Dokumentation „Untergetaucht“ von Marie Jalowicz Simon

berührende Lesung in Senftenberg über eine junge Jüdin, die die Nazi-Zeit in Berlin überlebte

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Dr. Hermann Simon, Nicole Haase, Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann nach der Veranstaltung in Senftenberg [Foto: privat]

Es war nicht die erste Veranstaltung seit Erscheinen des hochgelobten Buches „Untergetaucht – Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 – 1945“ von Marie Jalowicz Simon fand doch die erste Buchvorstellung an prominenter Stelle im Berliner Ensemble bereits am 6. März 2014 statt. Die Lesung am 30. Juni 2023 in Senftenberg sollte sich jedoch zu einem besonderen Höhepunkt gestalten. Doch der Reihe nach:

Marie Jalowicz wurde 1922 als Tochter des jüdischen Ehepaares Betty und Hermann Jalowicz in Berlin geboren. Nachdem die Ausreise aus Nazi-Deutschland mit ihrem Vater scheiterte, ihre Mutter starb bereits 1938, gelang es ihr, bis zum Tag der Befreiung 1945 mit Unterstützung zahlreicher Helfer unterzutauchen. Sie überlebte. Sie heiratete den Orientalisten und Judaisten Heinrich Simon. 1949 wurde ihr gemeinsamer Sohn Hermann Simon geboren, später ein angesehener Historiker und von 1988 bis 2015 Direktor der „Neuen Synagoge – Centrum Judaicum“ in Berlin. Marie Simon war Professorin für Philosophiegeschichte und Philologie an der Humboldt-Universität. Sie schrieb gemeinsam mit ihrem Mann mehrere Bücher, zum Beispiel das 1984 zuerst in der DDR erschienene Buch „Geschichte der jüdischen Philosophie“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde und jüngst eine Neuauflage im Reclam Verlag erfuhr. Marie Simon starb 1998 in Berlin. Erst spät, wenige Jahre vor ihrem Tod, erzählte sie ihrem Sohn Einzelheiten über die Zeit ihres Untertauchens von 1940 bis 1945. Es entstanden 77 Tonbandkassetten mit ihren Berichten, die von Irene Stratenwerth und Hermann Simon für die Veröffentlichung in Buchform bearbeitet wurden.

Juliane Thiel und Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann [Foto: RLS Brandenburg]

Es war nur eine Frage der Zeit, dass dieses Buch auch in der Senftenberger Reihe „Geschichte und Geschichten“ vorgestellt wurde. Diese Reihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. wird seit einigen Jahren in Kooperation mit der „Seenland Buchhandlung“ durchgeführt. Nach allen bisherigen Erfahrungen rechneten die Veranstalter mit einem regen Interesse, wie immer bei Themen zur jüdischen Geschichte und Kultur. Und tatsächlich, bereits Wochen vor der am 30. Juni 2023 geplanten Veranstaltung war das Buch rege nachgefragt. Die Buchhändlerinnen konnten erste begeisterte Reaktionen feststellen: Wer das Buch gelesen hatte, war beeindruckt – berührt vom Thema, aber auch überrascht von der Art des Berichtens über eine fürchterliche Zeit und lebensgefährliche Situationen. Viele wollten mehr erfahren, waren neugierig auf die Lesung und den angekündigten Vortrag von Dr. Hermann Simon. Doch dann, kurz vor Beginn der Veranstaltung setzte ein Platzregen ein, der befürchten ließ, dass die Lesung im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen würde. Über 40 Interessierte kamen dennoch und bereuten es nicht, sich trotz des Unwetters auf den Weg ins Senftenberger Schloss gemacht zu haben.

