Zeitungen sofort wie Nestbeschmutzer und Verräter an der nationalen Sache behandelt.

Holger Politt: Emanuel Ringelblum: Tagebuchschreiber im Ghetto (Teil 3 von 3 Texten zum 75. Jahrestag der Befreiung)

6. Mai 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen.

Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz


Bevor der Krieg ausbrach, nahm Emanuel Ringelblum (Jahrgang 1900) als einer von vier Delegierten der linkszionistischen Arbeiterpartei aus Polen am 21. Zionistenkongress teil, der vom 16. bis 26. August 1939 in Genf abgehalten wurde. Dem Tagebuch vertraute er bezüglich der Reiseroute durch das von Hitler geschaffene Großdeutschland an: „Angst vor der Durchreise durch [dieses] Land. Gutes Benehmen. Im Zug traf ich nicht auf das leiseste Anzeichen von Kriegsstimmung oder Feindschaft uns gegenüber. Im Speisewagen ganz gutes Essen.“ Die Rückreise erfolgte über Italien, Jugoslawien bis nach Budapest, von dort anschließend mit einem Nachtzug unzählige Stunden zurück nach Warschau. In Polen, so notierte er, bereits Mobilisierung, ein tüchtiges Durcheinander, Menschenmengen auf den Bahnhöfen. Die Rückkehr in die bedrohte Heimat sei „vom bürgerlichen Pflichtgefühl diktiert“. Ringelblum lehnte in der Nacht vom 6. zum 7. September 1939 die Flucht aus Warschau, wozu ihm Freunde und Familienangehörige rieten, entschieden ab. Der Weg der immer unmenschlicher werdenden Unterdrückung bis ins Ghetto hinein war vorgezeichnet, Ringelblum stellte sich in den aufopferungsvollen Dienst der jüdischen Gemeinde: „Moralisches Problem mit dem Tragen und Nichtragen der Armbinde: Solidarität, der Feind bestraft das Tragen schmutziger Armbinden. Die jüdische Gemeinde hat Armbinden mit einem Aufdruck herstellen lassen. Der Regen hat sie schnell heruntergewaschen, andere zum Anheften, sogar seidene. Klassenunterschiede treten auch hier auf […].“ Im Februar 1940 diese Notiz: „Große Befürchtung vor dem Herausgehen auf die Straße. Eine schreckliche Stimmung. Die Menschen gehen die Straße entlang und schauen sich nach allen Seiten um.“

Nach der Schließung des Ghettos am 16. November 1940 wird Ringelblum mit den regelmäßigen und ausführlicheren Tagebuchnotizen zum Chronisten des Alltagsgeschehens, die sich nachträglich an vielen Stellen so lesen, als sei es lediglich der sachliche Bericht einer okkupierten Stadt, die den Krieg zu überdauern sucht, in der allerdings plötzlich über 500.000 Menschen ihr Leben auf engstem Raum einzurichten hatten. „Am 16. Mai [1941] verbreitete sich in Windeseile die Nachricht durch die Stadt, mitgeteilt um 11.30 Uhr durch den Radiolautsprecher, dass Göring seinen erlittenen Verletzungen erlegen sei. Angeblich habe die halbe Stadt das gehört, doch konnte niemand ausgemacht werden, der es mit eigenen Ohren gehört hätte.“

Im Frühjahr 1941 wird die Typhusgefahr bedrohlich, offiziell bezeichneten die deutschen Okkupationsbehörden das Ghetto ohnehin als „Seuchensperrbezirk“: Im Juni 1941 notierte Ringelblum: „Der Typhus breitet sich schrecklich aus. Deswegen wurden 280 Mietshäuser geschlossen. Das führte zu beträchtlichen Schwierigkeiten. Geschlossen wurden in erster Linie viele Büros, wenn sie dann allerdings in ein neues Lokal gezogen waren, brach auch dort der Typhus aus.“ Insgesamt zählte das Ghetto damals über 1.400 Häuser. In den Notizen häuften sich die Meldungen über die Krankenstände: „[…] Mitte August [1941] gibt es 6.000 bis 7.000 Kranke in den Wohnungen, ungefähr 900 sind in den Spitälern. […] Es sterben ungefähr 8 Prozent der Kranken.“

Im November 1941 dann die Entwarnung: „Die Typhus-Epidemie hat etwas nachgelassen. Im Winter also, wo die Epidemien sich gewöhnlich stärker ausbreiten, hat sie an Kraft verloren. Die Epidemie ist um ungefähr 40 Prozent zurückgegangen. Das habe ich in den Apotheken erfahren, auch von Ärzten sowie in den Spitälern hörte ich davon. Eigentlich ist es eine irrationale Erscheinung, denn es gibt keine sinnvolle Erklärung. Einzig die, dass in den Sammelstellen [für die Flüchtlinge], die die hauptsächliche Quelle für die Epidemie sind, die Mehrheit diese Krankheit bereits durchgemacht hat. Andere meinen, dass im Winter die armen Menschen dicker angezogen seien, so dass die Läuse keinen leichten Zugang mehr hätten. So oder so – die Epidemie ist schwächer geworden.“

Eine Beschreibung aus dem Mai 1942 lässt ahnen, wie bedrohlich die Lebenssituation selbst ohne wütende Epidemie war: „Auf dem jüdischen Friedhof gibt es einen großen deutschen Anschlag, wonach Deutschen nicht erlaubt sei, diesen zu betreten. Der Grund ist angeblich sanitärer, faktisch aber anderer Natur. Die Deutschen kamen in Scharen zum Friedhof, um den berüchtigten Schuppen zu besichtigen, in dem jeden Tag die Leichen und Skelette gestapelt werden, die auf den Straßen aufgesammelt werden, oder die Körper der Ärmsten, der aus Hunger gestorbenen, die alle ins Massengrab kommen. Während dieser Besuche diskutieren die Deutschen selbst über die jüdische Frage. Es gibt welche, die sich an den Opfern der Hitlerschen Vernichtungspolitik erfreuen, aber es gibt auch andere, die darüber empört sind und es ‚deutsche Kultur‛ nennen. Es zeigt sich, dass solche Ausflüge einen fatalen Eindruck bei den Besuchern hinterlassen haben, so dass es verboten wurde.“

Seit Ende Juni 1941 gab es indes eine neue Situation in der Kriegskonstellation, denn der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion bedeutete, dass die Sowjetunion nun der Allianz der Hitlergegner zugehörte: „Die Bevölkerung ist voller Vertrauen und Glauben an den Sieg der Sowjets, wie überhaupt der Alliierten.“ Ende Juli 1941 wurde folgende Einschätzung zu Papier gebracht: „Die jüdische Bevölkerung schaut sehnsüchtig auf die neuen Zeiten und auf einen Sieg der Sowjets. Nur einige wenige reiche Juden gibt es, die gute Geschäfte mit den Deutschen machen, für die eine neue Ordnung schlicht die Katastrophe wäre. Sie hoffen, dass Leningrad, Moskau und Kiew fallen werden, dass die Deutschen siegen werden oder aber derartig geschwächt daraus hervorgehen werden, dass die Engländer den Kontinent beherrschen werden. So denkt auch jener Teil der polnischen Gesellschaft, der sich keinen Sieg der Russen wünscht.“

Korrespondierend zum blutigen und für die Deutschen zunehmend ungünstiger werdenden Kriegsverlauf in den Tiefen Russlands liest sich diese Notiz vom 12. Mai 1942: „Ins Ghetto in Warschau wurden 200.000 Uniformen gefallener Soldaten gebracht. Die Uniformen sind schrecklich verlaust und blutverschmiert. Anhand der Zahl von 200.000 allein in Warschau kann man sich leicht vorstellen, wieviel Hundertausende, Millionen in diesem Winter im Osten gefallen sind. In den Uniformtaschen vieler Gefallener befinden sich die von sowjetischen Flugzeugen abgeworfenen Aufrufe, die so eine Art Legitimation darstellen, von den sowjetischen Behörden als Freund angesehen zu werden. Obwohl strenge Bestrafung für diejenigen vorgesehen war, die solche Aufrufe einsteckten, gab es sie auch in den Uniformtaschen vieler Offiziere.“ Die verlausten, verdreckten, blutverschmierten Uniformen sollten in den Werkhöfen im Ghetto wieder fronttauglich gemacht werden.

Am 18. April 1942 kam es zu einer Massenerschießung unter freiem Himmel, Ringelblum ordnete das blutige Geschehen wenige Zeit später so ein: „Die Stimmung auf der Straße hat sich nach dem Massaker vom 18. April (die Erschießung von 52 Personen auf der Straße) etwas gebessert. Die Menschen haben sich beruhigt und sind etwas optimistischer geworden. Sie fangen wieder an daran zu glauben, dass der Krieg in wenigen Monaten vorüber sein wird und sie wieder zum normalen Leben zurückkehren könnten. […] Es gibt ernsthafte Stimmen, wonach die Situation in Deutschland der von 1918 ähnele. […] Den Zeitraum bis zu dem denkwürdigen Freitag, den 18. April, könnte man als legale Konspiration bezeichnen. Alle politischen Parteien waren eigentlich halblegal tätig, Publikationen vervielfachten sich wie die Pilze nach dem Regen. Wenn du eine Zeitung einmal im Monat herausgeben kannst, dann gebe ich meine zweimal im Monat raus, wenn du aber zweimal im Monat herauskommen solltest, dann wird meine einmal in der Woche erscheinen, bis es soweit kam, dass das Bulletin einer bestimmten Gruppe sogar zweimal wöchentlich erschien. Der Vertrieb war ganz offen. Die Zeitungen und Mitteilungen wurden in den Büros, Werkstätten usw. gelesen. Die Versammlungen der verschiedenen Parteien wurden offen durchgeführt, in öffentlichen Lokalen. Es wurden sogar öffentlich größere Veranstaltungen angeordnet. Auf einer solchen Versammlung sprach der Redner vor 150 Leuten im Publikum vom aktiven Widerstand. Ich war zugegen auf einer Veranstaltung mit 500 jungen Leuten einer bestimmten Gruppierung. Bekannt war, wer die Verfasser der Beiträge in den Zeitungen sind. Es wurde sogar schon beinahe wieder damit begonnen, gegeneinander zu polemisieren, und es schien bald wie in den guten, alten Zeiten aus der Vorkriegszeit zu sein. Allen schien es so, als sei alles erlaubt. Sogar polnische illegale Veröffentlichungen […] wurden im Ghetto gedruckt und verbreitet. Den Leuten schien es, als ginge es den Deutschen wenig an, was die Juden denken und machen. Man meinte, es ginge ihnen lediglich um die Verfolgung der jüdischen Waren, des Geldverkehrs, der Valuta – doch die geistigen Dinge gingen sie nichts an. Das erwies sich als Trugschluss. Der blutige Freitag, an dem Verleger und diejenigen erschossen wurden, die illegaler Publikationen vertrieben, hat bewiesen, dass die politischen Aspekte der Juden ihnen nicht egal sind, vor allem, wenn sie mit der polnischen Seite zusammenhängen. Die Leute der Gemeinde versuchten den blutigen Freitag auszunutzen, um das soziale-politische Leben im Ghetto völlig zu ersticken. Es wurde vor allem das Gerücht verbreitet, der ‚Freitag‛ sei eine Folge der illegalen Publikationen gewesen und dass deshalb gewarnt werden müsse, denn wenn sich das wiederhole, wird so verfahren wie mit Lublin, d. h. die jüdische Bevölkerung ausgesiedelt. Doch drängt sich die Frage auf, weshalb es ähnliche Massaker, die in gleicher Weise durchgeführt wurden (Erschießung draußen im Freien), auch in Radom und anderen Städten gegeben hat, gab es dort doch keine illegalen Publikationen. Ich hörte die Ansicht, dass das Freitagsgemetzel das Ghetto rehabilitiert habe. Zum ersten Male sei Blut der Juden für politische Tätigkeit geflossen. Die Folgen des blutigen Freitags sind schwer genug. Die illegale Presse erscheint nicht mehr. Die politische Tätigkeit wurde bedeutend schwerer. Kleiner geworden ist das Interesse an Veranstaltungen. Einen schweren Schlag erlitt die Stimmung der Leute.“

Aus Lublin waren in der zweiten Märzhälfte 1942 etwa 18.000 Menschen aus dem Ghetto in der Altstadt ins Vernichtungslager Bełżec deportiert worden. In Warschau wurden am 22. Juli 1942 die Transporte nach Treblinka angeordnet, die bis zum 21. September 1942 anhielten und über 300.000 Menschen in den Gastod brachten. Die Notizen vom Leben im jüdischen Warschau hörten auf, denen aus einer okkupierten Stadt zu ähneln, die sehnsüchtig auf das Kriegsende wartet.

