Dokumentation „Entre el miedo y la esperanza“

Gespräch mit drei chilenischen Aktivistinnen über das Verfassungsreferendum

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Elisa Giustinianovich, Alejandra Salinas, Viviana Delgado und Lucas Reinehr (v.l.n.r.; Foto: RLS Brandenburg)

Das folgende Interview basiert auf der Veranstaltung „Das Verfassungsreferendum in Chile – Vorbild neuer sozialer und ökologischer Bewegungen?“ (zur Einladung) vom 1. November 2022 im freiLand Potsdam, bei der auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung drei chilenische Aktivistinnen von der Entstehung, den Forderungen und den Gründen für die Ablehnung des Verfassungsreferendums in Chile berichteten. Organisiert wurde die Reise der drei von den Kolleg*innen der RLS Mecklenburg-Vorpommern, die Abendveranstaltung in Potsdam in Zusammenarbeit mit der RLS Brandenburg.

Mit dem Verfassungsentwurf sollte die bestehende Verfassung von 1980, also aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, abgelöst werden. Zwar gab es nach dem Ende der Militärdiktatur 1990 einige Verfassungsreformen, die neoliberale Grundausrichtung jedoch blieb dabei unangetastet. Nach großen sozialen Protesten wurde 2021 eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, die in nur einem Jahr einen umfangreichen Entwurf für eine neue Verfassung erarbeiten sollte. Bemerkenswert war, dass die Versammlung paritätisch aus Frauen und Männern zusammengesetzt war und 17 der 154 Mitglieder indigene Vertreter*innen waren. Zentrale Aspekte des Entwurfs waren die Verankerung sozialer Rechte, der Rechte der Indigenen und und des Umweltschutzes in der Verfassung.

Alejandra Salinas, Elisa Giustinianovich und Viviana Delgado engagieren sich seit vielen Jahren im Aufstand gegen patriarchale, ökozide Machtstrukturen, haben am Verfassungsentwurf mitgearbeitet und sind auf verschiedenen politischen Ebenen aktiv. Die Moderation des Gespräches hatte Lucas Reinehr übernommen, vor Ort übersetzten dankenswerterweise Ute Löhning und Tomás Boye.

Das Interview wurde von Lucas Reinehr und Cathleen Bürgelt (RLS Brandenburg) übersetzt und bearbeitet.


Lucas Reinehr: Der Wunsch nach Veränderung – das beschreibt die Stimmung vielleicht am besten, die in den letzten Jahren in Chile herrschte. In ganz Lateinamerika gab es die Hoffnung, dass Chile vorangeht und zeigt, wie der so notwendige gesellschaftliche Wandel gelingen könnte. Klar ist, Veränderung passiert nicht über Nacht; um die Realität zu verändern, braucht man einen langen Atem. Daher meine erste Frage: Wie hat dieser Veränderungsprozess in Chile begonnen? Was ist in den letzten Jahren passiert, dass es zu ersten Protesten kam?

Viviana Delgado: Wenn es in Chile keine sozialen Bewegungen gäbe, würde der Staat gar nichts tun, um das Leben der Menschen zu verbessern. Wenn wir nicht auf die Straße gehen und deutlich machen würden, was uns schadet, passiert in ganz Chile nichts. Die Veränderungen in unserem Land müssen wir also selbst vorantreiben. Ich bin seit meinem 14. Lebensjahr Umweltaktivistin und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Als Jugendliche standen wir bereits dem Diktator und allen, die uns verletzten, gegenüber, waren auf der Straße, revolutionierten. Und wir haben gekämpft und weitergekämpft – bis die Demokratie Wirklichkeit wurde. Die Hoffnung von uns allen, ohne Angst leben zu können, keine Furcht mehr haben zu müssen, dass sie uns eines Tages aus dem Bus holen und verschwinden lassen würden, wurde real. Und wissen Sie, was dann mit unserem Land passiert ist? Wir ruhten uns darauf aus und schliefen ein.

