Publikation Kommunalakademie Neue Genossenschaften in Berlin zwischen bürgerschaftlichem Engagement, Selbsthilfe und Regionalentwicklung

Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung – Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung. von Dr. Judith Dellheim

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Judith Dellheim,

Erschienen

Mai 2005

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Inhaltsverzeichnis

Einleitende Bemerkungen

Wichtige Akteure des Berliner Genossenschaftswesens – ihr Agieren bis zur Senatsbildung 2002

Die Koalitionsvereinbarung der Berliner SPD und der Berliner PDS und Schritte zu den Richtlinien für die Vergabe von Existenzgründungsdarlehen

Richtlinien für die Vergabe von Existenzgründungsdarlehen nach dem Arbeitsmarkt und Berufsbildungspolitischen Rahmenprogramm (ARP) vom 5. März 2003

Diskussion seit Annahme der Richtlinien vom 5. März 2003

Einige Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Anlage I

Genossenschaften – neue Wege in der Beschäftigungspolitik

Anlage II

Genossenschaften in nationalen Strategien für Beschäftigung und soziale Integration

Quellenverzeichnis

 

I. Einleitende Bemerkungen

Was die Beschäftigung mit der jüngeren Genossenschaftsproblematik in Berlin so außerordentlich interessant macht, ist zumindest dreierlei: Erstens wird die Berliner Genossenschaftsdiskussion anders geführt als die bundesdeutsche. Sie ist „europäischer“, d. h. mehr mit Fragen des Dritten Sektors und der Zivilgesellschaft verbunden. Das hat mit den spezifischen Akteuren des Berliner Genossenschaftswesens bzw. der Berliner Alternativökonomie zu tun, mit deren intensiver internationalen Zusammenarbeit. Zweitens trafen bzw. treffen in Berlin Akteure aus Ost und West nicht nur viel direkter als anderswo in Deutschland aufeinander, sondern sie sind auch weitgehend politisierter, verbinden Selbsthilfe eher mit politischen Ansprüchen. Drittens findet in der Koalitionsvereinbarung der Berliner Landesverbände von SPD und PDS vom Januar 2002 die Genossenschaftsproblematik deutliche Widerspiegelung und ist der Senat „pro Genossenschaft“ eingestellt.

Das wirft zum einen weitere Fragen nach den genossenschaftlichen Akteuren auf, zum anderen nach den konkreten Inhalten ihrer Diskussion und ihrer Projekte. Diese sind für die Arbeit an gesellschaftspolitischen Reformalternativen hochgradig wichtig, insbesondere im Kontext mit der Beschäftigungspolitik und der Regionalentwicklung. Hinzu kommt, dass in beiden Politikbereichen die PDS heute agieren muss und eine Analyse der Wechselverhältnisse zwischen Genossenschaftler/innen und Berliner PDS sowohl für den Landesverband als auch für die Gesamtpartei hilfreich sein kann.

Da vor der PDS zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Fragen und Aufgaben standen, ist es zweckmäßig, Entwicklungen nach Zeitabschnitten darzustellen, also eher historisch als logisch. Die Darlegungen münden in Schlussfolgerungen und Empfehlungen an die Gesamtpartei PDS und an ihren Berliner Landesverband.

Genossenschaften sind recht komplizierte Subjekte des Wirtschaftsrechtes. Es handelt sich um spezifische Unternehmen, freiwillige Vereinigungen von Personen oder Personengruppen, die gemeinsam eine höhere Leistungsfähigkeit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erstreben. Die Genossenschaft basiert auf persönlicher Mitgliedschaft und Selbstverwaltung. Zu ihrer Gründung bedarf es keines Kapitals von besonderer Höhe. Unter Beachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestanzahl von Mitgliedern - in Deutschland sieben, was im internationalen Vergleich sehr hoch ist - gibt es keine von der Zerlegung des Grundkapitals abhängige Mitgliederzahl. Die Satzung der Genossenschaft ist unter Beachtung des Genossenschaftsrechts frei gestaltbar. Das Stimmrecht ist an die Mitgliedschaft gebunden, der gemeinschaftliche Geschäftsbetrieb gesetzlich vorgeschrieben. Die Profitmaximierung ist ausgeschlossen. Erzielte Gewinne müssen unmittelbar für den eigentlichen Förderzweck eingesetzt werden. Die Genossenschaft muss Mitglied eines Verbandes mit Prüfrecht sein. Die Pflichtprüfung dient dem Schutz der Genossenschaftsmitglieder und Gläubiger. (Nollau 2004: 6)

Besonders anzumerken ist die Schwierigkeit der Genossenschaftsgründung: Sieben Menschen müssen ausgehend von der Geschäftsidee und ihren subjektiven und ökonomischen Bedingungen, dem für seine Leistung zu zahlenden Prüfverband überzeugend darlegen, dass sie wirtschaftlich erfolgreich sein werden.