* * * * * * * * * * *

Emanuel Ringelblum hatte im Ghetto mit mehreren Mitstreitern ein Untergrundarchiv aufgebaut und geleitet. Ein Großteil des Bestandes wurde Anfang August 1942 vergraben, konnte nach Kriegsende gefunden und gerettet werden. Ein weiterer Teil des Archivs wurde im Februar 1943 gesichert und später gefunden. Ein dritter Teil, der kurz vor dem Ausbruch des Aufstands im Ghetto am 19. April 1943 gesichert wurde, gilt als verschollen. Das geborgene Archiv, eines der ergreifendsten Erinnerungsstücke der Weltgeschichte, befindet sich im Jüdischen Historischen Institut in Warschau.

Emanuel Ringelblum, dessen Frau und deren gemeinsamer Sohn blieben von der dreimonatigen Deportationswelle nach Treblinka verschont, sie blieben bis Februar 1943 im Ghetto. Zu der Zeit fand sich außerhalb der Ghettomauern am Stadtrand Warschaus ein Unterschlupf, ein einigermaßen sicher erscheinendes Versteck. Ringelblum kehrte allerdings mehrfach ins Ghetto zurück, ein letztes Mal am 18. April 1943, kurz bevor der Aufstand ausbrach, weil die restlichen Bestände des Archivs gesichert werden sollten. Er wurde von den Deutschen erwischt, kam in ein Lager im berüchtigten Trawniki, wo er im August 1943 mit einer gezielten Aktion befreit werden konnte. Er kehrte zu Frau und Kind ins Versteck nach Warschau zurück, in dem die ganze Zeit über mehrere Dutzend Menschen auszuharren suchten. Ringelblum schrieb in dieser Zeit u. a. an einer Arbeit über die polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg, die erhalten geblieben ist. Am 7. März 1944 wurde nach Verrat das Versteck von den Okkupanten ausgehoben, die Insassen und diejenigen, die sie versteckt hielten, wurden kurz darauf erschossen. Die Hinrichtung erfolgte mitten im einstigen Ghetto, von dem kaum noch ein Stein auf dem anderen übriggeblieben war.


Die angeführten Zitate im Text stammen aus Band 29 des vom Jüdischen Historischen Institut Warschau herausgegebenen Ringelblum-Archivs.

Holger Politt: Gedanken zum 8. Mai aus Warschau (Teil 2 von 3 Texten zum 75. Jahrestag der Befreiung)

Gedenken für die Ghettoaufständischen [Foto: Holger Politt]

27. April 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Der 8. Mai 1945 steht in Polen schon länger im Schatten anderer denkwürdiger Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Gleich der Beginn des Weltenbrands im September 1939 prägte die Wahrnehmung in Polen in einer Weise, wie sie ansonsten kein anderes Land auch nur annähernd erlebt hat. Am 1. September überfiel die deutsche Wehrmacht das Land vom Westen, Süden und Norden, machte mit der Überlegenheit der Waffen schnellen Geländegewinn, so dass bereits frühzeitig feststand, wer als militärischer Sieger aus dem ungleichen Kampf hervorgehen wird. Noch bevor Warschau fiel, rückte am 17. September von Osten her die Rote Armee in das Land und annektierte vor allem jene Gebiete, in denen Ukrainer und Belorussen siedelten und vielerorts die Mehrheitsbevölkerung stellten.

Die später nachgeschobene Begründung, der Einmarsch habe der Befreiung dieser beiden Bevölkerungsgruppen gegolten, war von Anfang an schief, was auch der unfassbare Mord an den auf dem annektierten polnischen Territorium festgesetzten Reserveoffizieren der polnischen Armee im Frühjahr 1940 beweist. Den Ärzten, Juristen, Lehrern, Ingenieuren – die die Ermordeten in ihren zivilen Berufen meistens waren – konnte aus Moskauer Sicht vielleicht allerlei vorgeworfen werden, nicht aber, dass sie hochgefährliche Militärspezialisten seien und Belorussen und Ukrainern unterdrückt hätten. Der Mord in Katyn ist zudem ein Beweis, dass Moskau mit einem Überfall Deutschlands zu dieser Zeit gar nicht rechnete.

Kein anderes Land im sowjetischen Machtbereich hatte nach 1945 eine solch zugespitzte schizophrene Situation auszuhalten, denn jeder in Polen wusste natürlich, wer die Täter von Katyn gewesen waren, auch wenn entsprechend den geltenden Regelungen im gegenseitigen Umgang in Warschau bis in die allerletzten Jahre der VR Polen nichts mitgeteilt werden konnte, was der offiziellen Haltung der Sowjetunion widersprach. Die Lösung bestand oftmals darin, die Sache mit Schweigen zu übergehen, um wenigstens nichts Falsches behaupten zu müssen, d. h., die Deutschen als Täter zu bezeichnen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist außerdem, dass die polnischen Armeestreitkräfte, die an der Seite der Roten Armee Ende April 1945 bis nach Berlin vorgedrungen waren, anschließend zu einer wichtigen Machtsäule in der VR Polen aufstiegen, also in besonderer Weise dem schändlichen politischen Spiel um Katyn ausgesetzt waren und mitmachten. Nach 1989/90 wurde dafür kein geringer Preis bezahlt.

Eine Umfrage im Lande, was aus heutiger Sicht das wichtigste Ereignis im Zweiten Weltkrieg gewesen sei, hätte eine klare Antwort: der am 1. August 1944 ausgebrochene Warschauer Aufstand. Das militärische Ziel der in London sitzenden polnischen Exilregierung war es, mit einem siegreichen Aufstand die Hauptstadt vor dem Eintreffen der Roten Armee aus eigenen Kräften von deutscher Okkupation zu befreien, um diesen Faustpfand im politischen Poker der Großmächte in der Anti-Hitler-Koalition um die zukünftige Gestaltung Europas einzubringen. Obwohl die britische Regierung ihren engen Verbündeten rechtzeitig und eindringlich vor einem solch riskanten Schritt gewarnt hatte, wurde der selbstmörderische Waffengang leichtfertig losgetreten. Er kostete auf polnischer Seite knapp 200.000 Menschenleben, darunter wohl 180.000 Opfer unter der Warschauer Zivilbevölkerung, die nicht unmittelbar an den Waffenhandlungen beteiligt gewesen waren. Die schlimme militärische Niederlage, die für Warschau einer Katastrophe glich, war gleichbedeutend mit der politischen Niederlage des Londoner Exillagers, das für die Entscheidungen über die Nachkriegssituation dramatisch an Bedeutungen verlor.

Zu einem massiven Vorwurf hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die Meinung verfestigt, Stalin habe die Rote Armee mit Absicht am rechten Weichselufer zurückgehalten, um den politischen Gegner auf polnischer Seite verbluten zu lassen – er habe also, zugespitzt formuliert, das kämpfende Warschau absichtsvoll ans deutsche Messer geliefert. Dass der Aufstand militärisch zwar gegen die deutschen Besatzer gerichtet war, politisch aber auf die aus dem Osten anrückende Rote Armee zielte, wird von niemandem bestritten. Was immer die Beweggründe des Sowjetführers bezüglich des aufständischen Warschaus gewesen sein mögen, klar ist allemal, dass kein Aufstandsführer in den eigenen Plänen mit einem Eingreifen der Roten Armee gerechnet hatte. Kalkuliert wurde allein mit der Drohkulisse der heranrückenden roten Panzerwalze, die für die Deutschen ein klares Signal gewesen sein sollte, sich im Sommer 1944 von der Weichsel und aus der polnischen Hauptstadt zurückzuziehen. Eine schicksalsschwere Fehlrechnung, wie sich schnell herausstellen sollte.

Insgeheim rechnete man in London in den polnischen Exilkreisen mit einer Wiederholung der Situation an der Ostfront ausgangs des Ersten Weltkriegs. Beide kämpfende Seiten verloren damals, Russland auf der einen, Deutschland und Österreich-Ungarn auf der anderen Seite. So wie damals die unabhängige Republik Polen auf den Trümmern der Wiener Dreiteilung von 1815 errichtet werden konnte, so sollte nun diese Republik, die im September 1939 durch die Schläge der deutschen und sowjetischen Truppen zerschlagen worden war, wieder auferstehen. Dieser Analogieschluss hatte auf der Seite des Londoner Exil-Lagers immer eine größere Rolle gespielt, es war indes eine Überzeugung, die niemand sonst auf westlicher Seite teilte.

Während der Aufstand in Warschau 1944 auf tragische Weise gegen die aus dem Osten heranrückende Rote Armee gerichtet war, hätten die Aufständischen im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943 das letzte Hemd gegeben für die Nachricht, die Sowjetarmee rücke bereits auf das gegenüberliegende Ufer der Weichsel zu. Zu jener Zeit hatten die Rotarmisten mit einem unbeschreiblichen Blutzoll an der fernen Wolga in Stalingrad soeben die entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg herbeigeführt. Vielen im Ghetto war spätestens jetzt klar, dass der verhasste Feind besiegt werden, den Krieg nicht mehr gewinnen wird. Der Aufstand, der am 19. April ausbrach, als die deutschen Besatzer mit militärischer Gewalt das übriggebliebene Ghetto zu räumen versuchten, in dem von einst 500.000 noch schätzungsweise 60.000 Menschen hausten, war ein Verzweiflungsakt und von vornherein ohne jede Aussicht auf Erfolg. Mit diesem heroischen Akt vor allem junger Frauen und Männer schrieb sich das jüdische Warschau unauslöschlich ein in das mit blutigen Lettern geschriebene Buch der Befreiung Europas vom Faschismus.

Wenn heutige nationalkonservative Geschichtspolitik in Polen den Menschen einzureden versucht, das Land sei 1945 nicht aus größter Bedrohung und Gefahr befreit worden, es habe damals lediglich die eine Diktatur mit die andere gewechselt, so mündet es vollkommen verstiegen in einem Geschichtsbild, in dem leicht behauptet werden kann, für das Land sei der Weltkrieg nicht 1945, sondern erst 1989 zu Ende gegangen. Als Aleksander Kwaśniewski als amtierendes Staatsoberhaupt Polens am 9. Mai 2005 an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland in Moskau teilnahm, galt das im nationalkonservativen Lager nur noch als vollendeter Verrat. In der Delegation des Staatspräsidenten befand sich General Wojciech Jaruzelski, der als junger Offizier der polnischen Volksarmee an der Seite der Roten Armee am Ende des großen Krieges im Mai 1945 bis an die Elbe gelangt war.

Dieser Beitrag erschien zuerst in „Das Blättchen“, Nr. 9/2020.

Holger Politt: Gerettet, bevor die Befreiung kam. Zur Ausstellung "Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern" (Teil 1 von 3 Texten zum 75. Jahrestag der Befreiung)

6. April 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstandene Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ wurde mit großem Publikumserfolg erstmals im Frühjahr 2015 im Warschauer Museum zur Geschichte der polnischen Juden (Polin) gezeigt. Die Ausstellung war einer der ersten temporären Ausstellungen in dem Museum, das im Herbst 2014 seinen regulären Betrieb aufgenommen hatte. Danach zog die Ausstellung ihre Besucher an verschiedenen Orten in Polen, später auch in vielen anderen Ländern in ihren Bann. Im Januar und Februar 2016 wurden die Bildtafeln erstmals auch in Deutschland präsentiert, als sie im Gebäude der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu sehen waren. Seitdem gab es allein in Deutschland zehn weitere Ausstellungen (in Potsdam, zweimal in Bad Freienwalde, in Senftenberg, Fürth, Nürnberg, Augsburg, Halle/Saale, Magdeburg und Halberstadt).