Allerdings wurde immer deutlicher, dass wir in unserer Lebensqualität verletzt wurden, auch in unserer Menschenwürde – dass Unternehmen auf Kosten unserer Gesundheit Geschäfte machten, wie sie wollten. So entstanden die neuen sozialen Bewegungen vor allem aus Umweltkämpfen. Insbesondere in Maipú hatten wir einen Kampf, der wie das große Erwachen für die sozialen Bewegungen und Aktivist*innen war: eine große Gerberei war der Ausgangspunkt, die einen fürchterlichen Geruch abgibt und die Lebensqualität der ganzen Umgebung mindert. Es war uns nicht aufgefallen, dass diese Firma in Maipú angesiedelt werden sollte. Wir Aktivist*innen fühlten uns schuldig, wir litten und wir sagten: Nie wieder! Das wird nie wieder passieren. Und wissen Sie, was wir getan haben? Wir qualifizierten uns. Wir haben ein Diplom in öffentlicher Umweltverwaltung gemacht, um uns den Unternehmen und der Regierung stellen zu können.

So begannen viele Bewegungen zu entstehen, wir bildeten uns, konfrontierten die Mächtigen und kamen auf Augenhöhe mit Politiker*innen ins Gespräch. Und was passierte? Eines Tages haben wir gesagt: Okay, alles ist Politik. Und wir beschlossen, die Geschichte zu ändern und uns der politischen Elite zu stellen, die immer nach Aktivist*innen suchte, damit wir uns für sie einsetzten. Und wir sagten denen: nein, wir werden selbst die Protagonist*innen werden, wir werden unsere eigenen Kandidat*innen stellen. Und so gingen wir dem Traum von einer neuen Verfassung entgegen.

Lucas Reinehr: Wie Sie sagten, alles ist politisch! Vor allem das, was auf der Straße passiert, durch Proteste und Demonstrationen. Wie ist dieser Prozess von der ersten Mobilisierung, vom ersten Veränderungsgefühl bis hin zur konstituierenden Versammlung verlaufen?

Alejandra Salinas: Die Wahrheit ist, dass man auf viele Details schauen muss, um zu verstehen, was passiert ist: Bei dieser sozialen Explosion standen die Renten, die Bildung und das Recht auf Wohnung auf dem Spiel. Zur Kontextualisierung: In der Gemeinde, in der ich Ratsmitglied bin, haben wir mehr als 700.000 Einwohner*innen. Die Kommune ist sehr arm und sehr prekär finanziert. Das macht es schwer, die allgemeine Daseinsvorsorge zu gewährleisten. In Chile wird die Bildung teilweise vom Staat, aber auch von den Kommunen finanziert. So hat eine Gemeinde mit geringem Einnahmen eine sehr fragmentierte Bildung, mit sehr prekären Bedingungen sowohl von der Infrastruktur her, als auch was die Entlohnung der Lehrer*innen und die Art und Weise angeht, wie Schüler*innen Wissen erwerben. Hinzu kommt das Rentenproblem: niedrige Renten, z.T. 150 Euro und noch weniger für die Ärmsten.

All dies löste also eine Bewegung aus, die auf den Straßen durch sozial-ökologische Aktivist*innen, Feminist*innen und natürlich die Studierenden und Schüler*innen präsent war. Sie wollten nicht mehr akzeptieren, wie die Lage in Chile war.

Wichtig ist es auch, die Wasserproblematik in Chile zu erwähnen: Wasser ist in Chile privatisiert. Es gibt Gemeinden ohne die Möglichkeit einer Grundversorgung, genau da, wo das Wasser für die großen Monokulturen, z.B. für Avocados, verwendet wird.

Außerdem war die politische Klasse in Chile von der Realität abgekoppelt; Politiker*innen, die nicht wussten, was ein Brot kostet, wie teuer der öffentliche Nahverkehr ist. Es gab keine Nähe zu den allgemeinen chilenischen Leuten. Dann kam all das zusammen und es entstand eine Bewegung, die keine Führung hatte, die „kopflos“ war. Es gab niemanden, der das alles zusammenbringen konnte.

Und es wurde deutlich, dass es notwendig war, die Verfassung zu ändern. Denn jedes Mal, wenn wir etwas wollten, zum Beispiel das Wasser in öffentliche Verwaltung zurückzubringen, konnten wir es nicht, weil es verfassungswidrig war. Verbesserung der Renten: auch verfassungswidrig. Die Verfassung war also unser Stolperstein.

