Publikation Rassismus / Neonazismus - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - NSU-Komplex Spruchreif

Nach Monaten im Schneckentempo biegt der NSU-Prozess im Frühjahr 2017 in die Zielgerade ein.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Fritz Burschel,

Erschienen

Mai 2017

Das Einschwenken des Gerichts auf die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Zurückweisung dutzender Beweisanträge der Nebenklage deuten auf das nahe Ende des spektakulären Verfahrens in München hin. Die Erwartungen und Ansprüche der vom NSU-Terror Betroffenen sind in keiner Weise befriedigt, vom Rest des Prozesses sind – trotz zum Teil turbulenter Kapriolen – keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten. Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden kommen weitgehend ungeschoren davon.
 

Seit etwa anderthalb Jahren dokumentiert der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) in München mit etlichen Dutzend formelhaften Ablehnungsbescheiden zu Beweisanträgen vornehmlich der Nebenklage sein gänzliches Einschwenken auf die Linie der Bundesanwaltschaft. Die Zuhörenden haben nicht schlecht gestaunt, weil im Zurückweisungsfuror unter anderem auch Beweisanträge zurückgewiesen wurden, die das Tatgeschehen in Kassel am 6. April 2006 betrafen. Wir erinnern uns: Am Tatort der Ermordung des Internetshop-Inhabers Halit Yozgat war auch ein Beamter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz anwesend: Andreas Temme. Nach einem halben Dutzend unglaublich zäher Vernehmungen vor dem OLG in München und weiteren verstockten Aussagen vor dem ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss und dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss hat es der einstige behördliche Betreuer von Informanten aus der Naziszene tatsächlich geschafft, dass das Gericht ihn nicht nur als Zeugen aufgibt, sondern ihm auch noch – ohne Not – ein Glaubwürdigkeitszeugnis ausstellt: In einem der ablehnenden Beschlüsse hatte der Senat am 12. Juli 2016 festgestellt, dass die Richter_innen in den zahlreichen Vernehmungen Temmes einen «umfassenden persönlichen Eindruck» von ihm gewonnen hätten. Wie sie dann jedoch zu der grundsätzlichen Einschätzung gelangen konnten, Temme sei als Zeuge glaubwürdig, bleibt völlig schleierhaft. Die Anwält_innen der Eltern des Ermordeten hatten zuletzt im September 2016 ein Gutachten zu Schussgeräuschen beantragt, um zu beweisen, dass Temme lüge. Temmes Version geht so, dass er nach einem Erotik-Chat, den er vor seiner Frau verheimlichen wollte, das Internetcafé verlassen habe, ohne den hinter dem Tresen Sterbenden zu bemerken. Er, 1,90 Meter groß, habe sogar seinen Obulus von 50 Cent auf den Tresen gelegt, ohne die Blutspritzer darauf zu sehen. Das Knirschen der sich biegenden Balken ist weithin hörbar und doch kommt das Gericht zu dem Schluss: «Aus den Aussagen ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass der Zeuge Temme und/oder eine Verfassungsschutzbehörde in die Tat zulasten von Halit Yozgat in welcher Form auch immer verwickelt sein könnten.»

Gericht und Bundesanwaltschaft hatten von Anfang an dafür gesorgt, dass der atemberaubende Fall Temme – ein Verfassungsschützer «zufällig» am Tatort einer rassistischen Mordserie, die danach endet – nicht allzu viel Aufmerksamkeit zuteil wurde: die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen Temme als Tatverdächtigen sind bis heute nicht Teil der Verfahrensakten. Nebenklageanwälte, die das Material sichten wollten, mussten sich nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft begeben, um Akteneinsicht zu erhalten, und sich darüber hinaus weiteres Material, wie etwa die Abhörprotokolle zu Temme, selbst zusammensuchen und neu transkribieren. Im Grunde setzt das Gericht damit fort, was der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Hessens, Volker Bouffier (CDU), angefangen hatte: Er hatte unterbunden, dass die Nazi-Spitzel, die Temme damals führte, im Rahmen der Mordermittlungen zu Yozgat vernommen werden konnten: Der «Quellenschutz», so das Zauberwort der Verfassungsschutzbehörden, wiege schwerer als die Tataufklärung. Das Verfahren gegen Temme wurde dann auch auf Weisung des Innenministeriums rasch eingestellt. Bis heute steht die Frage im Raum, was für ein Zufall das gewesen sein soll, der einen ahnungslosen «Verfassungsschützer» minutengenau an einen Mordtatort führte.