Die Idee zur Ausstellung hatte Joanna Sobolewska-Pyz gehabt, die langjährige Vorsitzende des Vereins „Kinder des Holocaust“ in Polen, die davon überzeugt gewesen war, dass sich das engagierte öffentliche Wirken und die politische Bildungsarbeit des Vereins auch auf diese Weise unterstützen lasse. Mit künstlerischer Meisterschaft wurde verdichtend dem Schicksal von fünfzehn Überlebenden der Judenvernichtung im okkupierten Polen nachgegangen, die allesamt als kleine Kinder aus den Ghettos gerettet worden waren. Die jüdischen Eltern hatten in der lebensbedrohenden Situation, um das junge Leben der kleinen Kinder vor der drohenden Vernichtung zu bewahren, schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich von ihren Töchtern und Söhnen zu trennen. Rettung bedeutete in den meisten der dargestellten Fälle, wenn die kleinen Kinder in einer nichtjüdischen polnischen Familie unterkommen waren. Vieles von den abenteuerlichen Wegen der Rettung ist in verschiedener Form dargelegt worden, so vor allem in Büchern der Erinnerung, aber die Ausstellungsbilder ziehen den Betrachter auf eine ganz besondere Weise an, denn sie lassen nur noch einen kleinen Spalt vom einstigen Geschehen durchscheinen – und doch erzählen sie auf kleinstem Raum die ergreifende Geschichte.

Drei Ausstellungsorte in Polen seien hier gesondert erwähnt, weil sie heute in exemplarischer Weise den Massenmord an den Juden im besetzten Polen symbolisieren. In Treblinka wurde die Ausstellung ab Frühsommer 2018 erstmals zweisprachig gezeigt – polnisch und englisch. Bei der feierlichen Eröffnung im Museum der Gedenkstätte zeigte sich Joanna Sobolewska-Pyz besonders berührt, weil viele der Kinder des Holocaust ihre jüdischen Eltern wahrscheinlich hier verloren haben.

In Chełmno nad Nerem (Kulmhof), wo die Gedenkstätte an das erste Vernichtungslager der deutschen Besatzer überhaupt erinnert, stand im Sommer 2019 vor allem das Schicksal der Juden aus Łódź im Vordergrund. Und in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim (Ausschwitz) zeigte sich in den Sommermonaten 2018, welchen wertvollen Beitrag die Ausstellung für die deutsch-polnische Verständigung und insbesondere derjenigen in jüngeren Generationen leistet.

Wenn Joanna Sobolewska-Pyz vor ihr Publikum tritt, vergisst sie nicht auf die Medaille für die Gerechten unter den Völkern zu verweisen, die ihren polnischen Eltern posthum aus Yad Vashem verliehen wurde. Mit Stolz verweist sie dann darauf, dass die Sobolewskis sie zur Tochter nahmen, als die Entscheidung lebensbedrohlich war. Schnell wird in den anschließenden Diskussionen der Gesprächsfaden gesponnen, besonders berührend sind zumeist die Fragen von jungen Menschen, die noch zur Schule gehen oder studieren. In Cottbus wurde Joanna Sobolewska-Pyz im Januar 2020 im Niedersorbischen Gymnasium von einem Schüler gefragt, ob sie denn all die Menschen, die auf den Ausstellungstafeln zu sehen sind, persönlich gekannt habe. Nachdem die Befragte das bejaht hatte, entwickelte sich ein hinreißendes Gespräch, in dem diejenigen Menschen kurz porträtiert werden konnten, die einst ihre Bereitschaft erklärt hatten, ihre gleichermaßen tragische wie wunderbare Lebensgeschichte auf diese Weise in die weite Welt zu tragen.

Befragt, was bei den vielen Begegnungen am Rande der Ausstellung ihr am meisten in Erinnerung geblieben ist, entgegnet Joanna Sobolewska-Pyz ohne lange zu zögern: Nürnberg. Sie meint den Besuch im Memorium Nürnberger Prozesse im Januar 2019. Als kleines siebenjähriges Mädchen habe sie auf den Straßen Warschaus aus den Lautsprechern den Fortgang des Geschehens im fernen Nürnberg verfolgt, zusammen mit den polnischen Eltern. Jetzt selbst dort gewesen zu sein und stellvertretend für die Kinder des Holocaust aus Polen, gebe ihr ein tiefes Gefühl voller Genugtuung.

Ein besonderer Dank für die hilfreiche Unterstützung bei den Ausstellungen in Deutschland geht an die RLS-Landesstiftungen in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bayern.

Krzysztof Pilawski & Holger Politt: Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie (Interview mit den Herausgebern)

21. April 2020

Interview mit den Herausgebern Krzysztof Pilawski und Holger Politt


Das Buch "Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie" sollte ursprünglich auf der Leipziger Buchmesse 2020 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Anlass sollte zudem genutzt werden, um an den frevelhaften Akt vom 13. März 2018 zu erinnern, bei dem auf Anweisung von Regierungsseite in einer Nacht- und Nebelaktion die Gedenktafel für Rosa Luxemburg in ihrer Geburtsstadt Zamość entfernt worden war. Der verstörende Vorgang wurde zum Ausgangspunkt für eine Spurensuche, mit der die beiden Herausgeber, Krzysztof Pilawski und Holger Politt, der Familiengeschichte Rosa Luxemburgs nachgingen.

Im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber stand also nicht Rosa Luxemburg selbst, sondern eine jüdische Familie in Polen, die allerdings nur deshalb ins Licht der Öffentlichkeit zurückgeholt wurde, weil Rosa Luxemburg überhaupt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zählt. Das Buch besteht ungefähr zu gleichen Teilen aus Dokumenten, Fotographien und Abbildungen, die mit einem begleitenden Text der Herausgeber die ersten schärferen Umrisse einer Familienbiographie ergeben.

Da das Buch derzeit nicht in öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt werden kann, wurden die beiden Herausgeber gebeten, an dieser Stelle zu einigen Fragen Stellung zu beziehen.

Zamość oder Warschau? Was sollte als Rosa Luxemburgs Heimatstadt bezeichnet werden?

Krzysztof Pilawski: Wohl Warschau. Rosa Luxemburg wird Zamość später nur vom Hören-Sagen kennen, nicht aus eigenem bewussten Erleben. Am ehesten wird wohl die ältere Schwester Anna mit Rosa Luxemburg in Warschau und später in Berlin oder Kolberg bei einem Kuraufenthalt über den Geburtsort der beiden gesprochen haben. In den bislang veröffentlichten Briefen Rosa Luxemburgs gibt es allerdings keine Stelle, die darauf hinweisen würde. Auch Mikołaj, der älteste der Geschwister von Rosa Luxemburg, könnte bei Gelegenheit gemeinsamer Treffen immer mal wieder auf Zamość zu sprechen gekommen sein. Familiengeschichtlich war Zamość eine wichtige Lebensetappe, die allerdings abgeschlossen war, als Rosa Luxemburg heranwuchs. Rosa Luxemburgs Großvater väterlicherseits, Abraham, war 1829 nach Zamość gezogen, nachdem er dort die Tochter eines bekannten ortsansässigen Händlers geheiratet hatte. Er blieb aber immer eng mit Warschau verbunden. Auch die Zukunft seiner Söhne verband Abraham in erster Linie immer mit dem aufstrebenden Warschau, nicht mit Zamość. Dass Rosa Luxemburgs Vater Edward, Abrahams ältester Sohn, dann am längsten in Zamość zurückblieb und ausharrte, ist einem Zufall zuzuschreiben, auf dessen Umstände im Buch näher eingegangen wird. Als Edward schließlich Ende Oktober 1872 nach einer Perspektive für die siebenköpfige Familie in Warschau zu suchen begann, wurde sein Hotelaufenthalt sogar in einem führenden Warschauer Blatt vermeldet. Auf einen kurzen Nenner gebracht vielleicht so: Zamość die Geburtsstadt und Warschau ganz sicher die Heimatstadt, auch wenn sie später in Berlin zu Hause sein wird.  

Holger Politt: Für Warschau spricht zudem die enorme Bedeutung, die die Revolution 1905/06 für das politische und überhaupt Lebenswerk Rosa Luxemburgs besessen hatte. Warschau war nach Ausbruch der Revolution im Januar 1905 von Anfang an eines der Zentren der revolutionären Auseinandersetzungen im Zarenreich, vor allem aber derjenigen Ereignisse, die als Arbeiterrevolution gelten können. Nie wieder erlebte Rosa Luxemburg einen solchen politischen Höhepunkt, hatte sie doch seit 1893 den Ausbruch einer politischen Revolution im Russischen Reich für unabdingbar gehalten. Außerdem war sie überzeugt, dass der jahrhundertealte Fluch der Zarenherrschaft unter den Schlägen der Arbeiterrevolution endgültig bezwungen werden kann. Den Sieg vor Augen, hielt es Rosa Luxemburg trotz aller eindringlicher Warnungen nicht mehr in Berlin aus, sie fuhr Ende 1905 auf illegalen Wegen ins revolutionsschwangere Warschau, um an Ort und Stelle dabei zu sein, wenn dem Zarensystem ein letzter, entscheidender Stoß versetzt wird. Im März 1906 wurde sie festgenommen, die Zarenpolizei war durch Verrat auf die entscheidende Spur gekommen. Nach der Freilassung aus dem Zarengefängnis schrieb sie hier in Warschau im Juli 1906 die trotzigen, stolzen Worte: „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark“.

Was erinnert im heutigen Warschau noch an Rosa Luxemburg?

Krzysztof Pilawski: In erster Linie würde ich das Gefängnisgebäude für politische Gefangene im X. Pavillon der Zitadelle nennen, in dem Rosa Luxemburg 1906 ein Vierteljahr lang inhaftiert war. Der einstige Gefängnistrakt ist heute als Erinnerungsstätte ein gutgemachtes Museum. Zum Museumsbestand gehört, nebenbei gesagt, eine größere Skulptur Rosa Luxemburgs, auch ist die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ an einer Wand verewigt.

Aber zurück zur Frage: Vor allem sollte der Jüdische Friedhof erwähnt werden, der als Teil des Warschauer Ghettos die Schrecken der Okkupation wie durch ein Wunder überstanden hat. An den Gräbern der beiden Eltern dürfte Rosa Luxemburg in den letzten Dezembertagen 1905 oder dann 1906 gestanden haben, solange sie in Warschau auf freiem Fuß war. Überhaupt ist der Jüdische Friedhof ein überaus geeigneter Ort, um den Geheimnissen der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen.

Holger Politt: Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, denn natürlich ist das Warschau von damals unwiederbringlich entschwunden. Dennoch kann der Interessierte vielfach Orte aufsuchen, die für den heranwachsenden Menschen größere Bedeutung gehabt hatten. Eine Aufzählung wäre übrigens gar nicht so kurz, auch wenn natürlich jene Gebäude, die Rosa Luxemburg und ihre Familienangehörigen ihr zu Hause genannt hatten, die Stürme der Zeit in den allermeisten Fällen nicht überstanden haben. Aber den Sächsischen Park, der für Rosa Luxemburgs Kindheit und Jugendzeit eine große Rolle gespielt hat, gibt es immer noch. So auch den Botanische Garten am Łazienki-Park. Oder, um ein Beispiel ganz anderer Art zu nehmen, der 40 Meter hohe Wasserturm, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Filteranlagen für die moderne Wasserversorgung der immer größer werdenden Stadt. Die noch heute bestehende und betriebene Anlage wurde eingeweiht, als Rosa Luxemburg die höheren Schulklassen besuchte. Und schließlich sei auch an das Herbarium erinnert, Rosa Luxemburgs wunderbare und gut erhaltene Pflanzensammlung, „Rosas Garten“ gewissermaßen, als welchen ein Rezensent die vorbildlich geführten Blätter in den kleinen, blauen Schulheften einst so überaus treffend bezeichnet hat. Das Original liegt in Warschau im Staatlichen Archiv Neue Akten (AAN) und ist ein besonderes Schmuckstück der Erinnerung an Rosa Luxemburg, auch deshalb, weil fest davon auszugehen ist, dass sie bereits in Warschau in ihrer Schuljugend in solch akribischen Dingen sich eifrig erprobt hatte.

Wird im Buch „Spurensuche“ nicht zugleich deutlich, wie abgeschottet Rosa Luxemburg vom alltäglichen Leben des Industrieproletariats aufgewachsen war?