Elisa Giustinianovich: Das, was meine Genossinnen hier berichten, sind die Erfahrungen der letzten 30 Jahre in verschiedenen Teilen Chiles, Erfahrungen eines langen postdiktatorischen Übergangs. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass während der Diktatur durch Feuer, Verschwindenlassen, Folter, Verdrängung ins Exil versucht wurde, das gesamte soziale und linke Netzwerk im Land zu zerstören. Die Wiederherstellung dieses sozialen Gefüges war progressiv, ging aber langsam voran und hat eine ganz besondere Form von kleinen Mikroausbrüchen angenommen, die in verschiedenen Teilen des Landes als Widerstand gegen das neoliberale System stattfanden, das den Subsidiaritätsstaat   in unserem Land errichtet hat.

Wie Sie wissen, besteht die Eigenschaft des Subsidiaritätsstaates im Grunde darin, absolut alle Lebensbereiche zu privatisieren, was unweigerlich zu einer extremen Trennung der Gesellschaftsschichten führt. Letztendlich gibt es unterschiedliche Bildung für arm und reich, unterschiedliche Gesundheitsfürsorge für arm und reich, unterschiedliche Renten für arm und reich, unterschiedliche Justiz für arm und reich.

Die Empörung darüber hat schließlich zur Revolte geführt. Und von stärker politisierten Gruppen wurde dann recht schnell die Forderung nach einer neuen Verfassung auf die Straßen getragen – und mit politischer Bildung verbunden, um deutlich zu machen, dass der systemische Fehler, dass alle Macht beim Markt liegt, in der Verfassung begründet ist, die in der Zeit der Diktatur erlassen wurde.

So entstand der konstituierende Prozess also von der Straße aus.

Lucas Reinehr: Ich glaube, dass gerade der Umgang mit dem Neoliberalismus sehr wichtig ist, betrifft er doch das politische Denken und die gesamte Bevölkerung in Chile und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern direkt. Eine politische Veränderung erfordert auch eine Abkehr vom tiefverwurzelten neoliberalen Denken, einen kulturellen Wandel sozusagen. Auch wenn das Referendum nicht erfolgreich war, was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Elemente, die vor diesem Hintergrund im Verfassungsentwurf enthalten sein mussten, insbesondere aus feministischer, sozialer und ökologischer Sicht?

Elisa Giustinianovich: Die Wahrheit ist, dass die wichtigsten Errungenschaften des Verfassungstextes ziemlich gut in Artikel 1 zusammengefasst sind. Dort heißt es: Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat, es ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch. In diesen sieben Konzepten ist praktisch der gesamte Inhalt des Verfassungsentwurfs zusammengefasst.

Wenn wir von einem Sozialstaat sprechen, hat das mit der Überwindung des Subsidiaritätsstaates zu tun. Das heißt: die Stärkung sozialer Rechte universeller Natur für die gesamte Bevölkerung war der Kern des Verfassungsvorschlags. Das Recht auf Gesundheit, Bildung, Wohnung, soziale Sicherheit - das sind die wichtigsten Rechte und zugleich alles, was wir derzeit eben nicht haben. Aktuell gibt es lediglich das Recht auf Zugang, also auf eine freie Wahl innerhalb des Marktes. Gesundheit, Bildung, Wohnen, soziale Sicherheit sind aber eben keine einklagbaren Rechte.

Das zweite Konzept, der demokratische Charakter des Staates, ermöglicht es uns, die sehr tiefe Legitimitätskrise der Politik zu überwinden. Es gibt eine sehr starke Trennung in unserem politischen System zwischen der politischen Führung und der gesellschaftlichen Basis. Wir haben nur das Wahlrecht – und wollten nun auch Beteiligungsinstrumente in der Verfassung verankern wie Volksinitiativen, kommunale Volksabstimmungen auf regionaler oder nationaler Ebene und die Pflicht sowohl der lokalen als auch der nationalen Regierungen zur Einbeziehung der gesamten Bevölkerung, aktiv, informiert und verbindlich. Dabei sollte vor allem historisch ausgegrenzte Gruppen besonders einbezogen werden.

Der plurinationale und interkulturelle Charakter ermöglichte es, eine Forderung der indigenen Völker um Anerkennung und Umsetzung indigener kollektiver Rechte widerzuspiegeln. Das hat nicht einfach mit der Diktatur oder der Verfassung von 1980 zu tun, sondern mit einer jahrhundertelangen Politik der Ausgrenzung und Unterdrückung indigener Völker, ihrer Kultur, ihrer Weltanschauung, ihrer Sprache usw.