Der Veranstaltungsraum im Museum des Landkreies Oberspreewald-Lausitz Schloss und Festung Senftenberg [Foto: RLS Brandenburg]

Die Cellistin Juliane Thiel hatte passende Musikstücke von Johann Sebastian Bach und eines von Ingo Höricht mit dem Titel „Stimmungslagen – bei guter Laune zu spielen“ ausgewählt, die sie meisterlich vortrug. Angesichts des Themas der Veranstaltung gab es Verwunderung bei den Gästen wegen dieses letztgenannten Titels, doch dann zeigte sich, dass er sehr gut zu Marie Jalowicz Simon passte, zu ihrem Humor, ihrer Schlagfertigung und ihrer Maxime: „Es lohnt, nicht im Takt mitzumarschieren. Es hat auch gelohnt, all die Ängste und Widrigkeiten auf mich zu nehmen. Denn das Leben ist schön.“

Juliane Thiel und Dr. Hermann Simon [Foto: RLS Brandenburg]

Auszüge aus dem Buch las die Schauspielerin Nicole Haase – nein, sie las nicht bloß, sie spielte und lebte die Rolle der Marie Simon, die am Ende ihres Lebens ihre Erlebnisse als junge Frau von 1940 bis 1945 beschreibt. Beeindruckend war auch der Gleichklang der Originalstimme von Marie Simon mit dem Vortrag von Nicole Haase, nicht zuletzt wegen des Berliner Slangs, der bei der Berliner Schauspielerin nicht gekünstelt war. Die Gäste und auch der Sohn von Marie Simon waren begeistert.

Nicole Haase [Foto: privat]

Hermann Simon berichtete in seinem berührenden Vortrag, wie enttäuscht er zuerst war, dass seine Mutter bis auf einige Andeutungen so lange Zeit nichts über die Zeit ihres Untertauchens gesagt hatte. Dann jedoch entwickelte sich Verständnis für diese Haltung. Es war nicht einfach ein Verdrängen des Erlebten. Es hatte auch mit der lebenslangen widerständigen Haltung von Marie Simon zu tun. Mithilfe einer eingespielten Aufnahme war Marie Simon selbst zu hören. In diesem kurzen Ausschnitt erläuterte sie ihre Erzählweise. Unbedingtes Prinzip sei, nichts wegzulassen und nichts zu beschönigen. Marie Simon sah sich eben nicht (bloß) als Opfer und ihre Helfer auch nicht als Helden oder reine Engel. Es war komplizierter und schließlich rettete ihre Widerständigkeit ihr das Leben. Das Buch erzählt bemerkenswert nüchtern im Detail davon und dokumentiert die Zeit des Faschismus in Deutschland aus einer bisher kaum gekannten Perspektive.

Dr. Hermann Simon [Foto: RLS Brandenburg]

Der Philosoph Gerd-Rüdiger Hoffmann sagte in seiner Einführung zur Lesung, dass er zwar nichts vom aufregenden Leben der Marie Simon wie auch ihres Ehemannes Heinrich Simon wusste, aber beide für ihn mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten sehr wichtig für seine Lehrtätigkeit und Forschungen waren. Er betonte, dass dieser Bericht von Marie Simon für ihn nicht nur ein sprachlich brillantes Buch, sondern ein herausragendes Beispiel sei, wie widerborstiges Leben, Denken und Handeln geradliniges wissenschaftliches Arbeiten in beeindruckender Weise beeinflussen können.

Viele haben Anteil daran, dass die Lesung in Senftenberg zu einem beeindruckenden Erlebnis wurde. Cathleen Bürgelt und Gerd-Rüdiger Hoffmann von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V., die für die Organisation verantwortlich waren, richteten deshalb ihren Dank besonders an den Bürgermeister der Stadt Senftenberg Andreas Pfeiffer, an Kulturamtsleiter Falk Peschel, Michaela Klingberg vom Kulturforum der Rosa-Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, Dr. Martina Gurk und Kathrin Lachmann von der „Seenland Buchhandlung“ in Senftenberg und ans Museum des Landkreises Oberspreewald-Lausitz sowie an die Beteiligten, Cellistin Juliane Thiel und Schauspielerin Nicole Haase. Ganz besonders galt der Dank Dr. Hermann Simon, dem Sohn von Marie und Heinrich Simon, von dem der Regierende Bürgermeister anlässlich der Verleihung des Verdienstordens des Landes Berlin 2015 sagte: „Dr. Hermann Simon … hat das verschüttete jüdische Leben und die jüdische Kultur erforscht und in zahlreichen Publikationen und Ausstellungen sichtbar gemacht.“ Das Buch „Untergetaucht - Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 – 1945“, das maßgeblich durch ihn zustande kam, ist in diesem Zusammenhang unbedingt zu erwähnen.