Krzysztof Pilawski: Feliks Tych, der namhafte polnische Historiker der Arbeiterbewegung, hatte einmal umgekehrt geschlossen: Die spätere schnelle und vor allem konsequente Hinwendung zum Arbeiterkampf, zum Sozialismus sei nur erklärlich, wenn bereits frühere Weichenstellungen in der Jugendzeit vorausgesetzt werden. Die führte Tych auf eine angeborene Empfindsamkeit in sozialen Fragen, auf ein ausgeprägtes Gespür für soziale Ungerechtigkeiten und zu überwindende politische Machtverhältnisse zurück. Tych meinte, der Verweis auf das Familienmilieu, auf die offene geistige Atmosphäre daheim, gebe dafür alleine keine ausreichende Erklärung. Rosa Luxemburg kannte von der Familienseite her den jungen, stürmischen, vorwärtsdrängenden und höchst widersprüchlichen Industriekapitalismus in ihrer Heimat, in dem Arbeiterkämpfe bereits eine zunehmende und nicht mehr zu übersehende Rolle spielten. Das Elternhaus selbst gehörte nicht zu der wohlhabenden, den materiellen Alltagssorgen enthobenen Schicht, aber in der nächsten Familie sah das schon ganz anders aus. Rosa Luxemburg nahm zu Hause aber auf jeden Fall einen aufrichtigen Freiheitsimpuls auf, der an die besten Traditionen des aufgeklärten Bürgertums erinnerte, in denen Chancengleichheit und Bildung eine herausragende Rolle spielten. Sie bezog in ihr Freiheitsverständnis, als dieses reifte und sich entwickelte, den fortschrittlichen Arbeiterkampf, den modernen Sozialismus nicht nur ein, sondern diese Elemente des sozialen und politischen Kampfes wurden ihr zur Voraussetzung für den Freiheitskampf schlechthin.

Hat die „Spurensuche“ die Sicht der Herausgeber auf Rosa Luxemburg beeinflusst?

Krzysztof Pilawski: Ich bin natürlich stärker von der polnischen Sichtweise auf Werk und Leben Rosa Luxemburgs geprägt gewesen. Da wird gerne alles der polnischen Frage untergeordnet, also auf den allerdings auch in Polen kaum bekannten polnischen Teil verwiesen. Die heutige herausragende Weltgeltung aber wird voreilig und unüberlegt allein der deutschen Seite zugeordnet. Es erscheint dann mitunter so, als sei sie aus Polen nicht nur weggegangen, sondern habe sich schließlich auch selbst „ausgebürgert“. Die Geschichte der engen und engsten Familienangehörigen Rosa Luxemburgs wirft aber ein ganz anderes Licht, zeichnet ein anderes Gewicht in dieser gar nicht so einfachen Frage. Plötzlich wird ja deutlich, mit wieviel Fasern Rosa Luxemburg an diese Familie gebunden war, ein Faden, der niemals ganz gerissen ist. Und wieviel Voraussetzungen für die beeindruckende Karriere als brillanter Kopf im europäischen Marxismus wurden hier mitgegeben! Die im Buch nachgespürten Teile der Familiengeschichte selbst sind ja zugleich ein scharfes Spiegelbild der polnischen Geschichte bis hinein in den Zweiten Weltkrieg. Eine Rosa Luxemburg ohne angemessene Berücksichtigung des polnischen bzw. des jüdischen Kontextes in Polen ist eigentlich gar nicht vorstellbar!

Holger Politt: Ich kannte den polnischen Teil Rosa Luxemburgs, der immerhin fast ein Drittel des Gesamtwerkes ausmacht, bereits ganz gut. Nachweislich hat sie mindestens bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs polnische Texte geschrieben. Das ist eine Menge Holz. Aber mir ist plötzlich etwas aufgefallen, das stärker mit dieser Familiengeschichte zusammenhängt, die ja an allen Ecken und Kanten unweigerlich festgezurrt war an der polnischen Frage und an der jüdischen Frage in Polen. Rosa Luxemburg hatte in ihren Schriften den Stellenwert der nationalen und Nationalitätenfragen heruntergedrückt oder später in einem anderen Kontext aufzuheben versucht. Daraus konnte schnell der Vorwurf gestrickt werden, der immer in die Richtung zielte, dass sie sich in diesen Fragen eben geirrt habe. Vielleicht wird aber umgekehrt ein Schuh draus: Wer im ausgehenden 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts über die beiden Fragen nachdachte, stocherte im Grunde im dicken Nebel, fuhr, wie es jetzt in einem ganz anderen Zusammenhang oftmals bildlich heißt, nur „auf Sicht“. Rosa Luxemburg hatte in ihrem Werk bis zur Revolution 1905/06 diesbezüglich ein festgefügtes Navigationssystem, das ihr erlaubte – um in dem Bild zu bleiben – vergleichsweise schnell unterwegs zu sein, auch wenn sie höchst vorsichtig blieb und um die Untiefen wusste. Die schicksalsschwere Niederlage der Revolution erwies sich als Klippe, an dem dieses Navigationssystem in die Brüche ging. In ihrer großartigen Arbeit „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908/09) versuchte sie mit aller zur Verfügung stehenden Meisterschaft, dasselbe wieder schnell flottzukriegen, um auch in diesen Fragen wieder Fahrt aufnehmen zu können. Den Ausgang kennen wir.


Zu den Herausgebern:

  • Krzysztof Pilawski arbeitet als Publizist und Journalist in Warschau, befasst sich insbesondere mit der offiziösen Geschichtspolitik im heutigen Polen und mit Fragen des Zusammenlebens mit den östlichen Nachbarländern Ukraine, Belarus und Russland.
  • Holger Politt ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau sowie Übersetzer und Herausgeber des polnischen Werks von Rosa Luxemburg.

Zum Buch auf der Verlagsseite...

Holger Politt: Mit dem Kopf durch die Wand. Eine kurze Bemerkung zur aktuellen politischen Situation in Polen

7. April 2020

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


Seit über vier Wochen hat die weltweite Corona-Krise nun auch Polen fest im Griff. Doch während anderswo sich die innenpolitische Hitze merklich verflüchtigt hat, fliegen in Polen immer noch die Fetzen. Der Stein des Anstoßes sind die Wahlen für das Amt des Staatspräsidenten, die für den 10. Mai 2020 angesetzt sind. Das direkt gewählte Staatsoberhaupt hat in Polen Befugnisse, die mitunter über bloße Repräsentationszwecke hinausgehen. So kann er Gesetzesvorhaben blockieren, die dann wieder zurückkehren ins Parlament und dort mit einer Dreifünftel-Mehrheit verabschiedet werden müssen.

Insofern sagte Jarosław Kaczyński noch am Wahlabend des 13. Oktober 2019, nachdem die absolute Mehrheit der Parlamentssitze im Sejm für die Nationalkonservativen ein weiteres Mal feststand, dass eine Niederlage bei den im Frühjahr anstehenden Präsidentschaftswahlen für seine politische Formation einer Katastrophe gleichkäme.

Mit Andrzej Dudas überraschendem Sieg im Frühjahr 2015 begann der seither anhaltende Siegeszug der von Kaczyński geführten Nationalkonservativen. Frühzeitig stand fest, dass das Kaczyński-Lager im Frühjahr 2020 auf den Amtsinhaber setzt, auch wenn das Verhältnis zwischen Duda und Kaczyński längst nicht spannungsfrei war, allerdings ist es Duda zu keiner Zeit gelungen, sich aus dem Schatten seines einstigen Gönners zu befreien und sich im hohen Amt von ihm zu emanzipieren. Zwischenzeitliche Überlegungen Kaczyńskis, für die nationalkonservativen Wähler doch einen anderen Kandidaten ins Rennen zu schicken, waren jedenfalls vom Tisch, als auch in Polen das neue Corona-Virus den Takt für das öffentliche Leben unbarmherzig vorzugeben begann.

Seit dem 12. März ging es Schlag auf Schlag. Erst wurden Hochschulen, Schulen und Kindereinrichtungen geschlossen, dann folgten die Grenzschließungen sowie das Kappen aller internationalen Luftverbindungen, schließlich wurde die Versammlungsfreiheit immer mehr heruntergedrückt, so dass nun zur Osterzeit im Grunde genommen nur noch der jeweils einzelnen Person gestattet ist, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten – und auch dann nur noch unter strengen Auflagen. Ausnahmen von diesem scharfen Grundsatz sind genau festgelegt, können sich allerdings hin und wieder ändern. Trotz dieser einschneidenden Maßnahmen spricht das Regierungslager übergreifend von einer «neuen Normalität», vermeidet jede Anspielung auf den Ausnahmezustand, denn der würde zwingend eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen vom 10. Mai erforderlich machen. Eine solche Verschiebung nun fordert die versammelte Opposition, auch ist laut Umfragen inzwischen eine Mehrheit zwischen 70 und 80 Prozent der Meinung, dass es angesichts der dramatischer werdenden Situation besser wäre, die Wahlen entsprechend zu verschieben.

Als wichtigsten Grund für die geforderte Verschiebung des Wahltermins führt die Opposition die gesundheitliche Gefährdung des Wahlvolks an, die sich dramatisch steigern würde, wenn es am Wahlsonntag in den bislang geschlossenen Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen zur Wahlurne gerufen würde. Auch kann sie auf den Ministerpräsidenten und den Gesundheitsminister verweisen, die nicht müde werden, die Bevölkerung darauf einzustellen, dass der Höhepunkt der Epidemie in Polen frühestens im Mai zu erwarten sei.

Kaczyński und seine Getreuen verfielen nun auf einen feinen Trick, den sie sich jüngst am Beispiel der Kommunalwahlen in Bayern abgeschaut hatten. Das Wahlvolk soll nun nicht stehenden Fußes an die Wahlurne kommen, sondern per Briefwahl seine Stimme kundtun. Die aber ist in Polen bislang unüblich, weshalb es umfangreichere Eingriffe in das Wahlrecht bedarf, was also den entschlossenen Politiker auf den Plan rief. Anstelle der Staatlichen Wahlkommission soll nun die polnische Post das Wahl-Kind schaukeln, die 30 Millionen Stimmberechtigten mit den nötigen Unterlagen versorgen und die abgegebenen Stimmen wieder rechtzeitig einholen. Um das Manöver zusätzlich abzusichern, wurde sogar der Postchef abgelöst, auf dessen Stuhl sitzt nun der bisherige stellvertretende Verteidigungsminister. Und alles soll wegen der außergewöhnlichen Situation außerdem unter strenger Kontrolle von Regierungsbehörden erfolgen!

Im Augenblick herrscht der Eindruck, als ob die Entscheidung über den Wahltermin im nationalkonservativen Lager ausschließlich mit Kaczyńskis Haltung steht und fällt. Schon sind erste Risse im einst festgefügten Regierungslager nicht zu übersehen, mit Jarosław Gowin, bislang Hochschul- und Wissenschaftsminister sowie stellvertretender Ministerpräsident, ist bereits ein wichtiger Mann von Bord gegangen, der den konservativen Flügel ohne den sonst üblichen nationalen Eifer zu prägen suchte. Der hatte sich mit Kaczyński überworfen, weil er einen Wahltermin am 10. Mai für illusorisch und ausgeschlossen hielt. Und auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kann eins und eins zusammenzählen, denn wenn er vor dem Parlament den Höhepunkt der Epidemie weit nach vorne in den Mai, womöglich sogar Juni schiebt, dürfte ihm klar sein, dass allgemeine, unmittelbare, gleiche, geheime und freie Wahlen in diesen Wochen nicht durchzuführen sind.

Vielleicht rächt sich für die Nationalkonservativen jetzt ein politischer Zuschnitt, der in der innenpolitischen Auseinandersetzung unter normalen Bedingungen durchaus Vorteile gebracht hatte. Getrennt waren Entscheidungsmacht, Einfluss und die Verantwortung. An Absolutismus erinnert Kaczyńskis Gebaren, der nominell lediglich Parteivorsitzender und normaler Parlamentsabgeordneter ist. Dennoch lässt er den Ministerpräsidenten unter geschicktem Vorwand regelmäßig zu Besprechungen in seinen Parteisitz einbestellen – ein Vorgang, wie er in Mitgliedsländern der Europäischen Union einzigartig sein dürfte. Und diejenigen, die letztlich vor dem Souverän und laut Verfassung die Verantwortung zu tragen haben, hatten bislang deutlich eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse, beschnitten in erster Linie durch Kaczyńskis unheimliche Machtfülle. Jetzt in der Corona-Krise, die das Land vor eine völlig unerwartete Situation stellt, offenbart dieser Zuschnitt mit einem Mal seine ganze Schwäche – die Verantwortung vor dem Souverän und die eigentliche Entscheidungsmacht klaffen weit auseinander.