Der regionale Charakter des Staates, ich komme zum vorletzten Konzept, nahm die Forderung von Regionen und Gemeinden außerhalb von Santiago oder außerhalb von Santiagos Zentrum auf, Autonomie zu genießen, Entscheidungen selbst treffen zu können. Wir sind der zweitzentralisierteste Staat der Welt, und das führt zu starken Ungleichheiten in der Entwicklung der Regionen.

Und schließlich der ökologische Staat: das war eine Antwort auf die globalen Herausforderungen wie die Klimakrise. Gerade die zunehmende Versteppung bzw. Verwüstung wirkt sich sehr extrem auf unser Land aus; wir brauchten eine energische Antwort auf eine extraktivistische Wirtschaftspolitik. Unsere Wirtschaft basiert auf Extraktivismus, daher mussten wir die Natur als Rechtssubjekt definieren, das Konzept natürlicher Gemeingüter in die Verfassung aufnehmen. Das ist angesichts dessen, dass alles privatisiert wird, einschließlich das Wasser, etwas äußerst Wichtiges, um ein Buen Vivir, die Wiederherstellung des Gemeinsamen in den Gemeinden, ermöglichen zu können.

Lucas Reinehr: Der Verfassungsentwurf hat versucht, vieles aufzunehmen, was über Jahrhunderte in der Gesellschaft vergessen wurde und im Interesse aller sein müsste – dennoch wurde er in der Volksabstimmung nicht angenommen. Es ist schwierig, eine Diagnose zu erstellen, weil es viele Aspekte der Gesellschaft zu verstehen gibt. Es gibt viele Ähnlichkeiten in Chile, Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern. Zum Beispiel das Schreckgespenst „Chilezuela“ oder „Brasilien wird zu Venezuela“. Das ist ein Instrument der Rechten, um die Linke oder die Sozialpolitik zu verteufeln. Das hat viel mit Fake News zu tun. Was waren aus Eurer Sicht die Gründe, warum das Referendum nicht erfolgreich war?

Viviana Delgado: Ich denke nicht nur darüber nach, was die Verfassungsdelegierten falsch gemacht haben, ich schaue mir auch an, wie sich die Bevölkerung verhalten hat. Sie hat sich scheinbar geirrt, aber warum?

Zuerst ist das Fernsehen zu nennen: Da haben wir sieben sehr reiche Familien, die die Fernseh- und Radiokanäle besitzen. Dort wurde nur über die Ablehnungsoption gesprochen und nichts Positives über den Verfassungsentwurf berichtet. Außerdem hatten die Leute Angst vor Veränderungen, das ist unglaublich. Es gibt das sogenannte „Gesetz des Tropfens“ . Danach gilt, je mehr die Reichen haben, je mehr sie im Überfluss leben, desto mehr “tropfen“ sie auf uns. Wenn also die Reichen destabilisiert würden, würde das auch der breiten Bevölkerung schaden – so deren Argumentation.

Die Rechtskräfte investierten 200 Millionen Pesos in ihre Kampagne #yorechazo gegen den Verfassungsentwurf. Sie erstellten falsche Verfassungen und behaupteten, das wäre der eigentliche Entwurf. Wir sahen uns einer gigantischen Macht gegenüber. Darüber hinaus zwang uns der Rechnungshof, der alle kontrolliert, die öffentliche Ämter innehaben, keine Kampagnen zu machen. Wir durften nicht einmal in den sozialen Netzwerken mit dem Logo #apruebo arbeiten. Wir mussten alles im Verborgenen machen und hatten dafür nur zwei Monate Zeit. Außerdem ist die politische Bildung in Chile sehr schwach. Viele wussten nicht, was eine Verfassung überhaupt ist. Daher fällt es noch schwerer, etwas zuzustimmen, von dem man nichts weiß und von dem nicht klar ist, was das mit dem eigenen konkreten Leben zu tun haben könnte.

Alejandra Salinas: Ein wichtiger Grund ist ganz sicher die prekäre Bildung. Klar ist aber auch, dass die politische Elite von dieser Verfassungsänderung besonders betroffen gewesen wäre. Senatoren wären abgesetzt worden und die Regionen hätten eine fundamentale Rolle bekommen. Sie hätten die wirtschaftliche Möglichkeit zur Gründung oder Förderung von Staatsunternehmen zur allgemeinen Daseinsvorsorge gehabt und hätten so der politischen Elite ihre Vorrechte genommen und ihre Einnahmequellen.