Kassel, 6. April 2006: Am Tatort der Ermordung des Internetshop-Inhabers Halit Yozgat war auch ein Beamter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz anwesend: Andreas Temme. Sollte Halit Yozgat schon tot hinter dem Tresen des Kasseler Internetcafés gelegen haben, als Temme das Internet-Café verließ, muss er nach der detaillierten Rekonstruktion des «Forensic Architecture Institute London» etwas gesehen und gehört haben. Das renommierte Londoner Forschungsinstitut versteht sich als Recherche-Organisation im Dienste der Menschenrechte und untersucht Verbrechen, die ihrer Ansicht nach nicht ausreichend aufgeklärt wurden. In diesem Fall wurden sie beauftragt von dem Aktionsbündnis «NSU-Komplex auflösen». Die Nebenklage möchte das Ergebnis der Untersuchung als Beweismittel in den NSU-Prozess aufnehmen lassen. (© Video: Forensic Architecture)

Die schiere Dauer des Prozesses mit Ergebnissen wie dem geschilderten, ist für alle Beteiligten und um echte Aufklärung Ringenden eine nach über 350 Prozesstagen nervenaufreibende Geduldsprobe.Von den durch das Verfahren vielfach retraumatisierten Nebenkläger_innen ganz zu schweigen: Auch wenn ein Prozess wie der Münchener für Geschädigte eine der wenigen Möglichkeiten bietet, in die Aufarbeitung der Verbrechen aktiv einzugreifen, Gericht, Bundesanwaltschaft und Verteidigung versuchten stets diese Rechte klein zu halten.

Mehrere Monate versuchten die Verteidiger_innen der Hauptangeklagten Zschäpe die Erstattung des psychiatrischen Gutachtens zu Zschäpe zu verhindern: Der in der Tat diskussionswürdige Weg der Forensik-Koryphäe Henning Saß, die der Mittäterschaft bei den Verbrechen des NSU Angeklagte nur mittels seiner Beobachtung während der Hauptverhandlung, aus Zeugenaussagen und den Akten zu begutachten, forderte die Verteidigung zur letzten Offensive heraus. Ihre Versuche weitere Gutachter ins Spiel zu bringen, um die Einschätzung Saß' wegen «fachlicher Mängel» und Voreingenommenheiten ins Wanken zu bringen, mussten scheitern und der Vorsitzende Richter Götzl schnitt der Verteidigung Zschäpes mit einer handstreichartigen Entlassung Saß' Mitte Februar das Wort ab, so könnte man sagen. Fast alle Beteiligten und Betroffenen hoffen nun, dass mit diesem großen Schritt das Ende zunächst der Beweisaufnahme dann des Prozesses näher rückt: Die Wetten lauten derzeit auf Mai oder Juni 2017. Erst käme jetzt noch eine, angesichts der großen Zahl von Prozessbeteiligten, sicher zeitintensive Phase der Plädoyers, aber dann wäre das Urteil, an dem der Senat augenscheinlich seit langem arbeitet, wohl auch endlich spruchreif.

Betroffene und Geschädigte der NSU-Verbrechen haben nach den zahllosen Zumutungen, die das Verfahren schon bis jetzt für sie bereithielt, ohnehin ein wenig aufgegeben, hier «lückenlose Aufklärung» der NSU-Taten zu erwarten. Sehen lassen sie sich ohnehin nur noch selten.