Holger Politt: Der Opposition in Polen bleibt nicht viel Zeit (Zweiter Teil der Wahlnachlese zu den Parlamentswahlen in Polen)

3. November 2019

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


  1. Die sich auf die geltende Verfassung stützende Opposition hat das Rennen um die Abgeordnetensitze im Sejm verloren. Damit wurde das Hauptziel im langen und schwierigen Wahljahr 2019 verfehlt. Die Fortsetzung der nationalkonservativen Alleinregierung ist jetzt aus Oppositionssicht eine schwere Hypothek für die im Frühjahr nächsten Jahres anstehende Direktwahl des Staatspräsidenten, denn Amtsinhaber Andrzej Duda kann bereits jetzt mit vollen Segeln in die Schlacht ziehen – und tut es auch. Für die Nationalkonservativen wird es dabei um viel gehen, denn die erreichten 235 Sitze im 460-köpfigen Sejm reichen nicht, um ein eventuelles Präsidentenveto gegen die eigenen Gesetzespakete im Sejm zu überstimmen. Für die Verfassungsopposition aber geht es um sehr viel mehr, weil erst ein Sieg über Duda jene Tendenz tatsächlich zum Durchbruch bringen würde, die sich in den über 900.000 Stimmen versteckt, die zusammengerechnet über dem Stimmenergebnis der Nationalkonservativen liegen. Anders gesagt: Die am 13. Oktober 2019 erreichte Stimmenmehrheit ist ein wichtiges Trostpflaster, zweifellos, aber die Sitzverteilung im Sejm ist eindeutig und könnte erst mit einem Sieg der Opposition bei den kommenden Präsidentschaftswahlen wieder ausgeglichen werden. Nicht von ungefähr sprechen führende Nationalkonservative davon, dass Dudas Niederlage im kommenden Jahr eine Katastrophe wäre.
  2. Das die Verfassung im Rücken habende Oppositionslager ist in drei größere Blöcke geteilt, aber wenigstens übersichtlich aufgereiht: In der Mitte die Bürgerlich-Liberalen, rechts davon konservative Agrarier und links die sich neu zusammenfindenden Linkskräfte. Diese Übersichtlichkeit könnte helfen, zermürbenden und in der gegebenen komplizierten Situation einfach unnötigen Kleinkrieg untereinander zu vermeiden, denn zur Taktik der Nationalkonservativen wird gehören, so viel Spaltpilze wie möglich in die Oppositionsreihen einzuschleusen.
  3. Auf der konservativen Flanke der Opposition erfüllen die moderaten Agrarier der PSL, die mit ihrer offenen Liste 30 Abgeordnetensitze im Sejm erreicht haben, eine ausnehmend wichtige Rolle, weil sie wenigstens den Fuß kräftig in der Tür zu stehen haben, die sich zu jenen ungewöhnlich wichtigen ländlichen Räumen öffnet, in denen die Nationalkonservativen nahezu zwei Drittel der Stimmen holen konnten. Die Agrarier sind betont konservativer in die Parlamentswahlen gezogen als zuletzt gezeigt, reagierten damit auf ihre Weise auf die teils brutalen Schläge der Regierenden und einflussreicher Kreise der katholischen Kirche gegen die sogenannte LGBT-Ideologie. Die immer wieder betonte Distanz zur großstädtischen Liberalität hat Wählerstimmen zurückgebracht, die zuletzt bei den Wahlen zum Europäischen Parlament verloren schienen. Außerdem nutzte den PSL-Agrariern ein Versprechen, das Jarosław Kaczyński im Eifer des Wahlkampfs ohne tiefergehende Konsultation leichtfertig gegeben hatte: Der gesetzliche Brutto-Mindestlohn, der derzeit bei umgerechnet etwa 500 Euro liegt, solle bereits 2020 auf 750 Euro steigen und bis 2023 die Höhe von umgerechnet 1.000 Euro erreicht haben. Das, so haben Wahlforscher herausbekommen, habe den Nationalkonservativen Stimmen im Spektrum kleiner und kleinerer Wirtschaftsunternehmungen gekostet, die zu den Agrariern gewandert sind. Der Wirtschaftsflügel der Nationalkonservativen hat nach den Wahlen diese Äußerung Kaczyńskis als einen der Gründe ausgemacht, dass widererwarten kein (noch) besseres Stimmenergebnis erreicht worden sei.
  4. Der Kern des Oppositionsspektrums ist liberal und großstädtisch geprägt, auch wenn das bürgerliche Bündnis KO selbst breiter ausgerichtet ist und von gemäßigt-konservativen bis zu linksliberalen Positionen reicht. Die Entwicklungen in den letzten vier Jahren, vor allem aber die öffentlichen Proteste gegen die Regierungspolitik haben den großstädtischen und liberalen Zuschnitt der nun mit 134 Abgeordnetensitzen im Sejm vertretenden größten Oppositionskraft gestärkt. Unter anderem sind mit der der KO auch drei grüne Abgeordnete und die bekannte linksgerichtete Frauenrechtlerin Barbara Nowacka in den Sejm eingezogen. Diese verblieben in dem bürgerlich geführten Bündnis, nachdem sich zu Sommeranfang die Idee eines breiter aufgestellten einheitlichen Oppositionsbündnisses zerschlagen hatte. Die KO ist nun jene wichtige Kraft, die einen politischen Bogen schließen kann von den Konservativen der PSL-Agrarier bis hinüber zu den Linkskräften. Allerdings wird sie den schwierigen Spagat aushalten müssen, denn der Oppositionsbogen hält stärker und einfacher zusammen, wenn es unmittelbar gegen das nationalkonservative Regierungslager geht, besitzt allerdings eine viel schwächere Bindungskraft, sobald die eigenen Visionen über die Zukunft des Landes in den drei unterschiedlichen und selbst meistens wieder heterogen zusammengesetzten Oppositionsrichtungen in den Vordergrund gerückt werden. Im Kleinen muss sich bereits das KO-Bündnis daran üben, denn ohne ein verständliches positives Programm wird im Frühjahr nächsten Jahres Amtsinhaber Duda nicht zu schlagen sein. Die Möglichkeiten, vor allem Stimmen gegen die Regierungspraktiken der Nationalkonservativen zu mobilisieren, sind mit dem ablaufenden Wahljahr ausgereizt, sie müssen nun viel stärker ergänzt werden durch neue Wege, um wieder Bewegung in die verhärteten Fronten zu bringen. Darauf zu achten, dass dabei das wertvolle Oppositionsbündnis zwischen konservativen Agrariern, den Bürgerlich-Liberalen und den linksgerichteten Kräften grundsätzlich intakt bleibt, gehört zu den wichtigen, indes auch schwierigen Aufgaben des bürgerlich-liberalen Lagers.
  5. Mit dem Einzug der Linkskräfte in den Sejm, die jetzt 49 Abgeordnetensitze besetzen, bekommen die Bürgerlich-Liberalen ein wichtiges Korrektiv zur Seite, das tatsächlich genutzt werden kann, um auf Oppositionsseite in den Auseinandersetzungen mit dem Regierungslager zusätzliches Profil zu gewinnen. Für die Linkskräfte heißt das aber zunächst, dass sie mit dem – zumindest – liberalen Fahrwasser rechnen müssen, das in der deutlich stärkeren bürgerlichen Mitte vorgegeben wird. Die schwere Kunst, ein eigenes, unverwechselbares Profil zu gewinnen, ohne vom gemeinsamen Kurs des Oppositionslagers gegen die nationalkonservative Regierungsmehrheit abzuweichen, muss erst erlernt werden.
  6. Die Linksdemokraten der SLD hätten auch den linksliberalen Flügel eines breiteren bürgerlich-liberalen Blocks bilden können, doch es ist anders gekommen. Schnell wurden sie – die Bereitschaft der anderen beiden linksgerichteten Gruppierungen vorausgesetzt – zum unentbehrlichen Rückgrat für das linksgerichtete Wahlbündnis. Die Verwurzelung in den lokalen und regionalen Selbstverwaltungsstrukturen war vergleichsweise die beste, was im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielte, denn unersetzbar war die in vielen Jahren gewachsene, immer noch handlungsfähige landesweite Struktur. Und das Zusammengehen mit den anderen beiden linksgerichteten Strukturen wurde bei den weitgehend in die Tage gekommenen Linksdemokraten als erhoffte Möglichkeit begrüßt, sich überhaupt an Haupt und Gliedern erneuern zu können.
  7. Der erst in diesem Jahr ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückte Gruppierung Wiosna (poln. Frühling), die mehr Bewegung ist als Partei, blies nach den wohl erfolgreichen Wahlen zum Europäischen Parlament ein immer stärkerer Gegenwind ins Gesicht, so dass sich Wiosna-Gründer Robert Biedroń und andere Spitzenleute frühzeitig für ein breiteres Linksbündnis entschieden, um nicht an der Fünf-Prozent-Hürde hängen zu bleiben. Während im Wahlkampf für das EU-Parlament noch vermieden wurde, sich als links zu bezeichnen, denn man rechnete noch, als breiter Träger des Fortschritts neben den Nationalkonservativen und den Bürgerlich-Liberalen zur unumstrittenen dritten Kraft aufsteigen zu können, kehrte man im Sommer gewissermaßen zu den Wurzeln zurück, denn viele der namhafteren Wiosna-Leute hatten das politische Handwerkszeug einst in linksgerichteten Strukturen gelernt. Nach dem Einzug in den Sejm gibt es erste Überlegungen, zusammen mit den Linksdemokraten eine neue linksgerichtete Partei zu gründen, die am ehesten als sozialdemokratisch-alternativ bezeichnet werden könnte, die aber auch Razem offenstehen soll.
  8. Die Razem-Partei (poln. Zusammen) hatte von vornherein kaum eine Chance, als einzelne Gruppierung in den Sejm einzuziehen, denn das schwache Ergebnis zu den EU-Wahlen im Mai war zu ernüchtern. Insofern gab es keine großen Spielräume, um alleine gegen ein breiteres Linksbündnis anzutreten. Die einstigen tiefsitzenden Vorbehalte gegen die Linksdemokraten der SLD wurden beiseitegeschoben, Parteigründer Adrian Zandberg stieg schnell zu einem der wichtigsten Zugpferde in der linken Wahlkoalition auf. Die sechs Mandate im Sejm, die für Razem-Aktive schließlich heraussprangen, entsprechen prozentual in etwa den Umfragewerten vor dem Beitritt zum Linksbündnis, wobei man alleine weit von der Fünf-Prozent-Hürde entfernt geblieben wäre, so dass die sechs Mandate nun ein erheblicher Gewinn sind. Noch steht die Entscheidung aus, wie sich Razem künftig im Parlament ausrichten wird. Auch die Frage einer möglichen neuen Linkspartei, für die sich führende Leute bei den Linksdemokraten und bei Wiosna bereits aussprechen, ist noch offen.
  9. Zwei wichtige oder zentrale Aufgaben stehen vor den im Parlament vertretenen Linkskräfte Polens: Einmal muss schnell ein sozialpolitisches Profil entwickelt werden, das bislang im gesamten Oppositionsbogen zu den Schwachpunkten gehört. Der anhaltende Erfolg der Nationalkonservativen gründet sich zu einem erheblichen Teil auf die sozialpolitischen Maßnahmen und Versprechungen, die im Rahmen des strikt auf die polnischen Familien zugeschnittenen Programms eine wichtige, wenn auch instrumentalisierte Rolle spielen. Die lange Zeit übliche Oppositionskritik, dass sich solche Maßnahmen haushaltspolitisch nicht „rechnen“ würden, hat sich schnell blamiert, so dass nun vor allem die Linkskräfte gefordert sind, eine passende Antwort zu finden. Von den drei linken Gruppierungen ist diesbezüglich Razem, also der bei weitem kleinste Teil, am nachdrücklichsten auf die sozialpolitische Herausforderung des Regierungslagers eingegangen. Zudem sind die traditionell guten Kontakte der Linksdemokraten zu dem Gewerkschaftsdach OPZZ ein wichtiges Faustpfand, das nun zu nutzen ist. Und zugleich sind die Linkskräfte nun gefordert, das weltoffene, linksliberale Profil des Oppositionsbogens zu fixieren und zu stärken, wobei die auf eine sich vertiefende EU-Integration gerichteten Positionen ein wichtiges Scharnier im Zusammenspiel mit den Bürgerlich-Liberalen sein werden. Diesbezüglich hat Wiosna ein größeres Potential, das nun für die gemeinsamen Ziele zu nutzen ist. Eine wichtige Rolle werden dabei auch die langjährigen europapolitischen Erfahrungen der Linksdemokraten spielen.

