Nachricht | Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - International / Transnational - Globale Solidarität «Darüber lohnt sich zu diskutieren»

Stefan Berger über die Geschichte des Internationalismus und was man daraus für die Zukunft der globalen Solidarität lernen kann

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Stefan Berger, Direktor des Instituts für soziale Bewegungen in Bochum. Foto: Privat.

Wer einen Internationalismus der Zukunft diskutiert, sollte sich auch mit den Internationalismen und Organisationsversuchen der Vergangenheit beschäftigt haben. In der Geschichte der Linken finden sich dazu reichhaltige Erfahrungen. Prof. Dr. Stefan Berger erforscht sie. Nach Stationen in Köln, Oxford, Plymouth, Cardiff, Glamorgan, Manchester, Paris und Sidney hat er seit 2011 den Lehrstuhl für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum inne. Er ist dort zugleich Leiter des Instituts für soziale Bewegungen, wo er unter anderem das Journal «Moving the Social» herausgibt. Beim Kongress «Globale Solidarität. Für einen Internationalismus der Zukunft»  nimmt er am Panel «Transnationale Organisierung der Zukunft. Strategie und Praxis» teil. Uwe Sonnenberg vom Historischen Zentrum der RLS hat sich im Vorfeld dazu mit Stefan Berger unterhalten.

US: Die Ursprünge internationalistischer Politik werden zumeist mit der frühen Arbeiterbewegung assoziiert, also mit politischen Gehversuchen aus dem 19. Jahrhundert. Wie alt ist der Internationalismus wirklich?


SB: Es gibt auch schon ältere Formen des Internationalismus, etwa einen christlichen Internationalismus des Mittelalters, einen Gelehrteninternationalismus, der während des Humanismus und der Aufklärung europaweite Netzwerke bildete. Im 19. Jahrhundert ging dem Internationalismus der Arbeiterbewegung ein liberaler Nationalismus voraus, der für den Internationalismus der Arbeiterbewegung oftmals Ansporn und Herausforderung zugleich war. Und auch in der nicht-westlichen, nicht-europäischen Welt gab es Internationalismen.

Stefan Berger ist Historiker und hat seit 2011 den Lehrstuhl für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum inne. Er ist dort zugleich Leiter des Instituts für soziale Bewegungen. Mit ihm sprach Uwe Sonnenberg.

Gab es dabei gemeinsame Motive?

Transnationale Organisationsversuche fanden immer dann statt, wenn sich Menschen, die eine gleiche oder ähnliche Wertorientierung hatten, sich zusammenfanden – über Länder- und Stammesgrenzen hinweg. Im 19. Jahrhundert waren christliche, liberale, sozialistische und anarchistische transnationale Organisationen darum bemüht, sich transimperial und transnational zu verständigen. Dabei blieben all diese Versuche doch noch sehr weitgehend western-zentrisch. Formen «globaler Solidarität» waren mehr eine Sache des 20. Jahrhunderts.

Wenn wir heute über globale Solidarität sprechen, hört man meist schnell den Hinweis auf die beiden ersten Internationalen. Zurecht?

Herausragende Versuche, die Arbeiterbewegung transnational zu organisieren, waren ohne Frage die I. und II. Internationale, die erstmals versuchten, ernst zu machen mit der Marxschen Losung: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch». Die Bedeutung der I. Internationale als Diskussionsforum wird überschattet durch die baldigen Streitigkeiten unterschiedlicher Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung, die schließlich auch zum Zerfall der I. Internationale führen sollte.

Und die II. Internationale?

Die II. Internationale war erfolgreicher und versuchte zum ersten Mal auch gemeinsame Kampagnen zu organisieren, etwa für den Acht-Stundentag oder für den Frieden. Die Solidarität der Arbeiter über Landesgrenzen hinweg stand ganz im Vordergrund der Aktivitäten der II. Internationale, wobei frühzeitig deutlich wurde, dass die Vielsprachigkeit und die kulturellen Prägungen ihrer Vertreter durch unterschiedliche nationale und imperiale Kontexte ein wichtiges Problem wirklicher Verständigung darstellte.

Worin drückten sich diese Schwierigkeiten aus?

Die nationalen Delegationen auf den Tagungen der Internationale blieben oftmals unter sich und unter Vertretern, die jeweils die Sprache der anderen nicht sprachen, konnte es keinen Austausch geben. Dennoch: die Symbolpolitik der Internationale war wichtig und fand auch unter vielen Arbeitern in der westlichen Welt tiefe Resonanz. Das zeigt sich nicht zuletzt in den mächtigen Demonstrationen für den Frieden noch im Sommer 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der dann aber dennoch zum Zeichen wurde, dass der Nationalismus in vielen Ländern und auch unter vielen Arbeitern stärker war als der Internationalismus. Die nationale Solidarität stand bei vielen über der internationalen.