Trotzdem steht der Prozess in München immer noch im Fokus, wenn es um den NSU-Komplex geht: Wenn die Hauptangeklagte Beate Zschäpe Blähungen hat, ist die Bude voll und die Journaille dreht durch. Die «Sex, Crime & Terror»-Schiene ist medial immer noch vielversprechender als etwa die Arbeit der unterdessen zwölf Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA). Wenn etwa ein Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz zugeben muss, dass er Akten aus dem NSU-Zusammenhang Tage nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 vorsätzlich hat zusammentragen und vernichten lassen, fällt das medial unter den Tisch, weil am selben Tag die glamouröse Angeklagte erstmals ihre Stimme hören ließ. Man hat sich an das mediale NSU-Grundrauschen unterdessen gewöhnt. Weitere Ungeheuerlichkeiten im NSU-Kontext, wie etwa die Rolle der VS-Spitzel Ralf Marschner, Carsten Szczepanski und Michael See werden vom Gericht als «nicht zur Sache gehörig» oder «tatsächlich ohne Bedeutung» zurückgewiesen, mediale Nachfragen und Nachforschungen dazu sind seltene Ausnahmen.

Überhaupt wird das Ermitteln seitens der zuständigen Behörden, der Bundesanwaltschaft und des Gerichts gerne dem aktiven Teil der Nebenklage überlassen: Schon die rund 300 ungeheuer präzisen und tief gehenden Fragen, die die geballte Nebenklage am 6. Juli 2016 der Hauptangeklagten Zschäpe stellten, hatten verdeutlicht, welche Fragen von Ermittlern und Gericht bisher nicht gestellt, welche Ermittlungen überhaupt noch nicht angestellt worden waren. Beate Zschäpe hatte ja in dürren Worten das Leiden der Betroffenen bedauert, aber gleichzeitig kategorisch ausgeschlossenen, Fragen der Angehörigen der Mordopfer, der Opfer der Sprengstoffanschläge und der Bank- und Raubüberfälle zu beantworten. Ein frecher Schlag ins Gesicht der Betroffenen seitens einer Angeklagten, die in völliger Fehleinschätzung ihrer Situation meinte, sie würde heute – nach ihrer nationalsozialistischen Verirrung – Menschen nicht mehr nach ihrer Herkunft, sondern nach ihrem Benehmen beurteilen. Dass nicht einmal die Abwendung von der rechten Szene glaubhaft ist, ergab jüngst ein Vorstoß ihrer Verteidigung, welcher die Angeklagte mit dem Nachweis ihrer tadellosen Führung in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim entlasten sollte: dumm nur, dass im Zuge dessen herauskam, dass Zschäpe seit Jahren monatlich 200 Euro von einem «verliebten» Hardcore-Nazi aus Thüringen auf ihr Knastkonto überwiesen bekommt.

Aber auch die – als einzige im Verfahren politisch eindeutig ausgerichtete – Verteidigung Ralf Wohllebens scheint am Ende zu sein: Man merkt es den frustrierten Jurist_innen an seiner Seite an, dass ihnen zunehmend alles egal ist. So traten sie bereits zwei Mal mit Beweisanträgen – aufgemerkt! – zum Tod von Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess hervor. Ausgehend von der Behauptung, das Gericht werte den bei Wohlleben 2011 beschlagnahmten Aufkleber «Rudolf Hess – das war Mord!» als Indiz für seine Gesinnung, sei nun zur Entlastung des derart falsch Eingeschätzten ein für alle Mal zu klären, ob der Selbstmord des greisen Hess nicht durchaus auch ein Mord gewesen sein könnte. Und das bitteschön im Rahmen des NSU-Prozesses und so, als sei die notorische Mordthese nicht sattsam als «reine Nazi-Propaganda» bekannt. In ähnlicher Weise sollte zuletzt der Aufkleber «Volkstod stoppen» hinterfragt und ein Sachverständiger zum «Aussterben der Deutschen» geladen werden.