Holger Politt: Kein Durchmarsch der Nationalkonservativen (Erster Teil der Analyse zu den Parlamentswahlen in Polen vom 13. Oktober 2019)

[Foto: Holger Politt]

15. Oktober 2019

von Dr. Holger Politt (Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau)


  1. Das wichtigste Ergebnis der Parlamentsahlen in Polen am 13. Oktober 2019 ist zweifelsohne die absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Sejm für die von Jarosław Kaczyński geführten Nationalkonservativen. Von den insgesamt 460 Sitzen im polnischen Unterhaus entfallen künftig 235 auf die Regierungspartei. Damit kann Kaczyńskis Partei die Alleinregierung fortsetzen, um – wie in den zurückliegenden Wochen vor den Wahlen immer wieder erklärt wurde – den in den letzten vier Jahren begonnenen gründlichen Umbau von Staat und Gesellschaft im Interesse der polnischen Familien zu vollenden. Ganz am Schluss der Wahlkampagne sagte Kaczyński unmissverständlich, dass die Regierenden es geschafft hätten, jene Kräfte öffentlich an den Pranger zu stellen, die mit den Feinden Polens zusammenarbeiten würden, und er versprach, dass die Regierenden es auch künftig so halten würden. Gemeint sind seine politischen Gegner – was also zumindest eine besondere Denkungsart verrät. Die Wahl der Kaczyński-Partei bedeutet also, dass ein großer Teil der polnischen Gesellschaft hinter dieser vor Kraft strotzenden Rhetorik den Weg gewiesen sieht, auf dem das vollmundig versprochene Erreichen des wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus der reicheren EU-Mitgliedsländer am besten umgesetzt werden kann. Auch wenn sich die Wählerschaft der Nationalkonservativen aus unterschiedlichen Motiven und Quellen speist und zusammensetzt, erwähnt seien hier die sehr wichtigen sozialen Gründe wie ein gesetzliches Kindergeld und eine zusätzliche monatliche Rentenauszahlung, stellte Parteichef Kaczyński noch einmal klar, wofür die abgegebene Stimme letztlich gebraucht werde.
  2. Die Wahlbeteiligung betrug 61,74 Prozent, der mit Abstand höchste Wert seit 30 Jahren. Eine der Gründe liegt in der von Kaczyński gewollten unvorstellbaren Polarisierung der öffentliche Debatte in den zurückliegenden vier Jahren, so dass ein führendes liberales Wochenblatt ins Schwarze traf, als es titelte: Eine einfache Wahl – schwarz oder weiß. Und so darf der Sieger vom 13. Oktober 2019 stolz auf eine andere Zahl verweisen, die seit 1989/90 noch keine Gruppierung erreicht hat, denn für die Nationalkonservativen wurden bei der Sejm-Wahl 8,05 Millionen Stimmen abgegeben, was einen Anteil von 43,59 Prozent der abgegebenen Stimmen ergibt. Mit den damit erreichten Abgeordnetensitzen halten die Nationalkonservativen nun alle anderen im Schach, doch macht der Blick auf die nüchternen Zahlen hinter den erreichten Sejm-Sitzen noch eine andere Wahrheit deutlich. Anders als vor vier Jahren, als zusammengerechnet 16 Prozent der abgegebenen Stimmen wegen des jeweiligen Scheiterns an den obligatorischen Prozenthürden keinen einzigen Parlamentssitz erobern konnten, finden sich nach diesen Wahlen 99 Prozent der abgegebenen Stimmen auch im neuen Sejm repräsentiert. Landesweit waren fünf Wahllisten angetreten, alle haben den Einzug geschafft. Während die Nationalkonservativen vor vier Jahren der Nutznießer des hohen Anteils an verlorenen Stimmen waren, sind sie diesmal von einem für den Wähler nicht leicht zu durchschauenden Wahlsystem begünstigt worden. Zusammengerechnet kommen nämlich die vier anderen Wahllisten auf einen Anteil von 54,76 Prozent der abgegebenen Stimmen, die aber lediglich 224 Abgeordnetensitze einbringen. Auch die Stimmenzahl ist beeindruckend: 10,2 Millionen Stimmen wurden ausdrücklich nicht für die Nationalkonservativen abgegeben.
  3. Das weitergehende Ziel der Nationalkonservativen ist die Verfassungsänderung, überhaupt eine neue Verfassung. Die geltende Verfassung von 1997 ist ihnen viel zu liberal, sie verketzern sie als eine postkommunistische Zumutung, mit der das Land und seine Bürger nicht genügend vor den äußeren Eingriffen gegen die nationale Souveränität und Identität geschützt werden könnten. Die drei ausdrücklich die geltende Verfassung verteidigenden Listen – die bürgerlichen Demokraten, die Linkskräfte und die moderaten Agrarier – erreichten zusammengerechnet mit 8,95 Millionen Stimmen ein Ergebnis, was deutlich über dem Stimmenergebnis der Nationalkonservativen liegt, auch wenn diese Stimmenzahl nur 213 Abgeordnetensitze eingebracht hat. Allerdings können die Nationalkonservativen bei dieser Rechnung auf jene Gruppierung verweisen, die rechts von ihnen ins Parlament eingezogen ist – die sogenannte Konföderation für Freiheit und Unabhängigkeit –, die immerhin 1,25 Millionen Stimmen oder 6,81 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen an sich zog. Dass die stramm nationalistisch ausgerichtete Konföderation in der Ablehnung der Verfassung von 1997 mit den Nationalkonservativen übereinstimmt, steht außer Zweifel.
  4. Im Lager der die Verfassung verteidigenden Opposition hat die im Kern liberale Koalition der bürgerlichen Demokraten, ein breiterer Zusammenschluss von gemäßigten  Konservativen bis hin zu linksliberalen und grünen Kräften, mit 27,4 Prozent der abgegebenen Stimmen ein Ergebnis erreicht, das zumindest unter den eigenen Erwartungen lag. Dennoch bleibt diese Kraft von zentraler Bedeutung für die Opposition gegen das nationalkonservative Regierungslager, ist außerdem in der Lage, die Bündnisoption mit den anderen beiden demokratischen Gruppierungen im Oppositionslager aufrechtzuerhalten, was für die im Mai 2020 anstehende Wahl des Staatspräsidenten eine wichtige Rolle spielen wird.
  5. Mit 12,56 Prozent der abgegeben Stimmen, die 49 Parlamentssitze bedeuten, ist den zusammengeschlossenen Linkskräften der erhoffte Einzug ins Parlament gelungen. Das Fehlen linksgerichteter Kräfte im Parlament in der zurückliegenden Legislaturperiode hatte spürbare Auswirkungen gehabt, so dass nun ein großer Schritt getan wurde, um bereits auf der Parlamentsbühne die Auseinandersetzung mit den nationalkonservativen Vorstellungen der Regierenden zu suchen. Damit ist bereits unterstrichen, dass ein Schwerpunkt der neuen Linkskräfte im Parlament auf weltanschauliche und Freiheitsfragen in der modernen Gesellschaft gelegt ist. Wie sich das künftig mit den anderen, für linke Kräfte wichtigen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung einrenken wird, wie sich überhaupt das Zusammenspiel mit den liberalen Kräften, die ja einen stärkeren linksliberalen Flügel haben, gestalten wird, kann nun künftig beobachtet werden. Einstweilen dürfen sich die Linkskräfte in Polen darüber freuen, dass der Zusammenschluss zum Teil völlig unterschiedlicher Kräfte im Sommer des Jahres zum Erfolg geführt hat.
  6. Zu einem wichtigen Erfolg kam die demokratische Opposition bei den Wahlen zum Senat. In das Oberhaus des polnischen Parlaments ziehen die in einem Wahlgang ermittelten Sieger aus 100 Wahlkreisen ein. Die drei Listen der demokratischen Opposition hatten sich frühzeitig verständigt, möglichst jeweils nur mit einem Kandidaten anzutreten, um die Stimmen nicht unnötig zu aufzuteilen. Dieses Vorhaben wurde weitgehend durchgehalten und führte schließlich zum Erfolg, denn im Senat werden die Oppositionskräfte künftig 51 Abgeordnete haben. Das hat einerseits eine symbolische Bedeutung, ist zumindest ein kleines Trostpflaster für die Niederlage bei den Sejm-Wahlen – trotz großen Stimmenvorsprungs –, außerdem erschwert es dem Regierungslager nun insofern die Arbeit, weil die aus dem Sejm kommenden Gesetzesentwürfe künftig nicht mehr innerhalb nur kurzer Zeit durchgewinkt werden, was in der zurückliegenden Legislaturperiode gängige Praxis war, sondern gründlicher geprüft und gegebenenfalls an den Sejm zurückverwiesen werden können.

Holger Politt: Halbvoll, halbleer. Polen nach den Wahlen zu den Körperschaften der Selbstverwaltung am 21. Oktober 2018

[Foto: Dr. Holger Politt]

2. November 2018

von Dr. Holger Politt (Leiter des RLS-Büros in Warschau und Mitglied der RLS Brandenburg e.V.)
 


Die Wahlen zu den Körperschaften der Selbstverwaltung auf der Regional- und Lokalebene am 21. Oktober 2018 haben in Polen zu Ergebnissen geführt, die allgemein erwartet wurden. Auch deshalb behaupteten hinterher fast alle Seiten, sie hätten gewonnen. Die Wahlen wurden zudem als eine erste wichtige Bestandsaufnahme gehandelt über die dreijährige Regierungszeit der von Jarosław Kaczyński angeführten Nationalkonservativen (PiS), da die regelmäßigen Umfrageergebnisse zu schwankend oder ungenau sind. Außerdem läuteten die jetzigen Wahlen einen wahren Marathon an Wahlgängen ein, denn im Frühjahr 2019 folgen die Wahlen zum Europäischen Parlament, im Herbst 2019 die Parlamentswahlen und schließlich im Frühjahr 2020 die Direktwahl des Staatspräsidenten.

Auch wenn zwischen den Ebenen der Zentralregierung und der sogenannten Selbstverwaltung in den einzelnen Wojewodschaften, Kreisen, Städten und Gemeinden erhebliche Unterschiede bestehen, liegen nun Ergebnisse vor, die das bestehende Kräfteverhältnis zwischen den politischen Lagern zuverlässig abbilden. Für die Nationalkonservativen war es ein Test darüber, ob sie in einem Jahr darauf hoffen dürfen, die Alleinregierung verteidigen zu können. Am Wahlabend sagte Kaczyński, diese Möglichkeit sei eindrucksvoll bestätigt worden, aber die Partei müsse künftig noch härter arbeiten. Und für das breit aufgestellte Lager der Verteidiger der geltenden Verfassung, denn die regierenden Nationalkonservativen wollen die Verfassung von 1997 durch eine andere, ihnen gemäße ersetzen, ging es darum, die in den öffentlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre gewonnene Stärke auf der Straße nun erstmals an der Wahlurne unter Beweis zu stellen. Am Wahlabend sagten deshalb führende Oppositionspolitiker, der geplante Angriff der Kaczyński-Leute auf die Selbstverwaltungsstrukturen sei erfolgreich gestoppt worden.

In sechs Punkten sei nun versucht, ein wenig Licht in das Dunkel des Wahlergebnisses zu bringen.

1)    Von den 16 Landtagen auf der Ebene der Wojewodschaften werden die Nationalkonservativen künftig in sechs allein regieren können – zweifellos ein Erfolg, den bislang taten sie es in einem einzigen dieser kleinen Parlamente. In einer weiteren Wojewodschaft könnten sie künftig auch regieren, falls sie einen Koalitionspartner finden. Demzufolge wird aber mindestens in neun Wojewodschaftsvertretungen weiterhin das Verfassungslager das Sagen haben – allen voran die bürgerlich-liberale Opposition, unterstützt meistens von den moderaten Agrariern der PSL und weiteren kleineren Koalitionären. Auch dies ist zweifellos ein Erfolg, auch wenn das bürgerlich-liberale Lager nur noch in einer einzigen Wojewodschaft alleine regieren kann. Wichtig ist neben dem unmittelbaren Stimmenergebnis für die eigenen Liste die Koalitionsfähigkeit, die im Verfassungslager eindeutig größer ist als bei den Nationalkonservativen. Wenn Kaczyński von der weiteren harten Arbeit spricht, so meint er neben den erhofften Stimmengewinnen die gestärkte Koalitionsfähigkeit, die aber nach heutigem Stand reine Fiktion ist, denn aus dem Verfassungslager will niemand mit den Nationalkonservativen zusammengehen. So bliebe dem Kaczyński-Lager allein der Schulterschluss mit dem rechtsradikalen-rechtspopulistischen Lager, das aber bei diesen Wahlen eher enttäuschend abgeschnitten hat. Zu gerne würde Kaczyński aber dieses Lager neutralisieren oder in Teilen auch vereinnahmen, weil seine Zielrichtung eigentlich in die Mitte der Gesellschaft zielt, denn dort – nicht an den Rändern – werden nächstes Jahre die Wahlen gewonnen oder verloren.