All das hat mit dem neoliberalen Prozess zu tun, in dem wir seit mehr als 30 Jahren leben, mit dieser Sichtweise, sich um die persönlichen Bedürfnisse zu kümmern und nicht um die kollektiven.

Ja, wir haben viel mit der Bevölkerung gearbeitet, mit den sozio-ökologischen Bewegungen, den Feministinnen, den Studierenden. Aber wir müssen auch anerkennen, dass es einen Teil unserer Gesellschaft gibt, den unsere Arbeit nicht erreicht hat, dem wir nicht erklären konnten, warum die angestrebte Veränderung auch für ihn konkret von Bedeutung ist und warum es lohnt, dafür zu kämpfen.

Der konstituierende Prozess hat ein Jahr gedauert, an dessen Ende 388 Artikel für die neue Verfassung formuliert waren. Um den Inhalt zu verbreiten, hatten wir aber nur zwei Monate Zeit. Zwei Monate. Nur in dieser Zeit konnten auch wir, die öffentliche Ämter bekleideten, auf den Märkten starke Basisarbeit leisten, mit den Menschen direkt ins Gespräch kommen. Die Rechte jedoch, die in der verfassungsgebenden Versammlung eine Minderheit darstellte, widmete sich vom ersten Tag an ihrer Diskreditierung. Sie behaupteten sogar, dass die Vorschläge der Verfassung gegen das gerichtet sei, was die Protestierenden auf den Straßen gefordert hätten.

Elisa Giustinianovich: In der Tat war dies hauptsächlich aufgrund eines strukturellen Fehlers in der Gestaltung des institutionellen Prozesses möglich, den wir von den sozialen Organisationen vom ersten Moment an angeprangert haben: Der ganze Prozess war zu kurz konzipiert, richtete sich nicht auf einen kulturellen Wandel, sondern konzentrierte sich darauf, eine Verfassung zu schreiben. Es gab nur ein Gremium, das sich aufs Schreiben fokussierte. Es gab kein Budget oder keine Zeit für eine Beteiligung der Bevölkerung, für eine Kommunikationsstrategie oder für politische Bildungsprogramme. Das war ein sehr schwerwiegender Geburtsfehler. Und: Die gesamte Verantwortung für die Lösung aller Probleme Chiles wurde diesem beispiellosen Gremium übertragen. Ohne Vorkenntnisse, ohne Erfahrungen kamen wir in ein leeres Gebäude und hatten lediglich drei Sekretär*innen. Es gab nicht mal Toilettenpapier.

Hinzu kommt etwas, das mir wie ein weltweites Problem vorkommt. Das große Problem der Linken ist, dass sie eine fraktionierte Linke ist, sehr gespalten und auch ohne wirtschaftliche Macht, die diese gewaltigen Medienkampagnen von rechts hätten ausgleichen können. Es ist uns nicht gelungen, dem Angstdiskurs mit einem entschiedenen Hoffnungsdiskurs entgegenzutreten. Das ist auch Selbstkritik an dem, was uns fehlt.

Lucas Reinehr: Vielleicht gelingt mir mit der letzten Frage doch noch etwas Optimismus: Trotz des Scheiterns, was sind die Perspektiven der Linken in Chile. Was bleibt von den bisherigen Kämpfen? Wie geht es weiter?

Alejandra Salinas: Sicher, alles, was wir berichten, macht erst einmal ziemlich traurig. Die Wahrheit ist aber auch, dass dieser Prozess die sozial-ökologischen, feministischen und studentischen Bewegungen miteinander verbunden hat. Für diejenigen, die Chile nicht kennen: Chile ist ein sehr langer und schmaler Landstreifen. Die Vernetzung ist also kompliziert und dennoch haben wir es geschafft, uns zu verständigen und uns zu organisieren. „Mirar nos a los ojos!“ Das war unser Motto. Es ging dabei vor allem um Wertschätzung in unserer gemeinsamen Arbeit. Der Anfang war erfolgreich, wir waren in der verfassungsgebenden Versammlung mit 154 Delegierten vertreten!

Noch etwas ist sehr wichtig: Wir haben eine zersplitterte Linke, ja. Aber es gibt auch christdemokratische Parteien in Chile, manchmal politisch schwankend, aber einige von ihnen haben die Ablehnung angeführt und so ihr wahres Gesicht gezeigt. Der politische Prozess der letzten Jahre hat einerseits Klarheit geschafft.