In Deutschland kann die Dienstleistungsgenossenschaft und vor allem die Genossenschaft mit sozialen Zielen nicht einfach in das behördliche Genossenschaftsregister eingetragen werden, denn sie sind nicht im Genossenschaftsgesetz geregelt. Gelingt der Genossenschaft im Sozialbereich die Eintragung, muss sie noch lange nicht als gemeinnützig anerkannt werden. Schließlich ist in Deutschland nicht die Gewinnverwendung das Kriterium für Gemeinnützigkeit, sondern die Gewinnerzielung.

Diese komplizierten Fragen sind zu berücksichtigen, werden die Erfahrungen aus dem Umgang mit den Richtlinien für die Vergabe von Existenzgründungsdarlehen nach dem Arbeitsmarkt- und Berufsbildungspolitischen Rahmenprogramm (ARP) bzw. die Förderung von „beschäftigungsorientierten Genossenschaften“ diskutiert.

In Berlin gibt es neben etwa 200 Genossenschaften, genossenschaftliche Unternehmen und Organisationen. Ihre Mitglieder hängen der Selbstverwaltung, freiwilligen Mitgliedschaft, Selbstverantwortung und dem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb an und erstreben keinen Gewinn oder lediglich Gewinne zum Einsatz für den Förderzweck. Obwohl also genossenschaftlichen Grundsätzen gefolgt wird, ist die Organisation/das Unternehmen nicht als Genossenschaft in das behördliche Register eingetragen. Das ist meist dann der Fall, wenn die Mindestanzahl von sieben Mitgliedern nicht erreicht ist, die Mitgliedschaft in einem Prüfverein nicht möglich oder nicht gewollt ist, dem Genossenschaftsrecht nicht entsprochen werden kann oder es abgelehnt wird. Dass z. B. die Gründungsinitiative für den Stadtteilbetrieb Prenzlauer Berg „die Gründung einer GmbH mit genossenschaftlicher Verfassung für Anfang 2005 vorbereitet“ (BEST 4/2004: 1) und nicht einer Genossenschaft, liegt daran, dass es einfacher ist, eine GmbH mit genossenschaftlicher Verfassung zu gründen als eine Genossenschaft.

International ist es üblich, dass sich Genossenschaften als dem Dritten Sektor, bzw. der Sozialen Ökonomie (EU) oder Solidarischen  Ökonomie (Lateinamerika) zugehörig erklären bzw. als deren Akteure angesehen werden. Das ist nur folgerichtig, denn als „Dritter Sektor“ wird der Bereich zwischen Staat und Privat- bzw. Marktwirtschaft verstanden, in dem kein Profit oder nur zum sozialen bzw. Förderzweck erwirtschaftet wird. Der Begriff differenziert nicht zwischen freiwilligen Vereinigungen in der Rechtsform von z. B. Vereinen, Stiftungen, Genossenschaften einerseits und Betrieben, Einrichtungen, Dienststellen und sonstigen institutionalisierten Dienstleistungsangeboten in deren Trägerschaft andererseits. (Bauer/Betzelt 2000: 10)

Während es in Berlin als normal gilt, Genossenschaften im Kontext mit dem Dritten Sektor zu diskutieren, sehen sich in Deutschland die traditionellen Genossenschaftsverbände dem Dritten Sektor nicht zugehörig. Während in der geltenden Koalitionsvereinbarung der in Berlin regierenden Parteien ausdrücklich Bezug auf für Berlin zu nutzende europäische Dritte-Sektor-Erfahrungen genommen wird, spielt dieser Problemkreis in der offiziellen Reformdebatte der Bundesrepublik keine Rolle.

In der Europäischen Union meint „Soziale Ökonomie“ im allgemeinen Genossenschaften, gemeinsame Betriebe und Stiftungen, die weder der profitorientierten Privatwirtschaft noch dem öffentlichen Sektor zugeordnet werden können. Sie betrifft vier wesentliche Bereiche: 1) soziales, demokratisches und partizipatives Unternehmertum, 2) Beschäftigung und soziale Kohäsion/Integration, 3) lokale Entwicklung und 4) gemeinsamer sozialer Schutz als Basis eines demokratischen Modells, das Entwicklungen entsprechend der Bedürfnisse und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger ermöglicht (Social Economy 2002: 3)

Es ist gebräuchlich, Dritter Sektor und Soziale Ökonomie synonym zu verwenden. Es gibt keine detaillierte Untersuchung zum dritten Sektor in Berlin. Es ist kann davon ausgegangen werden, dass etwa 100.000 Menschen in ihm beschäftigt sind. Allerdings wird seine Erfassung und Bewertung mit der Realisierung von Hartz IV immer komplizierter und streitbarer. Die Grundsätze der „sozialen Ökonomie“ können durchaus mit der Zivilgesellschaft zusammengehen. „Zivilgesellschaft“ steht für Engagement, gemeinnütziges soziales Handeln, Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens, Solidarität, Verantwortung und Partizipation. Das erklärt, warum sich international und in Berlin zahlreiche Genossenschaften als Akteure der Zivilgesellschaft sehen und die Genossenschaftsdebatte vielfach im Kontext mit der Debatte zur Zivilgesellschaft geführt wird. Für die Bundesrepublik trifft diese Verallgemeinerung so nicht zu.

 

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