2)    In allgemeinen Zahlen ausgedrückt bleibt zu konstatieren, dass die Nationalkonservativen landesweit gemessen unter 35 Prozent an abgegebenen Stimmen geblieben sind, was eindeutig unter den Erwartungen liegt. In einzelnen Umfragen hatten die Kaczyński-Leute sich zuletzt sogar über Werte von 40 Prozent erfreuen können, was die Hoffnung nährte, im nächsten Herbst wieder als strahlender Sieger vom Platz gehen und die Alleinregierung fortsetzen zu können. Die Ernüchterung am Wahlabend war insbesondere Kaczyński anzusehen, der unabhängig von der Zahl der gewonnenen Wojewodschaften sofort wusste, wie schwer es nun werden wird, in der verbleibenden Jahresfrist den klaren Rückstand zu den erhofften und gebrauchten Werten wettzumachen. Und die liberal-bürgerliche Liste, die mit Abstand stärkste Kraft im Verfassungslager, erreichte landesweit gemessen knapp 27 Prozent der abgegebenen Stimmen. Mit den anderen Kräften im Verfassungslager wird der Rückstand zur Kaczyński-Partei aber schnell wettgemacht und diese schließlich deutlich überrundet. Anders gesagt: Wären es Parlamentswahlen gewesen, hätten die Nationalkonservativen gegenüber dem Verfassungslager klar verloren und wären auf die Oppositionsbank verwiesen worden.

3)    Im Wahlkampf hatte Kaczyński den Ministerpräsidenten vorgeschickt, um in der Provinz die moderaten Agrarier mit allen erdenklichen Mitteln zu schlagen. Das ist nicht gelungen, auch wenn die PSL gegenüber den letzten Selbstverwaltungswahlen im Herbst 2014 zehn Prozentpunkte verlor, die fast ausschließlich den Nationalkonservativen zugutekamen. Mit dieser Beute sind die Alleinregierungen in nun fünf weiteren Wojewodschaften zu erklären. Und doch erreichten die Agrarier mit landesweit 12 Prozent einen hervorragenden Wert, den ihnen nach der aggressiven PiS-Kampagne in der Provinz und den letzten Umfragewerten kaum jemand noch zugetraut hatte. Da Ministerpräsident Mateusz Morawiecki mit seinen häufig aus der Luft gegriffenen Angriffen gegen die PSL viel Porzellan zerschlagen hat, ist kaum noch davon auszugehen, dass nach den nächsten Parlamentswahlen PiS und die PSL an ihrer gemeinsamen konservativen Schnittmenge zusammenfinden können. Kaczyński hat das Risiko gewählt, wollte die PSL handstreichartig beerben wie einst die „Samoobrona“, nun hat er in den ländlichen Räumen einen entschiedenen Gegner, der seine Krallen gezeigt hat und künftig wieder gestärkt ins Rennen gehen wird. Die Agrarier sind ein wichtiger Teil des Verfassungslagers, viele Beobachter sprechen jetzt sogar davon, dass sie überhaupt die Demokratie in Polen gerettet hätten.

4)    Unterhalb der Wojewodschaftsebene interessierten aus gesamtpolnischer Sicht am ehesten die Wahlergebnisse in den Großstädten. Insbesondere der Wahlausgang in Warschau wurde von Kaczyński in den Rang einer Chefsache erhoben, war doch hier Zwillingsbruder Lech Kaczyński von 2002 bis 2005 Stadtpräsident und gewann von dieser Position aus im Herbst 2005 knapp das Rennen um das Amt des Staatspräsidenten gegen Donald Tusk. In diesem Jahr hatte Kaczyńskis Kandidat indes keine Chance, verlor bereits in der ersten Runde das Rennen um das Rathaus der Hauptstadt, weil der Vertreter der liberal-bürgerlichen Liste die erforderliche absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt. Diese Niederlage symbolisiert das insgesamt schwache Abschneiden der Kaczyński-Partei in den großen Städten Polens. Auch dies bewerten Beobachter als ein ungünstiges Ohmen für die große Wahlschlacht im kommenden Jahr.

5)    Einzig die linksgerichteten und linksliberalen Kräfte sprechen offen von einer Niederlage, die sie erlitten hätten. Nur die Linksdemokraten der SLD konnten überhaupt wertvolle Sitze in den Wojewodschaftsparlamenten erringen, allerdings sind es in den 16 Wojewodschaftsvertetungen insgesamt ganze elf Sitze. Eine enttäuschende Zahl, wenn die vorrangegangenen Wahlen zugrunde gelegt werden. Allerdings ist die SLD erstmals angetreten, ohne im Zentralparlament vertreten zu sein. So gesehen scheinen die 6,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, die landesweit bemessen für die Liste zu Buche stehen, kein allzu schlechter Wert zu sein. Hinzu kommt eine frappierende Zahl, die hier angeführt sei. Das Wahlrecht begünstigt eindeutig die großen, stimmenstarken Listen, benachteiligt demzufolge die schwächeren Gruppierungen. Um eines der begehrten Mandate in den Landtagen auf Wojewodschaftsebene zu erlangen, genügten für die Nationalkonservativen knapp 21.000 abgegebene Stimmen, während die SLD dafür aber knapp 93.000 Stimmen brauchte, also das Vierfache an Zahl. Diese Spielregeln sind nicht von den Nationaldemokraten erfunden worden, sie gelten seit langem, doch sie verweisen in der gegebenen Situation auf einen zusätzlichen Hoffnungsfunken.

6)    Laut Meinungsforschern werden nächstes Jahr für linksgerichtete und linksliberale Gruppierungen maximal fünfzehn, wahrscheinlich zehn Prozent der abgegebenen Stimmen zu verzeichnen sein. Wenn daraus die entsprechenden Parlamentssitze entspringen, wären nach Lage der Dinge alle Vorstellungen der Kaczyński-Partei, die Alleinregierung fortsetzen zu können, nur noch Makulatur. Selbst Kaczyński hat seine Parteileute bereits darauf hingewiesen. Die eigentliche Herausforderung besteht folglich darin, aus diesem Potential tatsächlich in einem Jahr die entsprechenden Parlamentssitze münzen zu können. Bei den jetzigen Wahlen trat neben den Linksdemokraten auch die Liste der Partei Razem an, schnitt landesweit bemessen mit deutlich unter zwei Prozent der abgegebenen Stimmen aber eher enttäuschend ab. Zwar wurden in einigen Großstädten interessante Wahlbündnisse geschlossen, die hier und dort sogar kleinere Achtungserfolge zu verbuchen hatten, aber die Situation ist ernster, als es sich führende Parteistrategen bislang eingestehen wollten. Zugleich lauert nun Robert Biedroń im Hintergrund, der bei diesen Wahlen noch nicht mit einer eigenen Liste angetreten war. Er hatte auf die Chance verzichtet, sein Präsidenten-Amt in Słupsk zu verteidigen, um rechtzeitig vor dem schwierigen Wahljahr 2019 landesweit agieren zu können. Den Verlockungen aus dem liberal-bürgerlichen Spektrum hat er bislang standgehalten – er will eine Liste des Fortschritts aufbauen, die er als Stärkung des linken und linksliberalen Spektrums versteht. Damit würde es in einem Jahr wenigstens drei Listen geben, die um die knappe Stimmen im linken bzw. linksliberalen Bereich buhlen werden. Die Alternative wäre eine gemeinsame Liste, die tatsächlich in der Lage wäre, zehn oder gar fünfzehn Prozent der abgegebenen Wählerstimmen auf sich zu ziehen. Ansonsten droht diesem für den Ausgang der Wahlen in einem Jahr so wichtigen Wählerspektrum der Fluch der verlorenen Stimme, wenn die vom Gesetz vorgesehenen Prozenthürden nicht genommen werden. Die Auswirkungen für das Land liegen auf der Hand, denn es drohte in diesem Fall eine Wiederholung der Situation von 2015.

Monika von der Lippe: Verteidigung von Frauenrechten in Polen

10. Oktober 2018
 

von Monika von der Lippe (Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg)


Der Spielraum für Frauen- und Gleichstellungspolitik in Polen ist derzeit sehr eng: Geld für Frauenprojekte wurde auf allen Ebenen bereits gnadenlos gestrichen, ob es nun um Beratungsstellen für Betroffene häuslicher Gewalt oder Frauenhäuser oder auch nur Mädchenfußballprojekte ging. Der Vorwurf, sich nicht gleichermaßen an alle Geschlechter zu wenden, führte bei all diesen Einrichtungen und Projekten zu gravierenden Einschränkungen. Besonders die Ablehnung des rigorosen Abtreibungsrechts spielt aber weiterhin eine verbindende und mobilisierende Rolle über Geschlechter, Generationen und Parteien hinweg. Der gewaltige und auch international nachhallende „czarny protest“ (schwarzer Protest) aus dem vergangenen Jahr hatte die noch weitere Einschränkung des Abtreibungsrechts immerhin erst einmal gestoppt. Mit diesem Erfolg im Rücken gilt es nun eine wirksame Strategie für das anstehende Wahljahr zu erarbeiten.

Vor diesem Hintergrund fand am 29. und 30. September in Warschau die Konferenz „100 Jahre politische Frauenrechte in Polen – Herausforderungen für die Demokratie“ statt. Organisiert wurde sie vom Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit der Izabela-Jaruga-Nowacka-Stiftung. Izabela Jaruga-Nowacka war Polens Regierungsbevollmächtigte für die Gleichstellung von Mann und Frau, die beim Absturz der Präsidentenmaschine in Smolensk 2010 ums Leben kam. Die nach ihr benannte Stiftung engagiert sich sehr für gleichstellungspolitische Anliegen in Polen.

Im nächsten Jahr stehen in Polen mehrere Wahlen an: Von besonderem Interesse sind die Parlamentswahl im Herbst und natürlich die Europawahl im Frühjahr. Es wird befürchtet, dass die PiS-Regierung mit einem weiteren Sieg bei der Parlamentswahl noch viel deutlicher ihre Agenda durchsetzen wird, als dies bisher schon der Fall ist. Ein europäisches Wahlergebnis, das den rechten Parteien Aufwind gäbe, wäre auch für die PiS bei den Parlamentswahlen eine gute Ausgangsbasis. Unter diesen Vorzeichen nahmen Frauenpolitikerinnen unterschiedlicher linker, grüner, sozialdemokratischer und liberaler politischer Parteien bzw. Gruppierungen an der Konferenz teil. In den hochkarätig besetzten Diskussionen und Workshops ging es um die „Rechtsstaatlichkeit und Verteidigung von Frauenrechten in der EU“, um „Lokal- und Regionalpolitik angesichts der Gefahren von Autoritarismus“ und um „Menschenrechte in der heutigen Welt“. Im Rahmen der Konferenz fand auch eine Demonstration für reproduktive Rechte in der Innenstadt von Warschau statt. Es wurde deutlich, dass sich viele prominente Frauenpolitikerinnen von nationaler und regionaler Ebene sehr für eine übergreifende Zusammenarbeit der demokratischen Oppositionsgruppen einsetzen. Ein sehr ermutigendes Signal! Es gibt Hoffnung, dass gemeinsam Frauenrechte verteidigt werden können. Der Gründung einer separaten Frauenpartei wurde hingegen wenig Sympathie entgegen gebracht.

Adam Bodnar, der Menschenrechtsbeauftragte der Polnischen Regierung, nahm ebenfalls an der Konferenz teil und äußerte sehr deutlich seine Unterstützung für die Durchsetzung von Frauenrechten. Ein wichtiger Anker sind dabei EU-Vorgaben. Diese geben die Möglichkeit, Menschenrechte im weiteren Sinne einzufordern oder sich gegen Einschränkungen zur Wehr zu setzen. Daraus erklärt sich auch die besondere Bedeutung der Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühjahr. Ihr Ausgang darf nicht unterschätzt werden. Ganz praktisch für die Bewahrung von Menschenrechten in der EU – aber auch als (hoffentlich) motivierendes Signal für die Frauenrechtlerinnen in Osteuropa.

