Nachricht | Die Blutspur der Legionäre

Text von Dr. sc. Lothar Schröter zu Lettland, dem SS-Erbe und der westlichen Wertegemeinschaft

Denkmal für SS-Legionäre in Lettland: "Mutter Heimat" von Arta Dumpe [Foto: Lothar Schröter]

17. November 2020

von Dr. sc. Lothar Schröter (Militärhistoriker, Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.)

Der Text ist erstmals erschienen in der Tageszeitung „nd DER TAG" am 16. November 2020, Seite 12


Lestenē liegt rund 80 Kilometer westlich der lettischen Hauptstadt Riga. Gut 300 Seelen zählt der kleine beschauliche Weiler. Doch auf dem Ort lastet der faschistische Völkermord. Gerade auch über dem Friedhof gleich neben der im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums restaurierten evangelisch-lutherischen Barockkirche.
 

Nicht für die Dörfler ist der Friedhof angelegt, sondern für lettische Angehörige der Waffen-SS, die das Internationale Militärtribunal in Nürnberg 1946 als verbrecherische Organisation verurteilt hatte. Grundsteinlegung für die schaurige Stätte war am 27. April 1996, die Eröffnung am 27. September 2003. Der unerhörte Skandal: Alles unter aktivster Förderung der lettischen Regierung! Mit höchster Ehrerbietung wurden dorthin bisher 7.360 Banditen der lettischen Waffen-SS (einige Deutsche sind auch darunter) »umgebettet«, 1.112 bekamen eigene Grabplatten. Die meisten waren im Kurlandkessel vom 10. Oktober 1944 bis 8. Mai 1945 umgekommen. An zwei Seiten eingerahmt ist das Ganze von 18 Wänden aus Granit, auf denen die Namen von 11.000 lettischen SS-Leuten eingraviert sind. Der Platz für 20.000 weitere soll noch gefüllt werden.

Alle diese »Helden« zählten zu den etwa 160.000 lettischen Kollaborateuren der faschistischen Mordmaschinerie. Geschätzt über die Zeit dienten 115.000 in der Lettischen SS-Freiwilligen-Legion, deren Aufstellung Hitler am 10. Februar 1943, unmittelbar nach Stalingrad, befahl. Sie leistete Hitler den Treueschwur. Die Legion setzte sich aus der 15. und 19. Lettischen SS-Freiwilligen-Division zusammen.

„Ehren“-Tafel an einer Giebelwand eines Hauses beim Friedhof in Lestenē [Foto: Lothar Schröter]

Lesart heute: Die allermeisten der »Helden« seien von den Nazis zwangsrekrutiert worden, und Zwangsrekrutierte fallen nicht unter das Nürnberger Diktum von der SS als verbrecherischer Organisation. Tatsächlich nahm das Kriegsverbrechertribunal jene aus, die »vom Staate zur Mitgliedschaft in solcher Weise herangezogen wurden, dass ihnen keine andere Wahl blieb, und die keine solchen Verbrechen begingen«. Und gekämpft hätten sie zudem für die Befreiung von der Sowjetherrschaft.

Nur etwa 25 bis 30 Prozent seien Freiwillige gewesen, lautet eine verschleiernde Behauptung. Auch deshalb, weil die heimische sowjetfeindliche Propaganda Werbewirkung erzielt hatte. Vor allem aber: Eingegliedert in die Lettische Legion wurden 1943/44 zielgerichtet Letten, die zu »Strafkommandos« des »Sicherheitsdienstes« (SD) der SS gehörten. Die waren schon in den Jahren zuvor bei Massenmorden an der Zivilbevölkerung und an sowjetischen Kriegsgefangenen sowie gegen sowjetische Partisanen im Baltikum, in Russland, Weißrussland und in der Ukraine eingesetzt. Russische Archive benennen 27 lettische Bataillone, die Dörfer in Brand steckten, die Bevölkerung vertrieben und Tausende erschossen.

Allein die 19. Lettische SS-Freiwilligen-Division vernichtete so vom 18. November 1943 bis 2. April 1944 23 Dörfer und tötete 1.300 Menschen. Insgesamt ereilte mehrere Hundert Dörfer mit Zigtausenden Toten dieses Schicksal. Weiteren »Ruhm« ernteten die lettischen Faschisten bei der Mordorgie gegen das Warschauer Ghetto 1942/43. Die 15. Lettische SS-Freiwilligen-Division war nicht »besser«: Nach ihrer Zerschlagung im Sommer 1944 ermordeten Angehörige des Verbandes, inzwischen in die »Schwester«-Division eingegliedert, am 31. Januar 1945 im heutigen Podgaje 32 mit Stacheldraht gefesselte Soldaten der 1. Polnischen Armee. Aber zu den schlimmsten Kriegsverbrechen der lettischen SS-Truppen zählte ihre Beteiligung an der Blockade Leningrads vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944, die bis zu 1,1 Millionen Einwohnern das Leben kostete.