Ach, und da war noch etwas und ist schon wieder weg: Mitte Oktober 2016 traf eine Nachricht die Öffentlichkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bei der skelettierten Leiche des 2001 verschwundenen und erst im Juli 2016 entdeckten 9-jährigen Mädchens Peggy Knobloch aus dem oberfränkischen Lichtenfels war an einem Gegenstand DNA des NSU-Mitglieds Uwe Böhnhardt entdeckt worden. Von allen wilden Kapriolen im NSU-Komplex gehört diese Geschichte zu den irrsten. Sollte das NSU-Kerntrio und sein Netzwerk in Kinderpornos gemacht und Kinder auch ermordet haben? Auf einmal schienen weitere bisher nicht erklärliche Details der NSU-Story wie Teile eines Puzzles ein Bild zu ergeben: Da war der Kinderschuh und Spielzeug im Wohnmobil, das am 4. November 2011 mit den Leichen von Mundlos und Böhnhardt in Eisenach ausgebrannt war; da waren kinderpornographische Dateien auf der Beate Zschäpe zugeordneten Festplatte; da war der 9-jährige Bernd Beckmann, der im Sommer 1993 in Jena verschwunden und kurze Zeit später tot am Saale-Ufer aufgefunden worden war. Und dann war da noch der einstige Top-V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes aus dem NSU-Umfeld Tino Brandt. Brandt sitzt heute unter anderem wegen vielfacher Kinderprostitution hinter Gittern. Nun, das schienen Hinweise genug, um aus der Geschichte des rechten NSU-Terrors eine völlig monströse Story zwischen Kinderpornographie, schwerkriminellem Untergrundleben, Organisierter Kriminalität und Nazi-Milieu zu machen: für Verschwörungstheorien ebenso ein gefundenes Fressen wie für diejenigen, die ein Interesse an einer Entpolitisierung des NSU-Komplexes haben. Immerhin würde ein derart bizarres Szenario auch erstmal den zusehends in Erklärungsnöte geratenden «Verfassungsschutz» aus dem Fokus bringen.

Aber die spektakuläre Geschichte verschwand so schnell aus den Schlagzeilen wie sie hineingeraten war: Kaum eine Woche später wurde die nicht weniger abenteuerliche Version bekannt, der zufolge es sich nur um eine Verunreinigung des Peggy-Fundorts mit Böhnhardt-DNA gehandelt habe. Es sei – man konnte es nicht fassen – ein Meterstab, der auch fünf Jahre früher bei der Vermessung des Tatorts in Eisenach zum Einsatz kam, im Wald in Lichtenfels verwendet worden und so Böhnhardt-Erbmaterial dort hingeraten. Ein unfassbarer Hergang in einem Mordkomplex, wo es am Heilbronner Tatort, wo die Polizistin Michèle Kiesewetter ermordet und ihr Kollege Martin Arnold lebensgefährlich verletzt worden waren, ebenfalls zu einer DNA-Verunreinigung gekommen war, die die Ermittlungen über Jahre in die Irre führte. Die Spurensicherung entdeckte damals an Dutzenden Tatorten diese DNA einer mysteriösen «Intensivtäterin», bis sich herausstellte, dass an allen Tatorten von der Spusi dieselben Wattestäbchen verwendet worden waren, die mit DNA einer Mitarbeiterin der Herstellerfirma dieser Stäbchen verunreinigt waren. Was auf jeden Fall wie eine Krise der DNA-Forensik aussieht, ist auch noch keineswegs ausgestanden: Nur, weil das schrille Mediengetöse verstummt ist, heißt das nicht, dass die ganzen möglichen Zusammenhänge mit dem NSU schon widerlegt wären. 

 
Friedrich Burschel 
ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist akkreditierter Korrespondent des nicht-kommerziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und Mitarbeiter des Internetprojektes NSU-Watch

Der Beitrag ist zuerst erschienen Ende März 2017 in dem Schweizer Antifa-Magazin «Lautstark».