Karl Marx konnte wortgewandt gegen nationale Beschränktheiten polemisieren. Welche Rolle spielten er und der wachsende Einfluss des Sozialismus in der Arbeiterbewegung auf die Geschichte der frühen Internationalen?

Die II. Internationale war offiziell eine marxistische Internationale, aber sie organisierte durchaus auch Sozialisten, die nicht Marxisten waren. Das wird gerade auch die Aufnahme der britischen Labour Party 1908 deutlich, als Karl Kautsky eine geniale Formel fand, um die Arbeiterpartei Großbritanniens aufzunehmen. Auch wenn nicht alle ihre Vertreter die Bedeutung des Klassenkampfes anerkannten, so trieb die Partei, laut Kautsky, doch offiziell den Klassenkampf in Großbritannien voran und konnte somit auch in den Kreis der sozialistischen Parteien der II. Internationale aufgenommen werden. Der Sozialismus war dennoch die bei weitem stärkste ideologische Bewegung innerhalb der II. Internationale, wobei man von vielen Sozialismen reden müsste, denn was Sozialismus bedeutete, wurde innerhalb der II. Internationale bei weitem nicht einheitlich beantwortet.

Warum scheiterten die I. und die II. Internationale?

Scheiterte die I. Internationale an den ideologischen Konflikten innerhalb ihrer Mitglieder, so fiel die II. Internationale über dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammen. Die Hoffnungen vieler Sozialisten Europas, dass die mächtigste sozialistische politische Partei des Kontinents, die deutsche Sozialdemokratie, die rund ein Drittel aller Wähler im Kaiserreich hinter sich vereinte, den Kriegstreibern im Deutschen Reich Widerstand entgegensetzen würde, wurden enttäuscht, was bei vielen nicht-deutschen Sozialisten eine dauerhafte Abwehrhaltung gegen die Sozialdemokratie bewirkte. Dass die SPD sich 1914 hinter die kaiserlichen Eliten stellte, mochten die Führer der SPD noch so oft mit ihrer Haltung gegenüber dem Zarenreich begründen; ihre Position war außerhalb Deutschlands kaum nachvollziehbar. Auch wenn es natürlich in vielen Ländern Europas Sozialisten gab, die sich für den Kriegseintritt ihrer jeweiligen Länder stark machten. Nur die kleine irische sozialistische Partei und die Bolschewiki blieben weitgehend standhaft in ihrer Haltung gegen den, aus ihrer Sicht, imperialistischen Krieg.

Sie haben die Bolschewiki angesprochen, welche Rolle spielte die politische Linke in Russland für die Geschichte des Internationalismus?

Es war kein Zufall, dass der kommunistische Internationalismus der Zwischenkriegszeit zu einem Vorreiter einer wirklichen globalen Solidarität wurde – anti-imperialistisch, anti-rassistisch und für die nationale Selbstbestimmung der Völker in der kolonialen Welt. Die Haltung der Komintern zu diesen Fragen setzte in der Zwischenkriegszeit die internationale Agenda des Kommunismus, dem gerade in der kolonialen Welt auf Grund dieser Positionierung viele Sympathien entgegengebracht wurden.

Von heute aus betrachtet sieht man die Rolle Komintern sehr kritisch.

Natürlich war der Internationalismus der Komintern immer noch westernzentrisch und natürlich benutzte Stalin die Komintern auch als außenpolitisches Organ seiner eigenen Interessenpolitik. Aber im Vergleich zum sozialistischen Internationalismus der Zwischenkriegszeit war der kommunistische Internationalismus konsequenter anti-imperialistisch und anti-rassistisch. Die Interventionen der Komintern etwa bei der südafrikanischen Kommunistischen Partei legte entgegen den Führern dieser Partei das Schwergewicht auf die Bekämpfung des Rassismus. Seit den 1930er Jahren wurden die südafrikanischen Kommunisten zu den konsequentesten Kämpfern gegen das so lange sich an der Macht haltende rassistische Regime Südafrikas. Es war kein Zufall, dass Nelson Mandela in den 1960er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei war.

Was bleibt von diesen Erfahrungen?

Ein Internationalismus der Zukunft kann an diese Versuche einer globalen Solidarität anknüpfen. Natürlich geht dies nur, wenn man auch die unglaublichen Verbrechen des Kommunismus im 20. Jahrhundert anerkennt und aufarbeitet. Aber in der heutigen Welt, in der Nationalismus, Rassismus und Imperialismus Wiederauferstehung feiern, steht es einem linken Internationalismus gut zu Gesicht, daran zu erinnern, dass zumindest Teile einer internationalistischen Linken sich seit dem 19. Jahrhundert um eine länderübergreifende Solidarität bemühen, die Nationalismus, Rassismus und Imperialismus überwinden wollte. Was das heute bedeuten kann, darüber lohnt es sich zu diskutieren.