Lettische SS-»Helden« nahmen im Verbund mit dem SD, dem deutschen »Sicherheitsdienst« an den Massenerschießungen im Wald von Biķernieki teil, wo vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1944 35.000 bis 46.500 Menschen ermordet wurden (die Zahlen divergieren). Sie bewachten Todeslager, darunter das Konzentrationslager Salaspils, südlich von Riga, wo Tausende Menschen umkamen, darunter viele Kinder und Jugendliche. Ein großer Teil der 500 Mann lettischen Hilfspersonals, das an den Hinrichtungen von über 27.000 Juden am 30. November und 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula »mitwirkte«, kam dann in den lettischen Verbänden der Waffen-SS unter. Darunter befand sich das Kommando Victors Arājs, eines lettischen Polizeioffiziers, dessen Blutspur sich durch die nordwestliche UdSSR zog, der 1942 zum SS-Sturmbannführer ernannt wurde und der 1943 das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern bekam. Reste des Kommandos wurden 1944/45 in die Lettische SS-Freiwilligen-Legion eingegliedert. Doch damit nicht genug: Die von den Nazifaschisten installierte lettische Selbstverwaltung war es, die Einberufungen zur lettischen SS veranlasste. Dahinter stand die Erwartung eines selbstständigen Lettlands, das den Moskau-feindlichen Kurs der halbfaschistischen Diktatur unter Kārlis Ulmanis im Riga der 30er Jahre fortsetzen würde.

SS-Obersturmführer Roberts Ancāns an einer Giebelwand eines Hauses beim Friedhof in Lestenē [Foto: Lothar Schröter]

Ganz offiziell glorifizierte das lettische Parlament am 29. Oktober 1998 in einer Deklaration die Lettische Legion als ausschließliche Kämpfer für die staatliche Unabhängigkeit und bestritt, dass diese an irgendwelchen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sei. Zum offiziellen Feiertag erklärte es noch im selben Jahr den 16. März - in Erinnerung an einen militärischen Kleinerfolg gegen die Rote Armee 1944 am Fluss Welikaja im Raion Opotschka. Dies, nachdem schon seit 1991 alte und neue lettische Faschisten in Riga den »Tag der Legionäre« mit Aufmärschen begingen. Bei einer Gedenkveranstaltung am 27. September 2019 bezeichnete Verteidigungsminister Artis Pabriks »Lettlands Legionäre ... (als) Stolz des lettischen Volkes und des Landes«. Ihr Kampf sei »glanzvoll« und »ewig«. Protestschreiben an den Generalsekretär der NATO, zu deren eifrigsten Mitgliedern Lettland zählt, verhallten ebenso wie solche jüdischer Weltorganisationen. Die westliche Wertegemeinschaft in Aktion. So auch bei dem Skandal, dass Deutschland seit 1990 lettischen SS-Veteranen eine Rente zahlt (2019 noch mehr als 2000). Oder dass westdeutsche Gerichte keine Möglichkeit sahen, den Kommandeur der 19. Lettischen SS-Freiwilligen-Division und Generalleutnant der Waffen-SS Bruno Streckenbach, beschuldigt des Mordes an einer Million Menschen, zu verurteilen. Wenigstens Arājs erhielt lebenslänglich; er starb 1988 im Kasseler Gefängnis. SS-Legionäre betrieben ihr Unwesen übrigens bis 1952 als »Waldbrüder« weiter - und auch sie gelten heute als Nationalhelden der Baltenrepublik. Mehr als 3000 terroristische Akte mit Tausenden von Opfern gehen auf ihr Konto.

Kommandeur der 19. Lettischen SS-Freiwilligen-Division und Generalleutnant der Waffen-SS Bruno Streckenbach [Foto: Lothar Schröter]

Lestenē ist nicht der einzige Ort zur Verherrlichung der SS-Täter in Lettland. Entsprechende Grabstätten findet man vor allem auch auf dem Brüderfriedhof in Riga, dem bedeutendsten Lettlands. Während sich das SS-Erbe in Lettland - ähnliches ist auch aus Estland und Litauen zu berichten - der bevorzugten moralischen und finanziellen Unterstützung der Herrschenden erfreut, sind beispielsweise das Museum für das Rigaer Ghetto (eines der allerschlimmsten) und des Holocausts in Lettland, betrieben von der Nichtregierungsorganisation »Šamir«, auf Spenden angewiesen.

Eklatante Geschichtsfälschung trifft man in allen baltischen Staaten an. Noch ein Beispiel: Im Grūtas-Park in Litauen, wo abgebaute Skulpturen aus sozialistischer Zeit zum Gruseln vorgestellt werden (darunter auch Karl Marx und Friedrich Engels), erfährt man: Der Vormarsch der Roten Armee in Osteuropa bedeutete nicht etwa die Befreiung von der Naziherrschaft, sondern war die Eröffnung des Kalten Krieges durch das »Sowjetregime«. Das alles ist kein Wunder, gehörten doch die heute im Baltikum Regierenden zu den aggressivsten Initiatoren der Entschließung des Europaparlaments vom 19. September 2019, die in unglaublicher Weise die UdSSR und Nazideutschland gleichsetzt.

Doch beileibe nicht alle Balten machen sich die extrem nationalistischen und revisionistischen Sichten der Regierenden zueigen: Die Mahnmale und Gräber der für die Befreiung in den drei Republiken gefallenen Sowjetsoldaten, die man wegen geltender Verträge nicht beseitigen darf, sind reicher geschmückt als für jene, die an der Seite der Naziokkupanten standen. Die Ehre Lettlands retteten jene 100 000 Bürger, die aufopferungsvoll an der Seite der Roten Armee für die Niederringung des Faschismus kämpften; 35 000 von ihnen ließen ihr Leben.