Julia Bär: „Polens Rolle rückwärts“. Buchpräsentation der RLS Brandenburg zur aktuellen politischen Situation in Polen und zum Umgang mit der Zeitgeschichte

8.3.2017

Veranstaltungsbericht von Julia Bär


Die politische Entwicklung in Polen, dem Nachbarland Brandenburgs, war in der Vergangenheit schon häufiger Thema von Bildungsveranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Potsdam. Am 7. März 2017 präsentierten die Autoren Krzysztof Pilawski, Journalist und Publizist in Warschau und Holger Politt, langjähriger und auch zukünftiger Büroleiter der RLS in Warschau, in einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung ihr 2016 im Hamburger VSA-Verlag erschienenes Buch mit dem Titel „Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken“.

Beide Autoren vertraten die Auffassung, dass ein politischer Rechtstrend in Polen unübersehbar sei. Jaroslaw Kaczynski, als der starke Mann der PiS hinter der im November 2015 vereidigten Ministerpräsidentin Beata Szydlo, sei der Motor dieser nationalkonservativen Entwicklung. Das Wahljahr 2015 könnte in der jüngsten Zeitgeschichte des Landes genauso wichtig werden, wie das Jahr 1989. Verhasst sei Kaczynski und seinem Umfeld die politische Ordnung, die sich nach 1989 im Dialog zwischen der damaligen Solidarnosc-Opposition und der postsozialistischen Regierung in Polen herausgebildet hatte. Kaczynski halte die seinerzeit am Runden Tisch gefundene Weichenstellung für Verrat, weil sie den Weg einer endgültigen Abrechnung mit dem Staatssozialismus verbaut habe und greift auch die liberale Verfassung von 1997 an, da sie Polens erfolgreichen Weg in die Zukunft verhindere.

In der engagierten Debatte äußerten sich Pilawski und Politt zu Fragen des Regierungsstils der nationalkonservativen Kräfte, zu ihrer Außen- und Sicherheitspolitik und zu ihrem Verhältnis zur Europäischen Union und der NATO. Dort vertrete man die Auffassung, dass Polen sich nur dann erfolgreich weiterentwickeln könne, wenn man stärker auf die nationalen Traditionen verbunden mit der strukturkonservativen Rolle der katholischen Kirche setze. Mit der Einführung von Kindergeldzahlungen habe die PiS-Regierung zwar eines ihrer sozialpolitischen Wahlversprechen eingelöst, damit aber vor allem ihre konservative Sicht auf die Rolle der Frauen in der Gesellschaft gestärkt. Dies wirke sich insbesondere in den ländlichen Gebieten Polens negativ aus in dem Frauen vom Arbeitsmarkt ferngehalten würden. In ihrer Haltung zur Europäischen Union werde vor allem der dominierende Einfluss Deutschlands kritisiert, der die wirtschaftliche Entwicklung Polens hemme. Die Mitgliedschaft Polens in der NATO werde in den politischen Eliten des Landes ungleich positiver bewertet als die EU-Mitgliedschaft.

Weiterhin standen Fragen der Medienpolitik, der Rolle des polnischen Verfassungsgerichts, der Haltung gegenüber Geflüchteten sowie eines deutlich wahrzunehmen Geschichtsrevisionismus zur Diskussion. Letzteres werde vor allem durch die öffentliche Wahrnehmung des jüngst in dem mit großem Aufwand gedrehten Film „Smolensk“ deutlich. Die Diskussion um diesen Film ist Bestandteil von Verschwörungstheorien um den Absturz der Regierungsmaschine in der Nähe von Smolensk, bei dem u.a. der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski, Zwillingsbruder von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, ums Leben kam.

Krzysztof Pilawski /Holger Politt: Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 176 Seiten, 2016, EUR 14.80, ISBN 978-3-89965-702-9.

Julia Bär: Polen nach dem Brexit

Holger Politt und Matthias Krauß (v.l.n.r.)

15. Juli 2016

Veranstaltungsbericht von Julia Bär


Am 7. Juli hatten wir zu einem Vortrag über die aktuelle politische Situation in Polen nach den Wahlen 2015 und nach dem Brexit eingeladen. Dr. Holger Politt, Leiter des RLS Büros in Warschau von 2002 bis 2009 und derzeit intensiver befasst mit dem polnischen Werk Rosa Luxemburgs, analysierte die politische Stimmung und die Auswirkungen des Brexit auf die Haltung der PIS-Regierung gegenüber der EU und beantwortete die Fragen des Journalisten Matthias Krauß, der die Veranstaltung moderierte, und des Publikums.

Die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens sei damals eine Voraussetzung dafür gewesen, dass Polen überhaupt in die EU eingetreten sei, da Großbritannien im Gegensatz zu den großen Motoren der Integration Deutschland und Frankreich immer auch eine aus polnischer Sicht bremsende Funktion gehabt habe, was die EU-Integration betrifft. Somit habe Großbritannien in bestimmter Hinsicht immer auch als eine Art stiller verbündeter Polens gelten können. Durch den Brexit sehe sich die rechtskonservative Regierung in ihrem Kurs, eine Neukonstituierung der EU als eine „Union der Vaterländer“ zu fordern, bestätigt. Kaczynski propagiere weiterhin die Abschaffung der liberalen Verfassung aus dem Jahre 1997, da diese die polnischen Bürger nicht ausreichend vor den „Zumutungen“ Brüssels schützen könne, weil damals noch niemand gewusst habe, was Mitgliedschaft in der EU bedeute. Außerdem setzt er nun umso mehr auf die Herstellung und Bewahrung nationaler Identität und Souveränität. Vor dem Brexit war der öffentliche Protest gegen die Regierung, der auch die EU-Fahne vor sich her trug, sehr präsent . Durch den Brexit sehe sich nun die Regierung bestätigt und die Legitimationsgrundlage der Opposition sei beschädigt.

Anwesend war auch die Leiterin des RLS-Regionalbüros in Warschau, Dr. Joanna Gwiazdecka. Sie gab Auskunft darüber, inwiefern der Regierungswechsel in Polen auch die Arbeit der RLS dort bedrohe.  Die Arbeit der RLS werde schon immer kritisch beäugt, allerdings bestehe unter der derzeitigen Regierung die Gefahr, dass öffentliche Skepsis gegenüber ihrer Arbeit, die es auch früher schon von national-konservativen Abgeordneten gegeben habe, derzeit einen stärkeren Zuschnitt bekommen könne als noch unter der PO-Regierung. Allerdings betonte sie auch, dass es in Polen noch weitaus problematischere Kräfte gebe als die derzeit regierenden und dass zu befürchten sei, dass bei kommenden Wahlen noch rechtere Parteien an Stimmen zulegen könnten.

Auf die Frage aus dem Publikum, ob es denn derzeit linke Hoffnungsträger in der polnischen Parteienlandschaft gebe, ging Holger Politt auch auf die neue Partei „Razem“ („Zusammen“) ein. Diese suche gegenwärtig nach ihrem festen Platz in der politischen Szene Polens, richte die Programmatik entsprechend aus. Außenpolitisch gebe es dabei auch Änderungen, so sei siebeispielsweise inzwischen von ihrer ursprünglichen Forderungen nach einem Nato-Austritt Polens abgekommen. Insgesamt sei es aber so, dass linke Politik in Polen derzeit einen schweren Stand habe.

Julia Bär: „Für grenzenlose Gleichheit!“ Die Lage der Gleichstellungspolitik in Polen und gemeinsame Perspektiven im Kampf um mehr Gleichheit

Monika von der Lippe (Gleichstellungsbeauftragte Brandenburgs), Dr. Joanna Gwiazdecka (Leiterin des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau) und Małgorzata Tarasiewicz (Network of East-West-Women (NEWW), Gdańsk) [v.l.n.r.]

12. Juli 2016

von Julia Bär (Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.)


Am 6. Juli hatten wir zu einem Gespräch über die aktuelle Lage der Gleichstellungspolitik in Polen ins Autonome Frauenzentrum in Potsdam eingeladen.  Zu Gast waren Małgorzata Tarasiewicz (Network of East-West-Women (NEWW), Gdańsk) und Dr. Joanna Gwiazdecka (Leiterin des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau). Die Gleichstellungsbeauftragte Brandenburgs, Monika von der Lippe, moderierte das Gespräch.  Małgorzata Tarasiewicz ist eine feministische Aktivistin der ersten Stunde und ihre Biografie ist eng mit den Ereignissen in Polen um die Gleichstellungsfrage verflochten. Anfang der 90er Jahre leitete sie die Frauensektion der Gewerkschaft Solidarność. Als sich die Gewerkschaft allerdings Mitte der 90er Jahre entschloss, den sog. „Abtreibungskompromiss“ mitzutragen, trat sie aus Protest aus. Dieser „Abtreibungskompromiss“ gilt bis heute und ist ein fast ausnahmsloses Abtreibungsverbot, für dessen weitere Verschärfung von der katholischen Kirche und rechten Kräften weiter mobilisiert wird. Inzwischen leitet Małgorzata Tarasiewicz die inzwischen 25-Jahre alte Nichtregierungsorganisation „Network of East-West-Women“, die ihren Sitz in Gdańsk hat und zu den wichtigsten außerparlamentarischen Akteuren in der Gleichstellungspolitik in Polen zählt. Zu den Aufgaben von «NEWW» gehören die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Initiativen und unabhängigen Frauenorganisationen, die Unterstützung von Frauen bei den Versuchen, stärker und nachdrücklicher auf die Politik einzuwirken. Małgorzata Tarasiewicz berichtete von ihren Aktivitäten in Polen und informierte über die weitere Verdrängung von gleichstellungspolitischen Aktivitäten aus dem politischen Raum unter der jetzigen rechtskonservativen PIS-Regierung. So sei die eine landesweite Gleichstellungsbeauftragte inzwischen durch einen Familienbeauftragten ersetzt worden. Fragen der Geschlechtergerechtigkeit würden von den derzeit Regierenden als von außen übergestülpte – von „Brüssel“ oder „Berlin“ verordnete – Probleme dargestellt, welche die nationale Identität beschädigen könnten. Małgorzata Tarasiewicz berichtete von dem spürbar zunehmenden Hass, der sich gegen feministische Akteurinnen richte und sich u.a. durch Hetze im Internet bemerkbar mache.

Joanna Gwiazdecka betonte, dass die Lage in Polen schon schlecht sei, dass Polen aber keine Ausnahme sei. Auch in anderen Ländern der Region, wie Litauen und der Slowakei sei die Lage der Frauen und der sexuellen Minderheiten sehr schlecht. Als besonders erfolgreiches Projekt des RLS-Büros in Warschau sei die Zusammenarbeit mit der „Kampagne gegen Homophobie“ zu bewerten. Besonderen Eindruck habe diese Kampagne in Polen in der öffentlichen Wahrnehmung gemacht, als Eltern sich öffentlich zur Unterstützung ihrer LGBT-Kinder bekannten. So leistet die Kampagne wichtige Fortschritte darin, die Akzeptanz von sexuellen Minderheiten Stück für Stück in der Gesellschaft zu verankern.

Ein Thema von großer Aktualität, dass an diesem Abend beschäftigte, ist die Situation von geflüchteten Frauen, die sehr häufig in einer doppelten Zwangslage sind, da sie neben den Diskriminierungen und Repressalien, die sie als Geflüchtete erleben, oft noch schutzlos sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Joanna Gwiazdecka berichtet bespielhaft von den „unsichtbaren“ ukrainischen Geflüchteten in Polen, von denen viele keinen Aufenthaltsstatus haben und in der Illegalität leben. Die Frauen seien hier besonders betroffen, da sie häufiger Opfer von Gewalt werden, sich aber dann nicht an die Polizei wenden könnten und z.B. im Falle von Schwangerschaften noch nicht einmal ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen könnten. Auch die Arbeit von NEWW ist derzeit stark von der Situation der geflüchteten Frauen geprägt. Die Organisation engagiert sich darin, die Kontaktaufnahme solcher Frauen zu Frauenorganisationen zu unterstützen. Die Situation von geflüchteten Frauen wird sicher in der nächsten Zeit noch ein wichtiges Thema bleiben, das eine grenzüberschreitende  Zusammenarbeit, Vernetzung und Erfahrungsaustausch umso wichtiger macht.

Einigkeit bestand darin, dass die Bedeutung solcher Veranstaltungen hinsichtlich der internationalen Vernetzung kaum zu unterschätzen ist. So wurde der Wunsch geäußert, auch weiterhin solche Gelegenheiten zu grenzüberschreitendem Austausch und Vernetzung zu organisieren. So könnten sich solche Kontakte vielleicht auch in Form von Partnerschaften zwischen Frauenzentren oder –organisationen verstetigen.