Andererseits ist deutlich geworden, dass wir, wenn wir grundlegend etwas ändern wollen, auch die Machtpositionen besetzen müssen. Ich bin im Stadtrat der zweitgrößten Gemeinde in Chile mit einer einzigartigen kommunalen Wasserentsorgung. Viviana ist Abgeordnete im Parlament und macht dort Gesetze. Wir müssen die 30, 40, 200 Jahre langanhaltenden Ungerechtigkeiten beenden und die Vorherrschaft des Kapitals brechen. Wir müssen eine andere Vision davon haben, wie wir einen fundamentalen Wechsel erreichen können.

Viviana Delgado: Ich denke, es war wichtig, dass wir nach dem Misserfolg erst einmal zur Ruhe kommen und trauern konnten; aber wir arbeiten weiter. Eine der Visionen ist, dass in vier oder zwei Jahren, wenn die nächsten Wahlen für Bürgermeister*innen, Stadträte und auch Abgeordnete anstehen, die sozialen Bewegungen ihre eigenen Leute als Kandidat*innen aufstellen. In Chile ist es häufig so, dass die Leute in einer armen Gemeinde die Leute wählen, die in einer reichen Gemeinde leben, um sie zu regieren – weil sie glauben, nur sie könnten das. Und so wählen sie die Reichen. Was wir jetzt tun müssen, ist unsere Genoss*innen noch mehr zu den Menschen zu schicken, um aufzuklären und Vertrauen zu gewinnen. Und dann müssen wir schauen, ob wir auf diese Weise auch die Gesetze ändern können, die uns schaden. Im Kongress haben wir jetzt vier Siebtel. So können wir Gesetze ändern, was aber viel länger dauert, als es mit einer neuen Verfassung gegangen wäre.

Elisa Giustinianovich: Das derzeitige Szenario macht keine Hoffnung, dass es in naher Zukunft ein neues Verfassungsreferendum geben wird. Wir haben ein Parlament, das hauptsächlich rechts aufgeladen ist, und wir haben eine Wirtschaftskrise mit Inflation. Die wirtschaftliche Lage fördert autoritäre Wendungen, leider profitiert davon die extreme Rechte, die Faschisten besonders.

Paradoxerweise ist das Szenario dennoch günstiger für uns als vor drei Jahren. Zwei Dinge hatten wir damals noch nicht: Erstens eine chileweite Präsenz sozialer Bewegungen und Organisationen. Wir kennen uns jetzt, sind organisiert und können gemeinsam Strategien entwickeln. Und zweitens haben wir ein gemeinsames politisches Projekt, das wir vorher nicht hatten – und das steht in diesem Verfassungsentwurf. Hinzu kommt ein beschleunigter Politisierungsprozess, der in den letzten beiden Jahren stattgefunden hat und der es ermöglicht, mehr politisches Bewusstsein in der Bevölkerung zu entwickeln, mit antikapitalistischen, antineoliberalen, feministischen, ökologischen Perspektiven.

Das Gespräch bei der Veranstaltung übersetzen dankenswerterweise Ute Löhning und Tomás Boye.

Elisa Giustinianovich war gewählte Vertreterin im verfassungsgebenden Konvent und arbeitete in der Kommission „Participación Popular y Equidad Territorial“ (Volkspartizipation und Bodengleichheit) an Vorschlägen zum Verfassungsentwurf. Sie ist Vertreterin der feministischen Coordinadora 8M in Punta Arenas, der Plataforma Feminista Constituyente y Plurinacional und der Umweltbewegung MAT (Movimiento por el Água y los territorios).

Viviana Delgado ist seit März 2022 Abgeordnete im neugewählten chilenischen Parlament. In Santiago de Chile ist sie in lokalen sozialökologischen Bewegungen und bei Movimiento Socioambiental Comunitario – Por el Agua y el Territorio (MOSACAT) aktiv.

Alejandra Salinas ist unabhängige Stadtvertreterin der Kommune Maipu/Santiago de Chile und in Movimiento Socioambiental Comunitario – Por el Agua y el Territorio (MOSACAT)engagiert.

Lucas Reinehr ist Journalist und Übersetzer. In Brasilien war bei der Landlosenbewegung MST und in der Arbeiterpartei PT engagiert. Zur Zeit absolviert er ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg.